05.06.2020
Einsame Kämpferinnen gegen eine barbarische Macho-Kultur?
Es ist eine Gratwanderung: Wie über Frauen aus mehrheitlich muslimischen Ländern berichten, ohne ungewollt rassistische Klischees zu reproduzieren? Grafik: Paul Bowler
Es ist eine Gratwanderung: Wie über Frauen aus mehrheitlich muslimischen Ländern berichten, ohne ungewollt rassistische Klischees zu reproduzieren? Grafik: Paul Bowler

Wer über Frauen aus Westasien und Nordafrika berichtet, reproduziert oft ungewollt Stereotype. Ihre Geschichten unerzählt zu lassen, ist aber auch keine Lösung, findet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Eigentlich weiß ich als Journalistin mittlerweile, dass es keine gute Idee ist, sich die Kommentare unter den eigenen Artikeln durchzulesen. Trotzdem lasse ich mich immer wieder mal dazu hinreißen. Besonders unangenehm sind Kommentare, die die eigene Person oder Arbeit beleidigen. Aber fast noch schlimmer ist es festzustellen, dass der eigene Text ohne es zu wollen gängige, rassistische Stereotype in den Köpfen der Leser*innen bestätigt hat.

So ging es mir zum Beispiel Ende letzten Jahres, als ich für Der Spiegel über die Rechte geschiedener Frauen in Ägypten schrieb. Ich traf dafür in Kairo eine Aktivistin, die mithilfe einer Facebook-Gruppe geschiedene Frauen und alleinerziehende Mütter miteinander vernetzt. Die Frauen helfen sich gegenseitig mit juristischen und behördlichen Tipps, posten Jobangebote oder unterstützen einander emotional.

Die ägyptischen Scheidungsgesetze sind sehr veraltet und benachteiligen meist die Frau. Unter meinen Text kommentierte eine gewisse Vanessa: „Diese Frau (und all die anderen) hat Glück, dass ein Sisi in Ägypten an der Macht ist. Bei den Muslimbrüdern hätte sie die Facebookseite nicht betreiben können.“

Tatsächlich stammen Ägyptens frauendiskriminierenden Scheidungsgesetze weder von Präsident Abdel Fattah al-Sisi noch von einer islamistischen Regierung. Entstanden sind sie während der britischen Kolonialherrschaft vor etwa 100 Jahren. Doch die Kommentatorin fühlte sich durch den Artikel darin bestätigt, dass die Wurzel allen Rückstands der Islam ist. In ihren Augen ist es der von Europa und Nordamerika gestützte Diktator, der die Unterdrückung der Frau in einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft gerade noch so im Zaum hält.

Gefangen zwischen Misogynie und Imperialismus

Diese Gratwanderung – über Frauen aus mehrheitlich muslimischen Ländern zu berichten, ohne sie als einsame Kämpferinnen gegen eine barbarische Macho-Kultur darzustellen – erlebe ich in meiner Arbeit immer wieder. Als Journalistin interessieren mich Geschichten von Frauen, die sich gegen Diskriminierung, Gender-Stereotype und sexualisierte Gewalt einsetzen – egal, in welchem Land.

Gleichzeitig liegt mein regionaler Schwerpunkt auf den Ländern Westasiens und Nordafrikas (WANA). Wie aber berichte ich über die Aktivitäten von Frauen in Ländern wie Ägypten, Syrien oder Tunesien für deutsche Leser*innen, ohne das Bild der „unterdrückten arabischen oder muslimischen Frau“ zu reproduzieren? Wie lassen sich die patriarchalen Gesellschaften in WANA kritisch beleuchten, ohne die rassistische Schlussfolgerung auszulösen, dass die Ursache dafür in der „arabischen Natur“ oder der „muslimischen Kultur“ liegt?

Von dieser Zwickmühle erzählte mir auch die ägyptische Comiczeichnerin Deena Mohamed. 2011 erhielt sie weltweite Aufmerksamkeit für ihren Comic Qahera über eine Superheldin mit Kopftuch, die sich gegen sexuelle Belästigung auf Kairos Straßen einsetzt.

„Wenn ich einen Comic poste, in dem ich konservative muslimische Männer kritisiere, wird definitiv eine westliche Feministin ankommen und sagen, der Islam sei böse“, sagte mir Deena Mohamed vor zwei Jahren in einem Interview. Gleichzeitig sei sie Muslima und finde den Islam nicht böse. Für sie als ägyptische, muslimische Frau wäre es sehr schwierig, etwas innerhalb ihrer Kultur zu kritisieren, ohne dass sich jemand einmische und die Kultur als Ganzes verteufele, so Mohamed: „Wir stecken fest zwischen Misogynie und Imperialismus.“

Also lieber gar nicht berichten?

