18.07.2020
Partner in Crime? Deutschland und Ägypten seit 2011
IIllustration: Milad Nemati
IIllustration: Milad Nemati

Stabilität, Stabilität, Stabilität: Nach der Revolution von 2011 und einer kurzen Phase der Euphorie betreibt Deutschland am Nil knallharte Realpolitik. Wer gewinnt und wer verliert? Ein Überblick.

Dieser Text ist Teil des Dossiers „Deutsche Außenpolitik in WANA. Alle Texte des Dossiers finden sich hier. Das Projekt wurde durch das Grow-Stipendium von Netzwerk Recherche e.V. und der Schöpflin Stiftung gefördert. 

Am 11. Februar 2011 läuft im deutschen Nachmittagsprogramm gerade die Tagesschau mit einer Live-Schaltung nach Kairo, als Jubelschreie in der ägyptischen Hauptstadt ausbrechen: „Er ist zurückgetreten!“ platzt es aus dem damaligen ARD-Korrespondenten Jörg Armbruster heraus. Nach 30 Jahren Amtszeit und 18 Tagen Revolution gibt der ägyptische Präsident Hosni Mubarak auf.

„[I]ch freue mich mit den Menschen in Ägypten, mit den Millionen Menschen auf den Straßen“, erklärt Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wenig später in einer Pressekonferenz: „Ich wünsche ihnen vor allen Dingen eine Gesellschaft, die ohne Korruption, ohne Zensur, ohne Verhaftung und Folter sein wird.“ Deutschland werde Ägypten auf dem kommenden Weg unterstützen.

Freudentaumel, Transparenz, Meinungsfreiheit – neun Jahre später, hört man darüber nicht nur in der Berichterstattung über Ägypten wenig. Die Unterstützung des nordafrikanischen Landes vonseiten Deutschlands ist hingegen geblieben. Heute verbindet Deutschland und Ägypten eine „vielfältige Partnerschaft“, wie es der amtierende ägyptische Präsident Abdel-Fatah al-Sisi bei seinem zweiten Deutschlandbesuch im Herbst 2018 formulierte. Über einige Interessen, die diese Partnerschaft seit 2011 ausmachen, soll es in dieser Überblicksanalyse gehen.

Zivilgesellschaft, Kultur und Wissenschaft: Transformationspartner ohne Transformation?

Trotz der Willkür des Systems Mubarak hatte Deutschland den Machthaber, der Ägypten 30 Jahre regierte, vor allem wegen einer Eigenschaft geschätzt: seiner Verlässlichkeit. Als direkter Nachbarstaat Israels hatte Ägypten unter Mubarak den Friedensvertrag von 1979 eingehalten und sich – allein schon der großen finanziellen Abhängigkeit Ägyptens von den USA geschuldet – um gute Beziehungen mit Israel bemüht. Außerdem unterdrückte Mubarak als Teil seines Machterhalts islamistische Kräfte im eigenen Land, die man auch in Israel als Sicherheitsrisiko betrachtete.

Mit den sich abzeichnenden Umbrüchen in WANA sorgte sich Berlin um die möglichen Folgen für Israel. Bereits im eingangs erwähnten Statement der Kanzlerin am Rücktrittstag Mubaraks pochte Merkel auf die Einhaltung bestehender Verträge zwischen Israel und Ägypten – auch vonseiten der zukünftigen Regierung.

Der damalige Außenminister Guido Westerwelle (FDP) mahnte in diesem Zusammenhang in einer Regierungserklärung Mitte März 2011: „Die historischen Veränderungen in der Region dürfen nicht zu einem Weniger an Sicherheit für Israel führen.“ Die Stabilität und Demokratisierung in der Nachbarschaft Israels sei von Deutschland zu unterstützen. Denn die Umbrüche entsprächen Deutschlands „Werten wie unseren Interessen gleichermaßen.“

Während Westerwelle auch innerhalb der EU auf eine Neuausrichtung der Nachbarschaftspolitik im südlichen Mittelmeerraum pochte, regte er zu Beginn des Jahres 2011 an, mit Tunesien und Ägypten so genannte „Transformationspartnerschaften“ einzugehen. Angesiedelt beim Auswärtigen Amt (AA), sollten damit kurz- und langfristig Gelder bereitgestellt werden, um Zivilgesellschaft und Medien zu stärken, Bildungs- und Wissenschaftskooperationen auszubauen und auf dem Weg der Kulturdiplomatie gesellschaftliche Prozesse wie Jugendpartizipation  und Frauenemanzipation zu begleiten, – ein buntes Potpourri also, mit dem Maßnahmen und Projekte flexibel gefördert werden sollten.

