13.09.2019
Bürgerlich oder nicht – das ist die falsche Frage

Die AfD präsentiert sich als bürgerliche Partei. Das sorgt für Empörung. Doch die greift zu kurz, denn sie vergisst die Kehrseite scheinbar universeller Werte. Höchste Zeit für Selbstkritik, meint Iskandar Ahmad Abdalla.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen. Alle Texte der Kolumne findest du hier.

Vielleicht hat sich ARD-Moderatorin Wiebke Binder tatsächlich versprochen, als sie die Möglichkeit eines Bündnisses von CDU und AfD als „bürgerliche Koalition“ bezeichnete. Ein Freud’scher Versprecher also? So oder so: Die öffentliche Empörung, die Binders Wortwahl auslöste, ermöglicht Einblicke, die weit über Binders Unterbewusstsein hinausgehen. Der Aufruhr um die Formulierung zeigt: Wir befinden uns in einem Zustand allgemeiner politischer Verwirrung.

Im Rausch der Wahlerfolge in Sachsen und Brandenburg eignete sich die AfD die Bezeichnung prompt selbst an: „Wir sind auf dem Weg, die bürgerliche Volkspartei zu werden“, verkündete AfD-Frationschef Alexander Gauland bei Anne Will. Einige Kommentator*innen sahen darin ein deutliches Signal, dass die AfD sich vom Faschismus distanziere.

Andere hielten Gaulands Worte für eine dreiste Lüge, wenn nicht sogar eine Beleidigung der Bürger*innen. Das Argument: Eine rechtsradikale Protestpartei, die Angst schürt, könne niemals bürgerlich sein. Denn bürgerlich sei nicht, wer Affekte schürt, sondern wer für Mäßigung, Differenzierung und Sachlichkeit eintritt.

Tatsächlich bleiben Gaulands Vorstellungen von Bürgerlichkeit seinem Weltbild treu. Ausdrücke wie „Gleichheit ablehnen“ und „in Rangordnungen denken“ deuten subtil auf rassistische Denkmuster hin. Wie üblich wird der Islam als Feindbild konstruiert. Neu ist: Neben Demokratie, Menschenrechten, Aufklärung und religiöser Toleranz zählt nun auch Bürgerlichkeit zu den Dingen, die Muslim*innen weder kennen noch wollen. Der Beweis? „Nirgends, wo der Islam herrscht, sind bürgerliche Freiheiten garantiert“, sagt Gauland.

Purer Populismus bis hin zum offenen Rassismus und Bürgerlichkeit – geht das zusammen? Gibt sich die AfD bürgerlich, während sie in Wirklichkeit die bestehenden bürgerlichen Werte zu Grunde richtet, wie Kritiker*innen immer wieder meinen?

Für Gauland gibt es an seiner eigenen Bürgerlichkeit keinen Zweifel. Um sich in dieser Rolle zu präsentieren, zieht er den Islam als Gegensatz heran. Soweit so gewohnt. Für alle, die das noch nicht überzeugt, hat Gauland eine Empfehlung parat: Einfach mal in das Programm seiner „bürgerlich-konservativen und freiheitlichen“ Partei schauen.

Wer dort nachsieht, wird nicht nur finden, dass sich die AfD zur „bürgerlich-freiheitliche(n) Rechtsordnung“ als „einer der großen zivilisatorischen Errungenschaften Europas“ bekennt. Dort lässt sich auch lesen, dass die AfD sich als „liberal“ versteht, die Demokratie verteidigt,  den „liberalen Rechtstaat“ stärken will und sich zudem auf die Menschenrechte beruft. Alles einfach nur Lügen? Beleidigungen für Demokrat*innen und Liberale?

Die Kritik greift zu kurz

Natürlich enthält das Programm völlig verquere Vorstellungen von Recht und Geschichte. Das Gedankengut darin ist nicht nur manipulierend, gefährlich und ausgrenzend, sondern ihm liegen auch rassistische Annahmen zugrunde. Doch anzunehmen, dass die Partei bloß das Gegenteil der Attribute sei, mit denen sie sich gerne schmückt, greift einfach zu kurz.

Eher sollten sich diejenigen, die sich für wahre Demokrat*innen und Liberale halten, fragen, was geschehen ist, dass sie sich ihre Etiketten plötzlich mit Rechtsextremen teilen müssen. Wurden die Werte, die sie als bürgerlich verstehen, so sehr ausgehöhlt? Oder hatten diese Werte von Anfang an eine tückische Seite inne, die sich nun gegen sie wendet?

Viele Denker*innen und Historiker*innen haben die Kehrseite universell geltender Werte zu ihrem Untersuchungsfeld gemacht. Theodor Adorno und Max Horkheimer etwa zeigten in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (1944), dass der aufklärerischen Vernunft unauflösbare Widersprüche inhärent seien. Hannah Arendt kritisierte in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955) das moderne Konzept der Menschenrechte, weil es sich dabei um die Rechte von Bürger*innen in einer vorgegebenen Rechtsgemeinschaft handele, zu deren Voraussetzungen und Ausschlussmechanismen geschwiegen werde.

