Mitten in Kairo, am Fuße des Berges Moqattam, liegt das Viertel Al-Zarayib. Hier leben rund 70 000 Christen, die täglich mit bloßen Händen den Müll von 20 Millionen Kairenern sortieren. Eine mühsame Arbeit, die die Regierung noch erschwert. Von Hend Taher
Verrottende Abfälle säumen die schlammigen Gassen, stapeln sich an den Wänden und quellen aus offenen Werkstätten. Hunde wühlen im Unrat. Im Schmutz suchen Frauen, Männer und Kinder nach verwertbaren Stoffen. Andere essen, während sie sich miteinander unterhalten. Ab und zu ertönen laute Geräusche aus den Werkstätten. Kinder spielen in den Straßen, reiten auf Eseln oder versuchen, eine Ratte zu fangen. Die Hauptstraßen sind voller Menschen, Eselsfuhrwerke und Lieferwagen, auf denen sich meterhoch der Müll türmt. Einen Fußweg oder eine Fahrbahn gibt es hier nicht. Das Viertel wurde nicht geplant, sondern entstand vor fast fünfzig Jahren illegal. Die Menschen errichteten Häuser aus Ziegelsteinen, dicht an dicht, die Wände haben Risse. Das Viertel Al-Zarayib ist die Heimat der Müllsammler.
Es ist Vormittag – doch schon Ende des Arbeitstages für Christina, Monika und ihren Vater Botros Hanna. Im zur Straße hin offenen Erdgeschoss ihres Hauses trennen sie mit bloßen Händen den organischen Müll von wiederverwertbaren Stoffen. Die ältere Schwester Christina trägt eine Galabija - ein traditionelles, weites Gewand - und ein Kopftuch, welches ihr Haar nur teilweise bedeckt. Die zwanzig Jahre alte Monika trägt ein knielanges Kleid. In einer dunklen Ecke schläft ihr Baby auf einem Tisch, während der dreijährige Bruder nebenan spielt. Gesellschaft leistet ihnen nur der Esel, mit dem sie frühmorgens den Müll aus der Kairener Innenstadt in ihr Viertel transportieren. Die Familie sortiert den Müll und verkauft verwertbares Material wie Plastik oder Metalle an lokale Händler, die es schließlich an Fabriken weiterverkaufen. Den organischen Müll vergraben sie auf offiziellen Müllkippen.
Schweineverbot in der Müllstadt
Der Vater Botros arbeitet als Müllsammler – als „Zabaal“ wie die Ägypter sagen – schon seit etwa vierzig Jahren. „Es ist das Erbe meiner Großeltern“, sagt er mit Stolz. Seine zehn Kinder haben die Schule verlassen und arbeiten mit ihm zusammen. Anders zu arbeiten oder wegzuziehen kommt ihnen nicht in den Sinn. „Wir haben hier fast alles. Wir bekommen sogar jedes Jahr eine kostenfreie medizinische Untersuchung”, sagt der Vater. Gesundheitliche Folgen von der Arbeit im Müll gebe es nicht. „Ich esse täglich Dinge aus dem Müll. Das erzähle ich aber keinem Fremden”, sagt Monika mit einem Lächeln. Christina kniet sich nieder, nimmt einen offenen Marshmallow-Beutel aus dem Müll und isst davon: „Oh, das schmeckt und ist total harmlos.” Nur diejenigen Familien, die Müll sortieren, der krank macht, litten unter Auswirkungen, berichtet sie.
Früher, erzählt Botros, habe er immer gut verdient. Heute bekommt er nur noch rund 60 Pfund täglich, was nur etwa 6,60 Euro entspricht. Weggefallen sind die Einnahmen aus der Verwertung der organischen Abfälle, seit die Regierung 2009 aus Furcht vor der Schweinegrippe alle Schweine im Viertel töten ließ. Das war eine Katastrophe für die Zabaleen, die ihr Geld in Schweine investierten. „Heute tragen wir auch die Transportkosten, um den organischen Abfall auf den offiziellen Müllkippen zu vergraben”, erzählt Botros. Denn das Schweineverbot gilt in Al-Zarayib bis heute.
Müllstädte als Sehnsuchtsorte
Die Geschichte des Viertels erzählt Leila Zaghlol, die Direktorin der UNESCO-Schule in Al-Zarayb. In den sechziger Jahren sei die erste Gruppe von Müllsammlern aus Oberägypten nach Kairo gekommen. Sie siedelten am Rande der Millionenstadt. Als der ständig wachsende Städtebau ihr Gebiet erreichte, begann die Regierung, sie zu verdrängen. Sie zogen weiter und ließen sich schließlich weit entfernt vom Stadtzentrum nieder, zwischen Hügeln und Friedhöfen. Damals gab es weder Wasserleitungen noch Abwasserkanäle, Stromleitungen oder gepflasterte Straßen. Die Häuser, die die Menschen errichteten, wurden immer wieder vergrößert, erst in der Fläche, dann in der Höhe. Heute gibt es allein in Al-Zarayib rund 70 000 Zabaal. Doch das ist nur eine von fünf Städten in Kairo, die buchstäblich auf Müll gebaut sind. Für die Bauern auf dem Land sind die Slums Sehnsuchtsorte. Die Müllsammler verdienen besser als die Bauern in ihren Dörfern. Gleichwohl leiden die Zabaleen unter den gesundheitlichen Folgen ihrer Arbeit.
