05.04.2014
Präsidentschaftswahlen im Libanon - Auf der Suche nach der goldenen Mitte
Kampagne des TV-Senders LBCI zu den Präsidentschaftswahlen: "Tasuit am Tasuia" - Abstimmung oder Kompromiss? Wie wird der nächste Präsident gewählt? Bild: Bodo Straub (C)
Kampagne des TV-Senders LBCI zu den Präsidentschaftswahlen: "Tasuit am Tasuia" - Abstimmung oder Kompromiss? Wie wird der nächste Präsident gewählt? Bild: Bodo Straub (C)

Die heiße Phase der libanesischen Präsidentschaftswahlen hat begonnen. In den nächsten sechs Wochen muss das Parlament einen Nachfolger für Michel Sleiman finden doch die Wahlen werden zur Zerreißprobe. Alsharq erklärt, welche Kandidaten Chancen auf eine Mehrheit haben und wer für eine Überraschung sorgen könnte.

Zumindest zwei Dinge stehen fest: Der nächste libanesische Präsident wird ein männlicher, maronitischer Christ sein. Er wird ein Mann sein, weil Frauen schlicht kaum eine Rolle in der libanesischen Politik spielen (im aktuellen 30-köpfigen Kabinett ist nach drei Jahren überhaupt wieder eine Frau vertreten), und Maronit wird er sein, weil ein ungeschriebenes Abkommen unter den drei größten Konfessionen im Libanon das so vorsieht – der Präsident ist Maronit, der Premierminister Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit.

Alles andere aber steht noch in den Sternen. Am 25. Mai endet die sechsjährige Amtszeit von Michel Sleiman, der nicht erneut kandidieren darf – und auch nicht will. Bis zum 15. Mai muss das zwischen zwei großen Blöcken und einigen kleinen Fraktionen gespaltene Parlament zusammen kommen und einen Kandidaten finden, der die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit auf sich vereinen kann (für den zweiten Wahlgang reicht dann die absolute Mehrheit). Gelingt das nicht, tagt das Parlament automatisch zehn Tage lang in Dauersitzung, bis es einen Präsident gewählt hat. Zwar hat das Amt des Präsidenten seit dem Abkommen von Taef einen Großteil seiner exekutiven Aufgaben verloren und ist mittlerweile wenig mehr als ein repräsentatives Symbol – doch gerade Symbole sind in der libanesischen Politik von herausragender Bedeutung, und der Präsident ist neben der Armee die einzige nationale Instanz, der sich zumindest offiziell noch alle libanesischen Fraktionen verpflichtet fühlen.

Der Bürgerkrieg im benachbarten Syrien verschärft die inner-libanesische Spaltung zusätzlich. Wenn sich die beiden großen Blöcke – die eher pro-Assad eingestellte, anti-westliche und pro-iranische Allianz des 8. März und die eher anti-Assad, pro-westliche und pro-saudische Allianz des 14. März – nicht doch noch auf einen Kompromisskandidaten einigen können, läuft es auf eine Kampfabstimmung zwischen mehreren Kandidaten hinaus. Das wäre entgegen der libanesischen Tradition, Fragen von nationaler Bedeutung im Konsens zwischen allen politischen und religiösen Gruppen zu entscheiden. Zwar kam im März nach elfmonatiger Wartezeit endlich wieder eine Regierung der „Nationalen Einheit“ zustande, an der sich jedoch beispielsweise die christlichen Lebanese Forces nicht beteiligen – und die alleine für ihre Regierungserklärung mehrere Wochen gebraucht hat. Das „La-ghalib-wa-la-maghlub“-Prinzip (zu Deutsch: „kein Sieger und kein Besiegter“) scheint an seinem Ende angekommen.

Gleichzeitig ist es für das Land enorm wichtig, einen Präsidenten zu wählen. Nachdem bereits das Parlament seine Amtszeit eigenmächtig um 17 Monate verlängert hat, weil sich die Parteien auf kein neues Wahlgesetz einigen konnten und auch die Amtszeit des Oberbefehlshabers der Streitkräfte offiziell vor einem Jahr abgelaufen ist, scheint die Wahl eines neuen Präsidenten die einzige Möglichkeit, zumindest den Schein der Stabilität und Rechtmäßigkeit zu wahren. Doch wer steht überhaupt zur Wahl?