Als Mittler mit den lokalen Partner*innen waren dafür die deutschen politischen Stiftungen, der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) und das Goethe-Institut in Nordafrika (und später auch Westasien) vorgesehen.

Ein Blick auf die Finanzen wirft allerdings die Frage auf, wie tiefgreifend die noch immer bestehenden „Transformationspartnerschaften“ waren und sind: Standen für die Maßnahmen in allen Ländern zu Beginn etwa 30 Millionen Euro jährlich zur Verfügung, waren es ab 2016 nur noch 22 Millionen Euro – obwohl mit Marokko, Libanon, Jordanien, Irak, Jemen und Libyen über die Jahre immer mehr Länder zu „Transformationspartnern“ wurden. Aktuell sind für 2020 nur noch 18 Millionen Euro für das Programm eingeplant. Daneben existiert ein zweiter Finanztopf des AAs für „Wissenschaftspartnerschaften mit Transformationsländern Nordafrika/Nahost“ mit etwa 20 Millionen Euro pro Jahr.

Zwischen 2012 und 2019 erhielt Ägypten aus beiden Töpfen mit einem Gesamtbudget von insgesamt 370 Millionen Euro etwa 32 Millionen Euro.[1] Das ist nicht Nichts. Aber für das bevölkerungsreichste WANA-Land mit mehr als 100 Millionen Einwohner*innen, Ägyptens geopolitische Lage und die in der öffentlichen Debatte zu Beginn als Musterprojekt gepriesenen Partnerschaften, auch nicht sonderlich viel.

Die inhaltliche Ausrichtung der Transformationspartnerschaften scheint heute verwässert.[2] Auf der Projektwebsite spricht man von Reformen, die einen „langem Atem“ und deswegen viel Unterstützung brauchen: „Auch dort, wo die Demokratisierung in den Partnerländern derzeit nur geringe Fortschritte macht oder zum Stillstand gekommen ist, sind die Forderungen nach Partizipation nicht verhallt.“

Das mag stimmen. Aber Berlin muss sich zumindest die Frage gefallen lassen, welchen Nutzen die Stärkung von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Kultur hat, wenn – wie in der Folge zu sehen sein wird – Verstöße gegen die Presse, Wissenschafts- und Kunstfreiheit sowie der Menschenrechte zugunsten des Mantras von Stabilität und Sicherheitspolitik geduldet werden.

Einen Vorgeschmack auf das Erstarken autoritärer Strukturen in Ägypten bekam man in Deutschland bereits im Dezember 2011:  Staatsanwalt und Polizei stellten das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Kairo auf den Kopf, es kam zu einem Sammelprozess gegen Mitarbeiter*innen der KAS und 16 weiterer NGOs. 2013 fällte das Strafgericht in Kairo sein Urteil: Zwei KAS-Angestellte wurden wegen illegalem Geldtransfer aus dem Ausland und fehlender Lizenzen zu zwei und fünf Jahren Haft verurteilt – und damit jene Mittler*innen, die einen Teil der „Transformationspartnerschaft“ verwalten sollten.

Das 2017 (nun unter der Regierung von al-Sisi) verabschiedete NGO-Gesetz und seine Neuauflage von 2019 beschneidet die Arbeit der Zivilgesellschaft immens. Das KAS-Urteil wurde 2018 revidiert, ihr Büro in Ägypten hat die Stiftung deswegen trotzdem nicht wiedereröffnet.[3]

Wirtschaftspolitik: Exportweltmeister meets Schuldenstaat

Als Präsident al-Sisi im März 2015 Regierungs- und Wirtschaftsvertreter*innen aus aller Welt vor der Kulisse des Roten Meeres willkommen hieß, erhoffte er sich von der Investitionskonferenz in Sharm El Sheikh neben Verträgen für Ägyptens marode Wirtschaft vor allem eins: Anerkennung auf der internationalen Bühne.

Fast zwei Jahre waren mittlerweile vergangen, seit Massenproteste und das Eingreifen des Militärs im Juni 2013 die Amtszeit von Präsident Mohammed Morsi vorzeitig beendet hatten. Morsis vorausgegangene Wahl zum Präsidenten 2012 hatte in Deutschland für Irritationen gesorgt. Kurz nach der Vereidigung des Islamisten Morsis war Außenminister Westerwelle im Juli 2012 nach Kairo gereist, um dessen Einstellungen abzuklopfen. Dass Morsi im Herbst 2012 bei dem kurzen Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen zur Vermittlung des Waffenstillstandes beitrug, nahm man in Berlin wohlwollend zur Kenntnis.

Zweifel an Morsi blieben dennoch. So konnte er während seines ersten (und einzigen) Berlinbesuches im Januar 2013 Kanzlerin Merkel nicht davon überzeugen, die Schuldenumwandlung von 240 Millionen Euro, die Deutschland Ägypten im August 2011 zugesagt hatte, und kurz nach Morsis Wahl ausgesetzt hat, weiter hinauszuziehen. Merkel sagte damals bei der gemeinsamen Pressekonferenz zwar, dass zur Transformation Ägyptens eine stabile Wirtschaft zählte, mahnte aber zur Einhaltung von Religionsfreiheit und Menschenrechten. Morsi stand unter Beobachtung.

Kein halbes Jahr später war Morsi gestürzt, deutsche Unternehmen in Ägypten schlossen wegen Sicherheitsbedenken ihre Betriebe und die deutsche Außenpolitik befand sich erneut in einer Zwickmühle: Wie sollte die deutsch-ägyptische Zusammenarbeit fortgeführt werden, wenn doch die Militärführung mit dem Rabaa Massaker im August 2013 verdeutlichte, dass eine politische Opposition in ihrer Vorstellung von Transformation keinen Platz hatte? Auch nachdem der Militär al-Sisi im Juni 2014 zum Präsidenten gewählt wurde, hielt sich Deutschland zunächst zurück. Eine Einladung al-Sisis nach Berlin knüpfte man an die Bedingung, dass zunächst freie Parlamentswahlen abgehalten werden müssten.

Als der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) im März 2015 schließlich zur Investitionskonferenz nach Sharm El Sheikh reiste, hatte Berlin seinen Kurs geändert: Der Minister sprach al-Sisi die Einladung der Bundesregierung aus – auch ohne abgehaltene Parlamentswahl. Mit Gabriel waren auch 35 Wirtschaftsvertreter*innen gereist, darunter auch Siemens-Vorstand Joe Kaeser. Der Konzern einigte sich mit den ägyptischen Wirtschaftsvertretern in Sharm El Sheikh auf den Bau von drei Gasanlagen und mehreren Windparks in Ägypten, den mit zehn Milliarden Euro größten Einzelauftrag seit Bestehen des Unternehmens.[4]

Die Kombination aus Siemens-Deal und dem tatsächlichen Berlin-Besuch al-Sisis im Juni 2015, der nicht ohne Zwischenfälle verlief, können als öffentlicher Wendepunkt der deutschen Außenpolitik in Ägypten betrachtet werden: Der Wille zur Stabilität hatte angesichts der Lage in Syrien, Libyen und Jemen zu einem Strategiewechsel geführt, den die ägyptische Regierung mit dem Verweis auf die Sicherheitslage im Nordsinai bekräftigen konnte – eine gekonnte Rechtfertigung, um im erklärten Antiterrorkampf Menschenrechtsverletzungen beiseite zu wischen. Bereits ein Jahr später, im April 2016, begleiteten Gabriel fast 100 Wirtschaftsvertreter*innen nach Ägypten und der Minister ließ sich zu dem viel kritisierten Ausspruch hinreißen, al-Sisi sei ein „beeindruckender Präsident“.

Aus einer Anfrage der Partei BÜNDNIS 90 / Die Grünen Ende 2019 geht hervor, dass die Bundesregierung seit der Machtübernahme des ägyptischen Militärs 2013 bis Ende Oktober 2019 Warenlieferungen und Dienstleistungen mit Exportgarantien (Hermesbürgschaften) von etwa neun Milliarden Euro und Investitionsgarantien von mehr als 805 Millionen Euro absicherte. Auch bei der Vermittlung des IWF-Kredites über 12 Milliarden Dollar an Ägypten spielte Deutschland im Jahr 2016 eine wichtige Vermittlungs- und Finanzierungsrolle. Wegen den damit verbundenen Austeritätsmaßnahmen und der befürchteten Förderung von Korruption werden die Kredite immer wieder kritisiert, sind jedoch für die Machterhaltung der al-Sisi Regierung unabdingbar.

Entwicklungszusammenarbeit: Die große Bühne

Die Entwicklungszusammenarbeit ist eine Möglichkeit, die negativen Effekte der Austeritätspolitik „abzufedern“: Ende 2014 etwa hatte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Ägypten als ein Zielland seiner „Sonderinitiative zur Stabilisierung und Entwicklung in Nordafrika, Nahost“ einbezogen. Für das Programm mit einer Laufzeit bis zum Jahr 2022 stand ursprünglich ein Gesamtbudget von 300 Millionen Euro zur Verfügung. Dazu zählt in Ägypten ein Projekt zur Stärkung der Zivilgesellschaft für eine halbe Million Euro. Den größten Anteil erhalten die von der GIZ verwalteten Projekte im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit mit fast elf Millionen Euro. Außerdem werden kleine und mittelständige Unternehmen unterstützt.

