Am offiziellen afghanischen Unabhängigkeitstag, dem 19. August, proklamierten die Taliban 2021 ihr „freies und souveränes“ Emirat. Ist Afghanistan seitdem nun freier und unabhängiger geworden? Eine kritische Bilanz nach einem Jahr zieht Mina Jawad.
Vor etwas mehr als 100 Jahren, am 19. August 1919, erklärte der afghanische Emir Amanullah Khan die Unabhängigkeit vom „britischen Einfluss“. Zwar war Afghanistan nie offiziell Kolonie oder Teil des britischen Empire gewesen, dennoch war das Land insbesondere außenpolitisch bis dahin nicht souverän und stark von britischer Einflussnahme geprägt.
Das Timing für die Taliban hätte daher perfekter nicht sein können: Am 15. August nahmen sie Kabul ein, es fiel die Republik, die letzten NATO-Truppen waren dabei, das Land zu verlassen. In der Proklamation des Emirats wenige Tage später, am 19. August, dem offiziellen afghanischen Unabhängigkeitstag, zogen die Taliban und ihre Unterstützer:innen im Ausland dann entsprechende Vergleiche mit dem Ende des britischen Einflusses: Die Besatzung sei vorbei, der Krieg beendet. Es herrsche von nun an Frieden und Freiheit. Doch wie ist es nach einem Jahr Taliban-Herrschaft tatsächlich um die Freiheit und Unabhängigkeit Afghanistans bestellt?
Leere Versprechungen
In Afghanistan herrscht immer noch eine der schlimmsten humanitären Krisen in der Geschichte des Landes. Nach wie vor können sich über 95 Prozent der Bevölkerung nur unzureichend ernähren. Die weiterführenden Schulen sind für Mädchen weiterhin geschlossen. Zwar hat sich insofern die Sicherheitslage verbessert, als dass Reisen innerhalb des Landes inzwischen vermehrt möglich ist – nun, da die Taliban selbst offenbar keine Anschläge mehr verüben. Allerdings ist diese scheinbare Reisefreiheit stark an propagierte soziale Rollen geknüpft: Alleinreisende Frauen wird man schwerlich antreffen. Und angesichts der humanitären und wirtschaftlichen Krise ist Reisen ohnehin nur für diejenigen möglich, die es sich leisten können – also fast niemanden.
Auch Anschläge finden durchaus weiterhin statt– erst gestern starben erneut über 20 Menschen bei einem Anschlag auf eine Moschee im Norden Kabuls. Viele dieser Anschläge richten sich vor allem gegen die verfolgte Ethnie der mehrheitlich schiitischen Hazara. Die allermeisten Hindus und Sikhs haben das Land verlassen. Und die Vereinigten Staaten mögen zwar mit Bodentruppen abgezogen sein, sie haben aber noch immer die Lufthoheit über Afghanistan. Die propagierte territoriale Integrität und Sicherheit sind also mehr Schein als Sein. Der jüngste Drohnenangriff in Kabul, bei dem der Al-Qaida-Chef al-Zawahiri getötet worden sein soll, entlarvt außerdem die Lüge, dass die Taliban keinen terroristischen Gruppen Unterschlupf bieten würden.
Auch auf kultureller Ebene scheinen die Taliban ein seltsames Verständnis von Freiheit zu haben. Das Spielen von Musikinstrumenten ist verboten. Feiertage wie etwa das Neujahr Nawroz, bei dem auch religiöse Zeremonien abgehalten werden, sowie Feiertage wie Ashoura zum Gedenken an das Märtyrium des Imam Husseins und Mawlid, zum Geburtstag des Propheten Mohammed, wurden als offizielle Feiertage gestrichen. Ressentiments, die sich vor allem gegen die persischsprachige und schiitische Bevölkerung richten, obwohl die Feiertage gemeinsames Erbe der Bevölkerung sind. Die Taliban haben offenbar ein anderes Islamverständnis von der afghanischen Kultur als die Bevölkerung selbst.
Kritik an ihrem Freiheitverständnis erfahren die Taliban auch aus dem islamischen Kanon: So wirft die muslimische Frauenrechtsaktivistin Tafsir Siaposh ihnen vor, es sei nicht mit dem Islam zu vereinbaren, Menschen, die ja alle „Kinder Adams“ seien, in ihrer Würde unterschiedlich zu behandeln. Afghanistan sei daher in ihren Augen nicht nur von der Weltgemeinschaft, sondern ebenso von den Taliban verlassen worden.
Aber war's davor besser?