 

Die Kandidaten des 8. März

Aktuell stellt keiner der beiden Blöcke eine absolute Mehrheit im Parlament, weil sich die Partei des Drusen-Führers Walid Joumblatt auf keine Seite stellt. Dennoch kursieren einige aussichtsreiche Namen, die eher dem 8. März nahestehen:

Der ewige Kandidat Michel Aoun

Der Anführer der „Freien Patriotischen Bewegung“ (Tayyar al-Watani al-Horr) verfolgt seit Jahren das Ziel, Präsident zu werden – bereits von 1988 bis 1990, in den letzten Jahren des Bürgerkriegs, war er Staatsoberhaupt und Regierungschef. In dieser Zeit kämpfte er als Oberbefehlshaber der Armee blutige Kriege gegen die christliche Miliz der Lebanese Forces sowie gegen die syrischen Truppen. Zwischen Kriegsende und Abzug der Syrer im Jahr 2005, den Aoun immer wieder forderte, lebte er im französischen Exil. Seit seiner Rückkehr hat er sich jedoch schnell mit Syriens Präsident Baschar al-Assad ausgesöhnt und im Jahr 2006 eine strategische Allianz mit der Hezbollah geschlossen. Bis heute unterstützt er die Hezbollah und spricht sich dafür aus, dass sie ihre Waffen behalten soll, bis eine „dauerhafte Lösung im Nahost-Konflikt“ erreicht ist. Für ihn spricht, dass er die größte christliche Partei anführt und damit für sich in Anspruch nehmen kann, die Unterstützung der meisten libanesischen Christen zu genießen.

Der Dynastien-Spross Suleiman Frangieh Jr.

Die libanesische Geschichte ist ohne den Namen Frangieh kaum denkbar – bereits Suleimans Ururgroßvater war Distrikt-Statthalter in der französischen Mandatszeit, sein Urgroßvater Kabalan Mitglied des Parlaments, sein Großvater Suleiman Präsident von 1970 bis 1976, in dessen Amtszeit der Beginn des Bürgerkriegs fiel. Sein Vater Tony schließlich führte im Bürgerkrieg die Marada-Miliz an, bis er 1978 einem Attentat der Lebanese Forces zum Opfer fiel, mit denen Suleiman Junior bis heute überkreuz ist. Er führt die Marada-Bewegung an, die vier Sitze im Parlament innehat. Die engen Verbindungen der Familie Frangieh zum Haus Assad in Syrien datieren noch in die 1950er-Jahre zurück und haben auch während des aktuellen syrischen Bürgerkriegs noch Bestand. Ehemaliger Minister und aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat im Jahr 2007, hat Frangieh aktuell angekündigt, die Marada werde Aoun unterstützen und er selbst nur dann kandidieren, falls Aoun keine Mehrheit findet. Abstammung verpflichtet eben.

 

Die Kandidaten des 14. März

Die vom sunnitischen Future Movement geprägte Allianz des 14. März dürfte nur geringe Chancen haben, den Präsidenten zu stellen – ist sie doch entschiedener Gegner der Hezbollah, die kaum einen ihr feindlich gesinnten Präsidenten tolerieren dürfte. Dennoch gibt es auch hier mehrere Kandidaten:

Kandidat aus Prinzip Samir Geagea

Nachdem sich die Lebanese Forces nicht an der aktuellen Regierung der „Nationalen Einheit“ beteiligen, gelten sie als politisch isoliert. Nichtsdestotrotz wird ihr Anführer Samir Geagea für das Präsidentenamt kandidieren, und es ist nicht auszuschließen, dass er die Unterstützung des 14. März bekommt – als Gegenkandidat zu Aoun. Im Bürgerkrieg war er von 1986 an Anführer der Lebanese-Forces-Miliz und leidenschaftlicher Gegner von Michel Aoun – eine Feindschaft, die bis heute Bestand hat. Im Jahr 1994 wurde er für Verbrechen im Bürgerkrieg zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, als einziger der zahlreichen libanesischen Milizenführer. Mit dem Abzug der syrischen Armee 2005 kam er frei und ist seither Anführer der Lebanese Forces, die aktuell fünf Abgeordnete stellt.

