Ägyptens wirtschaftliche Reformen gehen nur einen Teil der Probleme des Landes an. Der Internationale Währungsfond hat die einmalige Chance versäumt, der Militär-Regierung in Kairo einen dringend notwendigen Kurswechsel abzuringen.
Im März dieses Jahres zog eine aufgebrachte Menschenmenge durch Alexandria, die gegen gegen den Plan der Regierung protestierte, kostenlose Brotlieferungen von 4.000 auf 500 per Bäckerei zu reduzieren. Obwohl durch diese Maßnahme der Alltag ägyptischer Familien wenig beeinflusst werden würde, überschritt die Regierung hier eine rote Linie: die Kürzung der Nahrungsmittelsubventionen. Von den etwa 92 Millionen Menschen in Ägypten nehmen ungefähr 70 Millionen staatliche Subventionen in Anspruch. Diese Subventionen bestehen aus 21 ägyptischen Pfund (entspricht ungefähr einem Euro) und fünf arabischen Broten pro Tag und Person, erhältlich bei Supermärkten mit staatlicher Genehmigung.
Ursprünglich hieß es, Brotsubventionen werden nicht angetastet. Während der monatelangen Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) im vergangenen Jahr hatte die Regierung um Präsident Abdel Fatah al-Sisi mehrfach beteuert, dass diese nicht gekürzt werden. Als sich das Kairoer Militärregime vor knapp zwei Monaten dann jedoch von diesem Versprechen abzuwenden begann, traf es den Nerv der Bevölkerung.
Einige Wochen nach den Unruhen in Alexandria reagierte die Regierung auf die Proteste und versprach stattdessen, Subventionen für Nahrungsmittel um 29 Prozent auf 27 ägyptische Pfund pro Tag zu erhöhen. Das mag zwar die akute Wut vieler Ägypterinnen und Ägypter besänftigen, löst jedoch nicht die strukturellen Probleme der ägyptischen Wirtschaft, welche der IWF mit seinem Reformprogramm nur teilweise angeht.
Das IWF-Reformprogramm
Am 6. November 2016 gewann Ägypten die offizielle Zusage für ein zwölf Milliarden US-Dollar schweres Rettungsprogramm vom IWF, zusätzlich zu sechs Milliarden US-Dollar von bilateralen Gebern wie China und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Im Gegenzug, so der offizielle Deal, sollte die ägyptische Wirtschaft „reformiert“ und Ungleichgewichte in Angriff genommen werden.
Ägypten befand sich zum Zeitpunkt der Verhandlungen seit knapp sechs Jahren in einer schweren wirtschaftlichen Krise, war dabei, sämtliche Devisenreserven aufzubrauchen und häufte immer höhere Staatsschulden an. Die ägyptische Wirtschaft benötigte dringend Stabilität und strukturelle Reformen, um Touristen, ausländische Investoren und Devisen wieder ins Land zu locken.
Der Wechselkurs
Ein Hauptaspekt der Reformen war ein freier Wechselkurs der ägyptischen Währung. Als Mubarak 2011 abgesetzt wurde, kollabierte der Tourismussektor in Ägypten innerhalb von Wochen. Dieser machte damals 14,4 Prozent der Deviseneinnahmen und zwölf Prozent aller Arbeitsplätze im Land aus. Fünf Jahre später fand sich Ägyptens Regierung, beinahe ohne Dollarreserven, in einer ausweglosen Situation wieder; entweder sie nahm in Kauf, dass die Devisenreserven aufgebraucht werden, oder musste den Wechselkurs freigeben und den ägyptischen Pfund zu Ramsch reduzieren.
Die ägyptische Regierung wählte die zweite Option, woraufhin der ägyptische Pfund innerhalb von Tagen von 8,8 auf 16 US-Dollar fiel. Schmerzhaft für Importeure, hat diese Abwertung es jedoch der Zentralbank ermöglicht, ihre Devisenreserven zu stabilisieren und ägyptische Exporte wieder konkurrenzfähig gemacht.
Strukturreformen
Ägypten hat, wie viele arabische Länder, einen künstlich aufgeblasenen öffentlichen Sektor, eine ineffiziente Bürokratie und Steuereintreibesysteme, in denen Korruption und Vetternwirtschaft blühen. Hinzu kommt das bereits erwähnte Subventionssystem.
