22.10.2016
Die tödliche Gewalt des Patriarchats – „In the Eyes of Heaven“ im Maxim Gorki Theater
Hiam Abbas spiel die Sexarbeiterin Nour in dem von Ruud Gielen inszenierten Stück „In the Eyes of Heaven“. Foto: Kurt van der Elst/Maxim Gorki Theater.
Hiam Abbas spiel die Sexarbeiterin Nour in dem von Ruud Gielen inszenierten Stück „In the Eyes of Heaven“. Foto: Kurt van der Elst/Maxim Gorki Theater.

Das Theaterstück "In the Eyes of Heaven" des französisch-marokkanischen Autors Rachid Benzine setzt ein kraftvolles Statement über die Lebenswirklichkeit von Sexarbeiterinnen und patriarchale Perversionen der Macht. Daniel Walter hat das Brüsseler Gastspiel im Berliner Maxim Gorki Theater gesehen.

Der Gouverneur und der Imam, sie beide vereint die Lust am Sadismus, an Gewalt und Erniedrigung. Sie sind nur zwei der Freier, die die Sexarbeiterin Nour regelmäßig aufsuchen. Das Gastspiel „In the Eyes of Heaven“ im Berliner Maxim Gorki Theater am 20. Oktober war als „Monolog über die Position von Frauen im Maghreb“ angekündigt und ist am Ende doch so viel mehr – ein kraftvolles Statement über die Lebenswirklichkeit von Sexarbeiterinnen und patriarchale Perversionen der Macht über Ländergrenzen hinweg.

„The country rises up and he collapses“

Nour, mitreißend gespielt von der arabisch-israelischen Schauspielerin Hiam Abbas (u.a. „Exodus“ von Ridley Scott), ist Sexarbeiterin, genau wie die weiblichen Generationen ihrer Familie vor ihr. Doch sie will es anders machen und strebt mit aller Konsequenz dahin, ihrer Tochter nach dem Internat eine gute Ausbildung zu ermöglichen.

Im dunkelroten Kleid die Bühne auf und ab wandernd, hier und da eine Zigarette rauchend, trägt Nour den Status Quo eines nicht weiter identifizierbaren arabischen Landes im postrevolutionären Zustand vor. Da sind Leichen auf den Straßen, Soldaten werden gelyncht. Nours Liebhaber, der revolutionäre Dichter Slimane, ist voller Euphorie ob des Volksaufstandes. Und die sogenannten Machthaber? Sie erscheinen in ihrem Monolog als männliche, bigotte Moralisten aus Politik und Religion. Sie alle kennt Nour nur zu genau, bei ihr lassen sie ihren Trieben freien Lauf: „The country rises up and he collapses“, der Gouverneur bekommt im Angesicht des drohenden Machtverlustes keine Erektion. So wird immer wieder der Bogen gespannt zwischen den herrschenden „Vaterfiguren“ und dem Willen des Volkes nach deren Sturz.

„Injustice anywhere is a threat to justice everywhere“

Das Brüsseler Gastspiel ist Teil des Festivals „Uniting Backgrounds – Theater zur Demokratie“ (8.-23. Oktober) im Gorki und es ist genau die tödliche Gewalt des Patriarchats, die hier zum wortwörtlich „vereinigenden Hintergrund“ wird, wie auch der in Brüssel und Kairo tätige Regisseur, Ruud Gielen, im anschließenden Gespräch hervorhebt. Es gehe nicht darum, das Problem sexualisierter Gewalt allein auf arabische Länder zu projizieren – ein gerade auch in Deutschland im Jahre 2016 immer wieder hervorzuhebendes Argument.

Zudem stellen sich die Fragen: Wie Widerstand leisten, mit welchem Sinn und in welcher Form? Lohnt es, das eigene Leben zur Veränderung der Machtverhältnisse zu riskieren? Nour und Slimane gehen auf unterschiedliche Art und Weise damit um. Sie führt uns die ganze brutale Körperlichkeit und Gewalterfahrung ihres Lebens vor, er kämpft mit der Kraft des Wortes durch Gedichte und Radiosendungen. Am Ende werden sie beide getötet – sie durch das Messer eines ihrer Freier, er durch den demonstrierenden Mob der Konterrevolution. Die Gewalt obsiegt und hinterlässt die Zuschauenden mit einem beklemmenden Gefühl und der Frage nach der eigenen Verortung im politischen Geschehen.

Rachid Benzine, der französisch-marokkanische Autor des Stücks, ist in Frankreich bekannt als Vertreter eines liberalen Euro-Islams. Und so zeigte nicht nur der tosende Beifall, sondern auch die Anwesenheit der französischen Kulturministerin Audrey Azoulay im Publikum, welche immens wichtigen Punkte das Stück in Deutschland, Frankreich, im Maghreb und Maschrek berührt. Oder, wie Hiam Abbas als Nour es mit rauchiger Stimme sagt: „Injustice anywhere is a threat to justice everywhere“.

Daniel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Er interessiert sich für internationale und Globalgeschichte, Dekolonisierung und Ideengeschichte mit einem Schwerpunkt auf Iran. Er ist seit 2015 bei dis:orient aktiv, dabei von 2016 bis 2020 im Vorstand. Für Alsharq REISE ...