Der gemäßigte Robert Ghanem

Einiges spricht für Robert Ghanem als nächster libanesischer Präsident, ein Amt, für das er bereits 2004 und 2007 kandidierte: Zwar offiziell auf der Wahlliste des 14. März, ist seine Rhetorik bezüglich der Hezbollah deutlich gemäßigter als die der meisten seiner Allianz-Kollegen. Der 72-Jährige unterhält enge Allianzen mit prominenten Politikern des 8. März, vor allem dem einflussreichen Parlamentspräsidenten Nabih Berri, ohne dessen Unterstützung kaum ein Kandidat eine Chance haben dürfte. Zudem war er während des Bürgerkriegs die meiste Zeit im französischen Exil und kann daher im Gegensatz zu den meisten anderen Kandidaten als unbefleckt und für alle Libanesen akzeptabel gelten. Dass Ghanem mit dem Amt des Präsidenten schon seit Jahren liebäugelt, ist ein offenes Geheimnis – schon 1995, also noch unter syrischer Besatzung, wurden ihm große Chancen eingeräumt, Nachfolger des umstrittenen Elias Harawi zu werden.

 

Mögliche Konsenskandidaten

Nach wie vor ist damit zu rechnen, dass am Ende der nächste libanesische Präsident doch wieder keinem der beiden großen Lager zuzurechnen ist. Die aussichtsreichsten Kandidaten dafür sind:

Kandidat des Volkes Ziyad Baroud

Jung, dynamisch und nicht vorbelastet, ist Baroud vor allem unter jungen Beirutern der große Favorit. Auf einer vom Fernsehsender LBCI eigens für die Präsidentschaftswahlen eingerichteten Website können Libanesen für ihren Lieblingskandidaten abstimmen – und Baroud ist unangefochten die Nummer 1. Der 43-Jährige verkörpert die Hoffnung auf eine neue Politikergeneration, die endlich die alten Zöpfe aus dem Bürgerkrieg abschneidet und politische Ziele jenseits des eigenen Machterhalts verfolgt. Obwohl er sowohl unter Fouad Siniora als auch unter Saad al-Hariri Innenminister war, gilt er als vom 14. März unabhängig und als derjenige, der diejenigen Libanesen erreicht, die genug haben von sektiererischen Machtkämpfen. Genau dies ist jedoch auch seine Schwachstelle: Ist das etablierte System, das aus dem Bürgerkrieg hervorging und bis heute auf konfessioneller Spaltung basiert, bereit, für seine eigene Abschaffung zu stimmen?

Favorit qua Amt Jean Kahwagi

Als Oberster General der Armee ist Jean Kahwagi für alle Enden des politischen Spektrums wählbar – gelten doch die Streitkräfte als letzte wahre „libanesische“ Instanz. Auch Michel Sleiman war General, bis er 2008 Kompromisspräsident wurde. Kahwagi genießt nicht zuletzt seit den Kämpfen gegen islamistische Gruppen im palästinensischen Flüchtlingslager Nahr el-Bared 2009 das Vertrauen der Bevölkerung – und der Politik, die vergangenes Jahr seine Amtszeit gegen alle geltenden Gesetze verlängerte. Allerdings birgt ein Präsident Kahwagi auch wieder politischen Sprengstoff – denn wer soll dann Chef der Armee werden?

Kandidat des Geldes Riad Salameh

Der Chef der libanesischen Zentralbank genießt unter Wirtschaftsleuten hohes Ansehen. Seit seinem Amtsantritt 1993 ist es ihm gelungen, die Devisenreserven seines Landes auszubauen und die libanesische Lira zu stützen. Mehrfach ist er von verschiedenen Fachblättern zum Zentralbanker des Jahres gekürt worden. Der heute 63-Jährige galt in den neunziger Jahren als Weggefährte von Premier Rafik Hariri. In den vergangenen Jahren hielt er sich mit politischen Äußerungen zurück. Das macht ihn zu einem profillosen Kandidaten – der aber genau deswegen den konkurrierenden politischen Lagern vermittelbar wäre.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes stand, dass Aoun von 1988 bis 1990 Präsident des Libanon gewesen sei. Das ist nicht richtig - der scheidende Präsident Amin Gemayel ernannte Aoun zum Ministerpräsidenten. Damit war Aoun automatisch Staatsoberhaupt und residierte im Präsidentenpalast in Baabda, jedoch nur, bis ein Nachfolger für den aus dem Amt scheidenden Präsidenten Amin Gemayel gewählt werden konnte. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...