Natürlich werden Frauen in Ägypten und anderen WANA-Ländern strukturell benachteiligt, genauso wie im Rest der Welt. Der Islam marginalisiert Frauen genauso wie das Christentum und fast alle philosophischen, naturwissenschaftlichen und politischen Theorien der letzten 3.000 Jahre. Doch ob das Patriarchat in WANA nun schlimmer, besser oder einfach anders ist als in Europa, möchte ich in meinen Texten überhaupt nicht diskutieren. Die Schlussfolgerung aus diesen Geschichten sollte nicht sein: „Gut, dass bei uns alles besser ist“, sondern „Krass, dass es überall patriarchale Strukturen in unterschiedlichen Ausprägungen gibt. Woran liegt das?“

Leider hat sich in Europa die Vorstellung festgesetzt, dass Frauen in WANA gerettet werden müssen. Dazu haben Magazincover beigetragen, auf denen große Augen hinter schwarzen Schleiern hervorgucken, ebenso wie zahlreiche Artikel, die arabische und muslimische Frauen dafür feiern, dass sie ganz normale Dinge tun. Jede*r kennt wohl die Reportagen über Frauen aus WANA, die Fahrrad fahren, Unternehmen gründen oder Jeans tragen.

Auch als Journalistin muss ich mich oft zurückhalten, denn diese Texte lassen sich ziemlich gut verkaufen. Als arabischsprachige, halbägyptische Journalistin könnte ich Unmengen solcher Geschichten produzieren, meide sie aber bewusst. Ganz auf diese Protagonistinnen verzichten möchte ich allerdings auch nicht. Es wäre unfair, arabischen oder muslimischen Frauen mit spannenden Lebensläufen die Plattform zu entziehen oder wichtige Phänomene zu ignorieren, nur weil manche Leser*innen das falsch verstehen.

Oft erwische ich mich selbst dabei, wie ich die Schwierigkeiten von Frauen in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften herunterspiele, um bloß keine rassistischen Stereotype zu bedienen. Das ist falsch. Ihre Kämpfe verdienen es genauso ernstgenommen zu werden wie die der Frauen in Europa oder den USA: Bleibt also nur, sich selbst vor der Recherche ein paar kritische Fragen zu stellen und während des Schreibens Klischees so gut es geht zu vermeiden.

Überraschende Wendungen

Weil Männer in den Medien ohnehin überrepräsentiert sind, versuche ich in meinen Recherchen erst einmal weibliche Gesprächspartnerinnen zu finden. So treten arabische Frauen in meinen Texten nicht nur bei Themen auf, wo es um ihre Unterdrückung oder Befreiung geht, sondern als Expertinnen oder Aktivistinnen zu allen möglichen Themen.

Vor Recherchen versuche ich mir immer ganz ehrlich die Frage zu beantworten, warum mich das Thema interessiert. Würde ich über dieselbe Protagonistin auch berichten, wenn sie Schwedin oder Engländerin wäre? Natürlich gibt es Themen, die nur in bestimmten Ländern Sinn machen, aber ein paar Klischeegeschichten lassen sich dadurch aussortieren.

Und wie sieht es mit der Problematik, über die ich schreibe, eigentlich in Deutschland aus? Welche Parallelen stelle ich fest? Das soll Probleme nicht relativieren, sondern in einen größeren Zusammenhang stellen und zeigen: In der Regel sind die Ursachen vielschichtiger als gedacht. Wenn Frauen in Politik und Gesellschaft benachteiligt werden, dann liegt das nicht an einer vermeintlich homogenen arabischen oder islamischen Kultur, sondern ist Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, bei der sich verschiedene Religionen, Gesellschaften und Nationen immer wieder gegenseitig beeinflusst haben.

Schließlich lohnt es sich auch, auf überraschende Wendungen zu achten. Bei der Scheidungsgeschichte hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass die einzige Regelung, die ägyptischen Frauen eine Scheidung ohne Zustimmung des Mannes erlaubt, auf der Scharia basiert. Auch diese Information gehört zu einer ausgewogenen Berichterstattung, aber man muss sie erst einmal finden. Wer sich mit der stereotypen Vorstellung des bösen Islam zufriedengibt, wird wohl gar nicht erst danach suchen.

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann