Um den Arraigo Social, eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung, zu bekommen, müssen migrantische Arbeiter:innen in Spanien drei Jahre in Irregularität überleben. Am Beispiel Marokkos werden koloniale Kontinuitäten sichtbar.
Es ist Anfang Juni in El Ejido in Südspanien, die Frühlingssaison geht vorüber. Es bleiben nur noch die Wassermelonen zu ernten, die meisten der 31.000 Hektar Fläche bedeckenden Gewächshäuser sind leer. Die Zucchini, Paprika und Auberginen sind bereits geerntet und verpackt, von migrantischen Arbeiter:innen wie Yahya, Khalid und Hamza.
„Die Zukunft beginnt, wenn ich meine Papiere bekomme“
Alle drei kamen über den einzigen, ihnen verfügbaren Weg nach Spanien: Sie überquerten das Mittelmeer in einem kleinen Boot. Legale Migrationsrouten waren ihnen verschlossen. Seitdem sind fünf Jahre vergangen, Jahre des Wartens.
Khalid arbeitet und wartet, schläft und wartet – darauf, den Arraigo Social (wörtlich: soziale Verwurzelung), eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung, zu bekommen. Diese Wartezeit müssen er und seine Freunde in der Irregularität verbringen. Auch nach dem ersten Schritt der Regularisierung, der Registrierung im Padrón, dem Melderegister, bleiben ihnen Bürgerrechte verwehrt. Immerhin gewährt ihnen dieser Status bereits eine rudimentäre Gesundheitsversorgung und Zugang zu Bildung.
Voraussetzung für diesen Status ist ein Mietvertrag. Diesen zu bekommen stellt für diejenigen, die irregulär über das Meer kommen, eine Hürde dar. Der reguläre Wohnungsmarkt ist knapp und rassistische Diskriminierung weit verbreitet. Angesichts der häufigen Polizeikontrollen und Razzien leben Khalid, Hamza und Yahya außerdem in ständiger Angst, nach Marokko deportiert zu werden.
Das spanische Rechtssystem kann ihnen in dieser Situation keinen Schutz bieten. Unterstützung bei der Wohnungssuche oder im Falle von Diskriminierung kommt dementsprechend aus familiären Netzwerken und der erweiterten Community. Yahya erklärt: „Wer keine Familie hat, die unterstützt, für den ist es extrem schwer“.
Das Gesetz der „Sozialen Verwurzelung“
In den 2000er-Jahren entwickelte sich in Spanien ein Migrationssystem, welches legale Einreisemöglichkeiten einschränkt. Gleichzeitig aber lebt die informelle Wirtschaft des Landes in den Sparten Landwirtschaft, Bau und Pflege von nicht regularisierter, migrantischer Arbeit. 1990 lebten in Spanien nur rund 300.000 ausländische Staatsbürger:innen. 2003 waren es hingegen schon zwei Millionen gemeldeten Drittstaatler:innen, geschätzt 46 Prozent von ihnen ohne legalen Aufenthaltsstatus.
Das 2004 erlassene Gesetz des Arraigo Social, Artikel 31.3 im Ausländergesetz (Ley de Extranjeria) richtet sich an diese Drittstaatler:innen. Es sollte ursprünglich dazu dienen, sozial integrierte Menschen zu legalisieren, tatsächlich normalisiert es heute vor allem informelle Arbeitsbeziehungen. Antragsteller:innen müssen dafür nachweisen, dass sie drei Jahre lang ununterbrochen irregulär in Spanien gelebt haben und sie müssen innerhalb dieser Zeit einen Vollzeitarbeitsvertrag mit einer Mindestlaufzeit von 12 Monaten vorweisen. Der Aufenthalt in Spanien kann über Einreisestempel, sorgfältig aufgehobene Belege und Arztrechnungen, sowie die Einträge im Melderegister bewiesen werden.
„Ob man für diese Arbeit unterm Strich viel oder weniger bekommt, darüber denkst du nicht nach”
Yahya, Hamza und Khalid, alle Mitte 20, haben es geschafft: Sie haben zwei bis vier Jahre gebraucht und nun alle Dokumente zusammen, um sich für das Arraigo Social zu bewerben. Am schwersten war es, einen Arbeitsvertrag zu erlangen. Es mangelt nicht an Arbeitsmöglichkeiten, denn die Landwirtschaft in El Ejido hängt von der Arbeitskraft der Migrant:innen ab, diese Arbeit ist jedoch extrem prekarisiert, flexibilisiert und ausbeuterisch.