Der Soziologe Zygmunt Bauman stand der Moderne selbst kritisch gegenüber. So sah er den europäischen Antisemitismus und das Phänomen des Massenmordes etwa nicht als zivilisatorischen Bruch, sondern als Konsequenz der Moderne („Modernity and Ambivalence",  1990). Uday Mehta versteht den kolonialen Drang, zu beherrschen und zu disziplinieren, wie in „Liberalims and Empire“ (1999) dargelegt, als konstitutiv für die formative Phase des westlichen Liberalismus – nicht als ihren Widerspruch.

In Zeiten von zunehmendem Populismus sollten solche Überlegungen nicht bloß gedankliche Experimente in akademischen Räumen bleiben. Ihre Relevanz für die politische Praxis ist heute nötiger denn je.

Zeit für Selbstkritik

Es ist natürlich völlig berechtigt, der AfD ihre selbsternannte Bürgerlichkeit, Liberalität oder ihre Berufung auf die Menschenrechte abzustreiten. Aber das genügt eben nicht. Solche Selbsternennungstaktiken müssen in ihrem breiteren geschichtlichen Zusammenhang verortet werden – nämlich dort, wo Menschenrechte, Demokratie, Bürgerlichkeit oder Liberalität zum Ausdruck einer hegemonialen politischen, gar nationalen Identität stilisiert werden.

Es handelt sich dabei um eine politische Identität, die ihre Widersprüche nicht reflektiert, sondern sich selbst konstant bejaht und andere gleichzeitig ausschließt, zügelt, beherrscht oder sogar gegen sie Kriege führt. Die Geschichte liefert dafür viele Beispiele: von den Gräueltaten der mission civilisatrice bis hin zu den zeitgenössischen Kriegen im Namen von Freiheit und Demokratie, so etwa der Irak- oder der Afghanistankrieg.

Dass die AfD rassistisch ist und sich zugleich auf Menschenrechte und Demokratie beruft, mag politisch unzumutbar wirken, doch historisch gesehen ist das keinesfalls ein Widerspruch. Damit wird nicht behauptet, dass die bürgerlichen Freiheiten der einen zwangsläufig die Unterdrückung und Ausgrenzung der anderen bedingen. Es bedeutet auch nicht, dass man diese Werte den Rechtpopulist*innen widerstandslos überlassen sollte. Vielmehr geht es darum, jene Werte innerhalb ihres komplexen Spannungsfelds zu verstehen.

Statt nur vor ihrem Missbrauch zu warnen, sollten wir kritisch beleuchten, für welche Ziele und Zwecke diese Werte instrumentalisiert werden. Ein wirksamer politischer Widerstand gegen Rechts, ob er sich bürgerlich, liberal oder links nennt, muss von ständiger Kritik begleitet werden. Doch Kritik kann sich erst entfalten, wenn sie auch zur Selbstkritik wird, wenn sie die Grenzen und Fallstricke der eigenen Position wahrnimmt. Das ist die Grundlage demokratischer Kultur.

Die Berliner Islam- und Politikwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami erprobt Kritik in diesem Sinne und erinnert uns, dass Begriffe wie Menschenrechte und Demokratie „leere Worthülsen“ sein können. Sie müssen konstant gefüllt werden und zwar „im Austausch mit ganz unterschiedlichen Akteuren der Gesellschaft, eingeschlossen Muslimen.“ Im herrschenden politischen Diskurs erscheinen Menschenrechte und Demokratie jedoch zuweilen als absolute und gegebene Werte, die gegen Muslim*innen verteidigt werden müssten.

Dieses Narrativ bedienen auch Gauland und Co. Doch neu erfunden haben sie das Rad kaum. Denn auch zuvor haben die Debatten um Werte in fast allen politischen Lagern zu selbstbejahenden Identitätsdiskursen geführt, die sich meistens am Islam als vermeintlichen Endgegner der europäischen Demokratie abarbeiten. So als wäre ein liberaler Westen, um die Worte des Politologen Joseph Massad zu verwenden, die Antithese des Islams.

Aus diesem Erbe schöpft die AfD. Dementsprechend versteht sie sich selbst nicht nur als „bürgerlich“, sondern auch als „liberal“. Wenn sich aus den Wahlerfolgen der AfD in Sachsen und Brandenburg etwas lernen lässt, dann sicherlich nicht, dass Ostdeutschland demokatischen Nachholbedarf hat. Sondern: dass unsere Demokratie dringend Selbstkritik nötig hat.

Iskandar Abdalla, geboren in Alexandria, Ägypten, studierte Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilian-Universität München und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zurzeit promoviert er an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit dem Islam in Europa, aber...
Redigiert von Moshtari Hilal, Maximilian Ellebrecht