Seit einiger Zeit hört man nichts mehr über Menschen, die auf dem Sinai gefoltert werden. Mindestens 30.000 Männer, Frauen und Kinder wurden Opfer eines grausamen Geschäftsmodells, bei dem Geiseln am Telefon misshandelt werden, um Angehörige zur Zahlung möglichst hoher Lösegeldsummen zu zwingen. In Tel Aviv, Israel, macht sich Lucia Heisterkamp auf die Suche nach Überlebenden der sogenannten „Foltercamps“.
Die Schmerzensschreie am Telefon lassen mich nicht mehr los. Bilder von Verbrennungen, Narben, abgetrennten Körperteilen. Menschenhandel auf dem Sinai zählt zu jenen Verbrechen, die in ihrer Extremität die eigene Vorstellungskraft übersteigen. Trotzdem ist der Fall in der Öffentlichkeit fast unsichtbar.
Mit dem Aufkommen des Foltergeschäfts auf der ägyptischen Halbinsel um 2009 sind immer mal wieder Reportagen und Zeitungsartikel erschienen, die von den entsetzlichen Geschichten entführter Geflüchteter erzählen. Menschen aus Eritrea, Äthiopien oder dem Sudan, die über Wochen hinweg vergewaltigt und geschlagen, mit heißem Plastik übergossen, kurz: gefoltert werden wie in einem schlechten Horrorfilm. All dies damit Eltern oder Geschwister – die die Schreie via Telefon miterleben – Summen von bis zu 50.000 Dollar für ein Ende der Schmerzen zahlen.
Heute ist das Thema ist von der Bildfläche verschwunden, als wäre es nie dagewesen. Wer Informationen zur aktuellen Situation auf dem Sinai sucht, steht vor einem Vakuum. Das Internet schweigt, Berichte beziehen sich auf den Informationsstand von 2014 oder früher.
Gibt es die sogenannten Foltercamps noch? Auf der ägyptischen Halbinsel oder vielleicht anderswo? Und wie ergeht es den Überlebenden der extremen Gewalt, die Unbeschreibliches durchlitten haben und schließlich freigelassen wurden? In der Hoffnung auf Antworten mache ich mich auf die Suche nach Betroffenen des Sinai Menschenhandels. Vier Wochen lang reise ich in die israelische Hauptstadt, wo heute etwa 7.000 Überlebende der Foltercamps leben sollen.
Perspektivlosigkeit rund um den Levinsky Park
Mitten im Hochsommer empfängt mich Tel Aviv, die junge, aufgeweckte Metropole. Eine tief entspannte Atmosphäre weht durch die Straßen: braungebrannte Menschen sonnen sich am Strand von Jaffa, hippe KünstlerInnen und Intellektuelle schlürfen Ice-Latte in den Cafés rund um die Allenby-Street. Das Bild passt nicht zu meinen Fragen.
Erst als ich den Süden der Stadt erreiche, passt sich die Szenerie meiner Stimmung an. Trostlos und öde wirkt die Atmosphäre rund um den Levinsky Park, ein Sammelpunkt für Geflüchtete aus Afrika, die mehrheitlich im Süden Tel Avivs leben. Tatsächlich treffe ich hier einige Sinai-Überlebende. Der Kontakt wird durch eine Organisation vermittelt, die vor Ort mit Geflüchteten zusammenarbeitet. Einigen von ihnen sieht man die Folgen der Foltercamps auf den ersten Blick an: Narben auf den Armen, verstümmelte Hände, glasige Augen, die hin und her zucken, als wäre der Horror noch nicht vorbei.
Ein Junge, gerade mal 18, erzählt dass er jede Nacht von Alpträumen verfolgt wird. Mehrere Wochen hat man ihn auf dem Sinai festgehalten und gefoltert. Das ist nun zwei Jahre her. „Das sind keine Menschen“, sagt er jetzt, während wir auf dem ausgetrockneten Rasen des Levinsky Parks sitzen. „Sie haben uns gequält. Uns mit Stöcken geschlagen, während sie uns kopfüber aufhingen...“ Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. „Ich kann nicht schlafen, esse nicht gut“, erklärt der junge Eritreer leise. „Ich habe Angst, um mein Leben und meine Zukunft.“
Nicht nur die Erinnerungen sind schmerzhaft, sondern auch die Gedanken an das, was noch kommt. In Israel erhält er, wie die meisten afrikanischen MigrantInnen, kein Visum; er muss illegal im Land leben, darf weder arbeiten noch eine Wohnung mieten. Alle vier Wochen muss er seine Duldungspapiere erneuern und dabei jedes Mal befürchten, ins Abschiebegefängnis Holot geschickt zu werden.