Der IWF verlangte, dass Ägypten im Gegenzug für die zwölf Milliarden US-Dollar seine Ausgaben im öffentlichen Sektor reduziert, die starren öffentlichen Arbeitsmarktstrukturen reformiert, Kraftstoffsubventionen abschafft, eine Mehrwertsteuer von 14 Prozent einführt und bessere Finanzierungsmöglichkeiten für Start-Ups bereitstellt. Angesichts der misslichen Lage gab die ägyptische Regierung den Forderungen der Geldgeber nach.
Gleichzeitig, so versprach der IWF, können Nahrungsmittelsubventionen erhalten bleiben. Außerdem werde Ägypten zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von bis zu einem Prozent des gesamten Bruttoinlandsproduktes neuen Programmen zur Armutsbekämpfung widmen. Gegenwärtig wären dies rund 3,3 Milliarden US-Dollar. Eine solche finanzielle Verpflichtung ist allerdings sehr vage und, wie die Wirtschaftsleistung Ägyptens der vergangenen fünf Jahre deutlich macht, enormen Schwankungen unterworfen. Eine langfristige Planung ist somit nahezu unmöglich und der Programmpunkt eine Farce.
Die sozialen Folgen
Das Reformpaket zog unglaubliche soziale Konsequenzen nach sich. Die drastische Abwertung des ägyptischen Pfundes hat zur Folge, dass Ägypten nun signifikant mehr für die Tilgung seiner Schulden bezahlen muss. Zukünftige Generationen werden daher die Bürde der schlechten Finanzpolitik und des Nepotismus der vergangenen Jahrzehnte tragen müssen.
Darüber hinaus hat die Zentralbank, um den Pfund nicht völlig zu entwerten, eine restriktive Geldpolitik einführen müssen und entsprechend Zinssätze erhöht und ägyptische Staatsanleihen verkauft. Die neu gewonnene Wechselkursstabilität quetscht die bereits angeschlagene Wirtschaft jedoch noch weiter aus und erstickt Investitionen oder neue Unternehmen im Keim. In Kombination mit niedrigeren Gehältern im öffentlichen Sektor nimmt daher die Nachfrage weiter ab und die Stagnation hält an.
Gleichzeitig schoss die Inflationsrate in Ägypten in die Höhe und erreichte im Dezember 2016 24,4 Prozent; Nahrungsmittel und Getränke waren sogar 29,3 Prozent teurer als im vorigen Jahr. In einem Land, in dem laut den Vereinten Nationen 28 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, sind solche Preissteigerungen untragbar für viele Familien. Außerdem wird das angekündigte Programm zur Armutsbekämpfung bis 2019 nur etwa 1,5 Millionen Haushalte umfassen – weniger als die Hälfte derer, welche zusätzliche Hilfe benötigen. Darüber hinaus wird es extremen Schwankungen unterworfen sein, abhängig von externen Faktoren wie der Nachfrage nach ägyptischen Exporten im Ausland.
Ägyptens Wirtschaft musste zweifelsohne reformiert werden. Jahrzehntelange Subventionen haben völlig irreguläre Konsummuster erzeugt und das enorme Bevölkerungswachstum von über zwei Prozent jährlich wäre für jeden Staat eine Herausforderung. Ägypten tat gut daran, den Wechselkurs seiner Währung freizugeben, eine Mehrwertsteuer einzuführen und seinen öffentlichen Sektor zu reformieren. Das Problem ist, dass der IWF nicht die tatsächlichen strukturellen Probleme des Landes in Angriff genommen hat.
Ägyptens militärisch-industrieller-Komplex
Ägyptens Militär beherrscht das Land nicht nur politisch: Ein riesiger militärisch-industrieller Komplex durchzieht alle Sphären der ägyptischen Wirtschaft. Die drei größten vom Militär geleiteten Unternehmen sind die National Service Projects Organisations. Diese wurde ursprünglich gegründet, um das Militär autonomer zu gestalten. Hinzu kommt die Arab Organisation of Industrialisation, die 1975 ins Leben gerufen wurde, um eine arabische Rüstungsindustrie aufzubauen, jedoch zogen sich alle anderen Partnerländern zurück als Ägypten 1979 einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnete. Außerdem gibt es noch die National Organisation of Military Production, welche das Militär ursprünglich mit Munition versorgen sollte und mittlerweile Elektrotechnik und Maschinen produziert.