Yahya erklärt: „Die meisten Arbeiter:innen, welche immer wieder mit demselben Chef arbeiten, machen dies, um einen Vertrag zu bekommen … Was zählt ist der Vertrag, für den Vertrag arbeiten wir. Ob man für diese Arbeit unterm Strich viel oder weniger bekommt, darüber denkst du nicht nach”– Was dazu führt, dass Arbeitskraft den Arbeitgeber:innen fast unentgeltlich zur Verfügung steht. Die Arbeiter:innen akzeptieren unregelmäßige Arbeitszeiten und die aus den Arbeitsbedingungen resultierende finanzielle Unsicherheit. Yahya hat beispielsweise eine Vollzeitwoche, zu einem Tageslohn von 35 Euro, die folgende Woche darf er keinen einzigen Tag arbeiten. Hamza betont, dass ihr ungeklärter Status die Ungleichbehandlung der Arbeiter:innen noch verstärkt:
„Wenn Menschen keine Papiere haben, haben die Arbeitgeber:innen weniger Ausgaben und verdienen mehr. Denn wenn du keine Papiere hast, musst du mehr arbeiten, du hast immer Angst, einen schlechten Job zu machen. Wenn du zum Beispiel mit sieben Menschen zusammenarbeitest, die Papiere haben und wenig arbeiten, der eine, welcher keine Papiere hat, hat Angst und arbeitet mehr.“ Die Behörden reagieren mit zunehmenden Kontrollen am Arbeitsplatz, welche die Unsicherheit für die betroffenen Arbeiter:innen erhöht. Was als Mittel für mehr Arbeitsschutz dienen soll, kann kaum funktionieren. Schließlich sind es die Auflagen des Gesetzes, dem Arraigo, die Migrant:innen in informelle Arbeitsbeziehungen zwingt.
Shahram Khosravi, ein schwedischer Anthropologe erklärt das „Warten lassen“ zum politischen Machtinstrument. Zeit von nicht-weißen Menschen wird als weniger wertvoll deklariert. Dadurch werden diskriminierende Migrationsgesetze und damit verbundene Praktiken kolonial geprägter Verhältnisse fortgeführt.
Im zweiten Schritt wird so auch ihre Arbeitszeit ausbeutbar. Dieses Gesetz ist dadurch Teil eines umfassenden, der Abschreckung dienenden Grenzregimes. Frontex steht paradigmatisch für die Festung Europa, in dem die europäische Agentur die geographischen Außengrenzen Europas durch neue Mauern und Überwachungssysteme versucht zu schließen. Im Gegensatz dazu fungiert der Arraigo als zeitliche Grenze, indem es Wert und Verfügbarkeit von Zeit unterscheidet und Menschen so voneinander abgrenzt.
Systematische Ursachen
Dass sich junge Marokanner:innen nach Spanien aufmachen ist nicht zufällig, die Gründe sind in anhaltenden kolonialen Prozessen zu suchen. El Ejido in Spanien ist ein Mikrokosmos in den breiteren Grenzgebieten des Mittelmeerraums. In El Ejido kommen der globale Süden und der Norden zusammen und bringen verdichtete soziale Probleme an die Oberfläche, die ihren Ursprung im globalen kapitalistischen System haben.
Wie oben erwähnt, führen sie unter anderem dazu, dass die Zeit von Menschen wie Yahya, Khalid und Hamza wertlos wurde, bevor sie einen Fuß nach Spanien setzten. Ein historischer Blick auf die landwirtschaftlichen Entwicklungen in Marokko zeigt die Verwebung von Kolonialismus, Kapitalismus und Migration. Unter dem französischen Protektorat 1912 bis 1956 wurde die Landwirtschaft in Marokko mit Fokus auf den Export bestimmter Produkte umstrukturiert. Um Zugang zu fruchtbarem Land zu bekommen, wurden auch Menschen umgesiedelt.
So entstand eine exportorientierte Agroindustrie, wie in der Sousse Region, südlich des Ferienparadieses Meknès. Eine Struktur, die sich auch nach der marokkanischen Unabhängigkeit 1956 nicht geändert hat. Dort ansässige Kleinbäuer:innen, die von den Früchten ihres Bodens leben, schaffen dies nun immer weniger. Die Industrie hat die wichtigste Ressource Wasser so ungebremst ausgebeutet, dass es nun großer Pumpen bedarf, um an Grundwasser zu gelangen. Geräte, die sich die Bäuer:innen nicht leisten können. Einen Ausweg aus der so entstehenden Existenzkrise bietet die Lohnarbeit in der Agroindustrie, entweder in der Nachbarschaft oder in Spanien.
Als Resultat können Konsument:innen in ganz Europa Gemüse und Früchte zu billigsten Preisen erwerben. Das spanische Migrationsgesetz trägt dazu bei, dass sich die Agroindustrie, basierend auf der Ausbeutung von migrantischer Arbeitskraft, aufrechterhalten kann. Die Jahre bis zur Regularisierung, die Jahre mit Wartens, sind gefühlt „verlorene Zeit“ für die Arbeiter:innen. Hamza beschreibt das Lebensgefühl ohne Papiere so: „Es ist wie auf einer Leiter zu stehen und weder weiter hinauf noch zurück hinunter zu können“.