„Ich habe gar nichts. Kein Visum. Nichts. Ich habe keine Rechte in dieser Welt.“ Die Stimme des Jungen klingt hoffnungslos. Er wirkt verloren, ohne Perspektive in einem fremden Land, in dem er nicht mal rechtlichen Status erhält.
Die Resignation steht vielen Sinai-Überlebenden ins Gesicht geschrieben. „Wir leiden an Alpträumen, an vielen Dingen“, berichtet ein älterer Mann. „Die Wunden am Körper heilen langsam, aber die seelischen Wunden, die bleiben offen.“
Einige erzählen vom alltäglichen Rassismus, der ihnen immer wieder begegnet. Vom Wunsch zu studieren, der nicht erfüllt werden kann, weil das Geld fehlt. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft sind begrenzt. Und das nach der Hölle, die die Folter-Überlebenden durchlitten haben: „Nach all den Misshandlungen, den Zahlungen, nach dem Gefängnis – nach alledem auf der Straße in Tel Aviv zu sein, das sei das Schlimmste.“
„Wo ist die internationale Gemeinschaft?“ höre ich immer wieder von meinen GesprächspartnerInnen. Verzweiflung über die Untätigkeit der westlichen Welt, die das Schicksal der Geflüchteten nicht beachtet.
Manchen ist es etwas besser ergangen: zwei Straßenecken neben dem Levinsky Park treffe ich einen jungen Mann, der hier in einem Internetcafé arbeitet. Gemeinsam mit seiner Frau wurde er auf dem Sinai verschleppt. Heute hat er zwei Töchter und ist bemüht, aus seiner Situation das Beste zu machen. Das Beste das eben geht mit Schusswunden im Bauch, die ihn daran erinnern, dass er auf der Fluch aus dem Sinai an der israelischen Grenze von Offizieren beschossen wurde. „Wir hatten eine schlimme Zeit. Und jetzt leben wir mit einer ständigen Unsicherheit in Bezug auf unsere Zukunft.“
Solidarität statt Wegschauen
Es ist die Solidarität innerhalb der eritreischen Gemeinschaft, die manchen der Foltercamp-Überlebenden Halt gibt – selbst in den hoffnungslosesten Momenten. Wer früher als MigrantIn in Tel Aviv strandete – das heißt vor dem Bau der Grenzschutzmauer, die AfrikanerInnen inzwischen aus Israel fern hält –, der landete früher oder später im Levinsky Park. Die Neuankömmlinge wurden hier von anderen Geflüchteten aufgenommen.
„Jeder hilft dir, weil alle hierher kamen. Jeder kennt die Situation“, wird mir berichtet. „Irgendjemand lässt dich in seiner Wohnung leben, mit zwei, drei anderen Personen in einem Raum, weil du selbst nicht mieten darfst. Jemand gibt dir Kleidung, Essen und alles andere, bis du wieder fähig bist zu arbeiten.“
Größer könnte der Kontrast wohl kaum sein zwischen dem Zusammenhalt der Geflüchteten und dem großen Wegschauen der sogenannten Internationalen Gemeinschaft. Nur die wenigsten Sinai-Überlebenden erhalten staatliche Hilfeleistungen, leben sie doch laut dem Asylgesetz als „Eindringlinge“ in Israel. Einige nichtstaatliche Flüchtlingsorganisationen versuchen, das Vakuum für die Opfer von Folter und Menschenhandel zu füllen. Die Hotline for Refugees and Migrants leistet rechtlichen Schutz, Physicians for Human Rights-Israel hauptsächlich medizinische Hilfe, Aid Organization for Refugees and Asylum Seekers in Israel (ASSAF), eine Partnerorganisation des deutschen Vereins Desert Rose e.V., bietet vor allem psychosoziale Unterstützung.