„Wegen der Unsauberkeit verbreitet sich Hepatitis sehr schnell. Zum Beispiel benutzen mehrere Leute das gleiche Rasiermesser“, sagt Leila. Außerdem leiden der Abgase wegen viele Kinder unter Lungen- und Magenerkrankungen. Die Mehrheit der Menschen sei ungebildet. Selbst wenn viele Familien ihre Kinder zur Schule schicken, verlassen sie rund zwanzig Prozent ohne Abschluss, berichtet die Direktorin.
An den Schulwänden gibt es Bilder von Studenten, die einmal hier Schüler waren. Ein Bild ist besonders groß, darunter steht ein Vers aus der Bibel: „Er starb nach einem Stromschlag“, sagt Leila, ihr Blick wird traurig. Hier in Al-Zarayib werde kein Wert auf Arbeitssicherheit gelegt.
Direkt neben der Schule gibt es eine Werkstatt. Die gehört Majdi und seiner Familie. Er trägt abgenutzte Kleidung und arbeitet in einem dunklen, geschlossenen Raum. Die Auspuffgase belasten den Atem. Die Frage nach einem Versicherungssystem oder Beleuchtung lässt ihn lachen. „Jeder muss auf sich aufpassen. Unfälle passieren selten”, sagt Majdi. In der Garage der Werkstatt steht ein modernes, großes Auto, das der Familie gehört.
Die Mehrheit einer Minderheit
Achtzig Prozent der Bewohner gehören der ägyptischen Minderheit der Kopten an. Doch hier zelebrieren sie ihre religiöse Identität anders als im restlichen Kairo. Die meisten Läden tragen Namen von christlichen Priestern und sind verziert mit deren Bildern. Kreuze hängen überall und die Kirchenlieder tönen laut auf die Straßen. Sie erlauben keine Fremden in ihrer Gemeinschaft; weder verkaufen noch vermieten sie ihre Häuser an Unbekannte.
Muhammad Ragi, 33 Jahre alt, ist auch Müllsammler. Er trägt weiße, ordentliche Kleidung. Er hat ein Studium in Betriebswirtschaft mit Diplom abgeschlossen. Verschämt erzählt er über seinen Alltag. In den frühen Morgenstunden sammele er den Müll vor den kleinen Geschäften in Nasr City – das ist sein Sammelgebiet und kein Zabaal überschreitet die Grenze seines Gebietes. Er kommt bei Sonnenuntergang oder spät in der Nacht wieder nach Hause. Mit traurigen Augen zeigt er auf seine Werkstatt, in der die Frauen seiner Familie neun Stunden am Tag arbeiten. Schnell wendet Muhammad seinen Blick ab und schweigt.
Mit seiner Lage ist er nicht zufrieden. „Da ich selbständig bin, arbeite ich viel und verdiene wenig. Sparen kann ich kaum, nur ein wenig Geld für den Notfall.“ Er träumt von einem festen Job, der eine Versicherung mit sich bringt. „Heute habe ich zum Beispiel 600 Pfund für ein neues Autorad bezahlt. So kann ich nicht leben.“ Wie andere Müllsammler hat Muhammad Angst vor Fremden, die Fragen über Al-Zarayb stellen. Besonders vorsichtig ist er mit Regierungsvertretern. „Sie manipulieren uns und möchten unser Essen wegnehmen“, schreit eine Verwandte von ihm. „Die Regierung möchte unsere Arbeit kontrollieren”, erklärt Muhammad.
Ohne Versicherung und Arbeitserlaubnis
Bis heute erkennt die Regierung die Zabaleen offiziell nicht an. Sie arbeiten ohne Erlaubnis, viele haben keinen Personalausweis. In den 90er Jahren begann die Regierung im Rahmen von verordneten Strukturanpassungen öffentliche Dienste zu privatisieren. Dieses Programm erfordert den Verkauf von nationalen Gesellschaften an internationale Firmen. 2003 schloss die Regierung Verträge mit internationalen Reinigungsunternehmen ab und erteilte ihnen das Recht, den Müll einzusammeln. Sie stellten Müllbehälter für jedes Gebäude bereit und verpflichteten sich, diesen jeden Tag zu leeren. Wenn sich die Mitarbeiter aber verspäten, lassen die Leute den Müll auf den Straßen liegen. Schließlich gab es anstatt der Mülleimer Abfallstapel in fast jeder Ecke in Kairo. Das war früher anders: „Die Zabaleen sammelten den Müll direkt in den Häusern und kamen immer rechtzeitig. Seitdem das verhindert wird, ist die Lage viel schlimmer geworden“, sagt Muhammad.
Heute sortieren viele Zabaleen die Müllsäcke vor Ort, offen auf den Straßen. Sie sammeln, was sie brauchen und lassen den organischen Müll auf dem Boden liegen. Es bliebe ihnen nichts anderes übrig, erklärt Muhammad, denn den organischen Müll auf einer Müllhalde zu entsorgen bedeute zusätzliche Kosten, die sich kein Zabaal leisten könne. „Und: Diese Fremdfirmen schaffen die Arbeit nicht. Wir sind viel effizienter.“