Zugegebenermaßen: Die gegenwärtige humanitäre Krise geht nicht nur auf die Rechnung der Taliban. Sie ist auch das Ergebnis des gescheiterten Staatsaufbaus der vergangenen 20 Jahre. Die afghanische Wirtschaft war bereits in einem miserablen Zustand, als die Taliban die Macht übernommen haben. Im Zuge des „Nationbuildings“ wurden durch die vom globalen Norden gestützten Regierungen keine nachhaltigen Strukturen, wie beispielsweise eine inländische Industrie, geschaffen. Die Wirtschaft Afghanistans hing über 20 Jahre am Tropf. Gut 45 Prozent des Bruttoinlandproduktes gingen auf das Konto ausländischer Hilfszahlungen.
Als nach dem Fall der Republik die Infusionsnadel gezogen wurde, lebte bereits die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Und schon vor dem Fall der Republik gab US-Präsident Joe Biden zudem zu, dass es in Afghanistan ohnehin nie wirklich um den Staatsaufbau ging, sondern um „Terrorismusbekämpfung“. Terrorismusbekämpfung, die über Hunderttausend Opfer auf afghanischer Seite kostete.
Zudem unterlag Afghanistan in den vergangenen Jahrzehnten offensichtlich geopolitischen Interessen und war überaus profitabel für die Rüstungsindustrie und eine NGO-Kultur, die als Sprungbett für Karrierist:innen aus dem globalen Norden diente. Sie fuhren hohe Gewinne ein, während man Afghan:innen oft genug als nicht qualifiziert genug einschätzte. Und obwohl sich die Sicherheitslage Jahr für Jahr drastisch verschlechterte, kooperierte auch die Bundesregierung mit den korrupten, klientilistischen Regierungen der Republik, um nach Afghanistan abschieben zu können.
Freiheit und Unabhängigkeit waren also auch vor der erneuten Machtübernahme der Taliban nur für einige und auf Kosten anderer zu bekommen. Macht und Selbstbestimmung war stets eine Frage der äußeren Einflussnahme, der Klassenzugehörigkeit, der ethnischen Zugehörigkeit, des Bildungsgrades, des Wohnortes und Geschlechts. Es wäre fatal zu glauben, dass die Taliban alledem ein Ende gesetzt haben. Afghanistan war weder zuvor unabhängig, noch haben die Taliban das Land befreit.
Das Ende einer Illusion
Trotz dieser Kontinuitäten war die erneute Machtübernahme der Taliban im vergangenen Jahr eine kollektive Retraumatisierung für Afghan:innen inner- und außerhalb des Landes: Abermals wurde eine Regierung gestürzt, erneut regieren die Taliban, wieder müssen die Menschen sich anpassen und Pragmatismus an den Tag legen, um überleben zu können. Eine gewisse Kontinuität der Unfreiheit und Abhängigkeit macht diese nicht leichter, sondern schwerer zu ertragen. Darüber hinaus bekämpfen die Taliban zusätzlich die Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre und werden versuchen, sie gesellschaftlich und institutionell zurückzudrehen.
Zwar waren diese Errungenschaften lediglich auf den Mikrokosmos der Städte beschränkt, doch immerhin dort konnte sich in den vergangenen 20 Jahren eine blühende Kultur- und Medienlandschaft etablieren und eine kleine Zivilgesellschaft entwickeln. Dort, in diesem Mikrokosmos, konnte eine Mittelschicht heranwachsen, für die sich Aufstiegschancen boten. Ich beweine diese junge Generation, die nun weder unter der alten Republik ihre Chance nutzen konnte, noch unter den Taliban Möglichkeiten für ihre Zukunft haben werden. Ich beweine auch die Landbevölkerung, welche die Leidtragenden der Kämpfe waren. Zivilist:innen auf dem Land, die durch Drohnenangriffe ums Leben kamen, die abseits der urbanen Räume nie in den Genuss von Freiheit und Unabhängigkeit kamen und es auch weiterhin nicht kommen werden. Denn werden die Rechte in den Städten beschränkt, so werden gewiss keine auf dem Land hinzukommen. Sicherheit auf Kosten von Freiheit ist immer noch Unfreiheit. Die Freiheit, von denen die Taliban sprechen, wird letztendlich immer nur die Freiheit derer sein, die in ihre Vorstellungen passen.
Es schmerzt, dass sich die Geschichte des Landes wiederholt, die Bevölkerung erneut vergessen und das Wissen hierzu je nach politischem Kalkül unterschlagen wird. Zur Wahrheit gehört, dass es keine Unabhängigkeit ohne Freiheit gibt. Keine Frieden ohne Gerechtigkeit. Wer den 19. August tatsächlich feiert, dem wünsch‘ ich alles Gute zum Abhängigkeitstag.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.