In den vergangenen Jahren haben die NGOs immer wieder versucht, internationale Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, indem sie Berichte veröffentlichten, Informationen zum Menschenhandel an Organisationen weiterleiteten, Personen aus dem öffentlichen Leben adressierten. Warum der Fall trotzdem so wenig internationale Beachtung gefunden hat, bleibt ein Rätsel. Heute kümmern sich die Organisationen vor allem darum, die Rechte von Folteropfern in Israel zu verbessern.
Verlagerung des Phänomens
Und wie sieht es aktuell mit dem Menschenhandel auf dem Sinai aus? Viele der Befragten – EritreerInnen und MitarbeiterInnen der Flüchtlingsorganisationen – glauben, dass das Foltergeschäft nicht mehr in seinen extremen Dimensionen auf der ägyptischen Halbinsel betrieben wird. Seit die israelische Mauer zum Sinai steht, ist es allerdings schwer, verlässliche Informationen zu erhalten, weil kaum mehr Geflüchtete ins Land kommen. In einem der wenigen aktuellen Berichte zum Sinai-Menschenhandel heißt es, die Foltercamps seien Ende 2014 im Zuge von Anti-Terror Maßnahmen des ägyptischen Militärs geschlossen worden.
Stattdessen sprechen alle davon, dass sich das „Geschäftsmodell“ nach Libyen verlagert habe. Dort würden nun Geflüchtete auf ihrem Weg nach Europa festgehalten und erst gegen Zahlung von Lösegeld weitergelassen. Ein junger Mann berichtet, er habe gerade mehrere tausend Dollar für seinen Bruder gezahlt, um ihn aus der Gewalt von MenschenhändlerInnen in Libyen zu befreien. „Ich durfte nicht mit meinem Bruder reden, man sagte mir nur am Telefon, dass sie ihn umbringen würden, wenn ich das Geld nicht zahle.“
Ob das Modell in Libyen dasselbe ist wie auf dem Sinai, ob MigrantInnen weiterhin am Telefon gefoltert werden, um den Zahlungsdruck auf ihre Angehörigen zu verstärken, ob es die gleichen beduinischen Banden sind, die dort operieren – all das sind Fragen, die dringend systematischer Untersuchungen bedürfen. Und einer breiten internationalen Sichtbarmachung, damit der Alptraum, der auf dem Sinai stattfand, nicht anderswo weitergeht.
Was bleibt
Mit einem Gefühl von tiefer Fassungslosigkeit verlasse ich Tel Aviv nach vier Wochen. Dass der Horror des Sinais mir so greifbar geworden ist, dass ich mit Menschen gesprochen habe, die diesen Wahnsinn tatsächlich erlebt haben, bleibt auch nach den vielen Begegnungen unwirklich.
Wie kann es sein, dass 30 000 Menschen über sechs Jahre hinweg Opfer von schwerer Misshandlung, Folter und Mord wurden, ohne dass es zu einem Eingreifen kam? Wie kann es sein, dass die TäterInnen bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen wurden? Wieso lebt ein Großteil derer, die all das erleiden mussten, heute in Armut und Perspektivlosigkeit, vergessen von der Welt?
Die Erfahrungen in Tel Aviv erfüllen mich mit tiefer Betroffenheit. Darüber, wie weit das Böse im Menschen gehen kann und wie leicht es ist, wegzuschauen. Der Fall des Sinai-Menschenhandels ist eine der größten humanitären Katastrophen unserer Zeit. Doch auch der Umgang mit den Überlebenden ist ein Armutszeugnis für Anteilnahme, für Solidarität und Verantwortlichkeit in unserer Welt.
Ich möchte mit dem Zitat eines meiner Interviewpartner enden: „Ich bin durch die Hölle gegangen. Ich habe Menschen sterben sehen. Und ich habe überlebt. Das kann ich nicht vergessen.“ In seinem feinen Lächeln zeigt sich dabei noch ein Rest von Hoffnung. Also werde auch ich die Hoffnung nicht verlieren. Vielleicht werden die Stimmen der Sinai-Überlebenden irgendwann gehört.
Dieser Beitrag erschien auch auf der Homepage des Vereins Desert Rose e.V.
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