Alle Unternehmen des Militärs sind von der neuen Mehrwertsteuer befreit. Wehrpflichtige dürfen zudem legal als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden. Diese Machenschaften des Militärs sind geheim und werden brutal beschützt, wie nicht zuletzt der Tod des italienischen Studenten Giulio Regeni im Januar 2016 bewies. Schätzungen gehen davon aus, dass Militärunternehmen fünf bis 40 Prozent der ägyptischen Wirtschaft kontrollieren – ein Semi-Monopol, das Marktstrukturen verzerrt und eigentlich der Politik des IWFs zuwider sein sollte.
Als wäre dies nicht genug, schreibt ein Gesetz dem Militär das alleinige Recht zu, landwirtschaftlich nutzbare Flächen im großen Stil zu entwickeln. Um die 85 Prozent alles landwirtschaftlich nutzbaren Landes in Ägypten ist allerdings ungenutzt und liegt brach, obwohl eine wachsende Bevölkerung und die starke Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten einen Ausbau der Agrarwirtschaft dringend erfordern.
Menschenrechte?
Das Sparprogramm, zusammen mit Preissteigerungen und hohen Importkosten, wird das ärmste Quintil der ägyptischen Bevölkerung am härtesten treffen. Für viele Ägypterinnen und Ägypter sind wirtschaftliche und soziale Menschenrechte wie das Recht auf Bildung, das Recht auf Gesundheit und das Recht auf soziale Absicherung, schwer bedroht. Die Regierung al-Sisis nutzt dagegen das Wirtschaftsprogramm, um weiter gegen die unabhängige Zivilgesellschaft vorzugehen – und das mit vollem Segen der internationalen Gemeinschaft im Namen des IWFs.
Des Weiteren erzeugen die Reformen des IWF eine falsche Illusion von Stabilität im Land. Ägypten ist eine sozioökonomische Zeitbombe, und jedes multinationale Unternehmen weiß das. Internationale Investoren erhoffen sich entweder, dass das Militär im Zweifelsfalle hart durchgreifen wird, sollte es zu erneuten Ausschreitungen kommen. Vielleicht haben sie das Risiko aber auch schlichtweg durchgerechnet. Tatsache ist, Ägypten braucht eine gesamtpolitische Lösung, welche wirtschaftliche Reformen an bessere soziale Absicherungssysteme und eine freiere Entwicklung der Zivilgesellschaft knüpft. Der Tourismussektor wird sich ebenfalls nur erholen, wenn sich Ägyptens Ruf verbessert; politische Unterdrückung erzeugt dabei nicht die Stabilität, die langfristig ein attraktives Urlaubsziel ausmacht.
Versäumte Forderungen
Der IWF hat sein Blatt in den Verhandlungen mit der ägyptischen Regierung unglaublich schlecht gespielt. Ägypten war dringend auf das Rettungsprogramm angewiesen, entsprechend hätte der Währungsfond mehr Reformen fordern können. Die Politik des freien Marktes, oft so stur vom IWF verteidigt, lässt sich diskutieren, aber ein Militärkomplex, der die Wirtschaft durchzieht und kontrolliert, ist ein de-facto-Feudalsystem und hätte vom IWF stärker kritisiert werden müssen.
Es mag nicht unbedingt die Aufgabe des IWFs sein, sich stark in die Innenpolitik eines Landes einzumischen, aber einen Blankocheck für Menschenrechtsverletzungen sowie ein Verrat am eigenen Leitmotiv des freien Marktes ist schlichtweg falsch. Darüber hinaus hätte der IWF konkretere und bessere Pläne für Armutsbekämpfung, einen schnelleren Abbau der Bürokratie sowie eine Auszahlung des Kredites in Tranchen, abhängig von politischen Reformen, implementieren können.
Die Brotaufstände in Alexandria und das Hin und Her der ägyptischen Regierung bei den Nahrungsmittelsubventionen zeigt, dass die Regierung ihre Grenzen austestet und keine langfristige Vision für das Land hat. Der IWF hat sich ins eigene Knie geschossen, denn soziale Spannungen werden weiterhin zunehmen. Das Rettungsprogramm war eine versäumte Chance, Ägyptens Militärdiktatur in die Schranken zu weisen.