Ägypten erfährt aber auch Zuwendungen und Prestige durch die seit 2017 neuausgerichtete deutsche Afrikapolitik unter Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und dem von Kanzlerin Merkel im Rahmen der G20 ins Leben gerufenen Programm „Compact with Africa“. Letzteres zielt vor allem darauf ab, Reformen in afrikanischen Staaten auf den Weg zu bringen, damit dort Handel und Investitionen aus den Privatwirtschaften der G20 attraktiver werden. Das Programm ist wegen seines Ansatzes und seiner Effektivität umstritten. Dass Ägypten als eines der ersten zwölf afrikanischen Partnerstaaten daran teilnimmt, bietet Kairo Raum für Rehabilitierung auf den jährlichen Afrikakonferenzen in Deutschland.

Auf bilateraler Ebene hat Deutschland mit einigen der Compact-Ländern „Reformpartnerschaften“ geschlossen: Im Gegenzug für Entwicklungshilfe und Unterstützung bei der effizienten Umstrukturierung von Finanz- und Steuerwesen oder der Landwirtschaft wird erwartet, dass etwa Maßnahmen gegen Korruption durchgeführt-, Rechtsstaatlichkeit verbessert und Menschenrechte geachtet werden. Ägypten ist bisher kein „Reformpartner“.

Auf andere Weise wird Kairo aber auch so vom BMZ gefördert: Ende 2019 hatte das Ministerium mit einem 154 Millionen Euro schweren Vorhaben weitere Projekte im Bereich Energieversorgung und Wassermanagement in Ägypten angekündigt. Allein zwischen 2016 und 2018 waren bereits 330 Millionen Euro in die deutsch-ägyptische Zusammenarbeit vonseiten des BMZ geflossen.

Migration & Sicherheit

Ein mit mehreren hundert Menschen beladenes Fischerboot kenterte im September 2016 vor der Kleinstadt Rashid, 60 Kilometer östlich von Alexandria. Mindestens 200 Menschen starben, die meisten von ihnen waren Ägypter*innen. Es war nicht das erste Mal, dass eine Bootsüberfahrt von Ägypten nach Italien missglückte und Menschen ertranken.

Dieses Mal aber reagierten die ägyptischen Behörden, die dem ausgeklügelten Geschäft verarmter Fischer mit den Migrant*innen lange zugesehen hatten und riegelten Ägyptens Mittelmeerküste systematisch ab. Im November 2016 verabschiedete die Regierung ein Gesetz gegen „illegale Migration und Schmuggel“, das Verstöße mit Bußgeldern und Freiheitsstrafen bis zu lebenslanger Haft ahndet.

Das harte Vorgehen war auch als Zeichen an die EU zu verstehen, die ein halbes Jahr zuvor den Türkei-„Flüchtlingsdeal“ für sechs Milliarden Euro auf den Weg gebracht hatte. Als Transitstaat mit etwa 250.000 registrierten Geflüchteten und als Herkunftsland mit großer Bevölkerungszahl, schien das Thema Migration der ägyptischen Regierung geeignet, um sich vor Brüssel zu profilieren und in der Hoffnung auf ein ähnliches Abkommen mit Ägypten, wie es Kanzlerin Merkel im September 2016 forderte, hohe Finanzhilfen zu erhalten.

Nach dem Rashid-Bootsunglück wurde auf EU-Ebene 2017 ein „Migrationsdialog“ gestartet und ein Projekt auf den Weg gebracht, mit dem in inzwischen gewohnter Rhetorik Fluchtursachen bekämpft, Ägyptens „Migrationsmanagement“ ausgebaut und die Bedingungen für Geflüchtete in den Aufnahmeländern verbessert werden sollen. Zu den ausführenden Partnern gehören auch GIZ und das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Die für das Projekt eingeplanten 60 Millionen Euro stammen aus dem „Emergency Trust Fund for Africa“ (EUTF), dem 2015 eingerichteten EU-Instrument, dessen damit finanzierte Maßnahmen vor allem darauf abzielen, afrikanische Migrant*innen und Geflüchtete von einer Überfahrt nach Europa abzuhalten.

Auf bilateraler Ebene schloss Deutschland 2017 ebenfalls ein Abkommen mit Ägypten. Mit den Mitteln des „bilateralen Dialoges zu Migration“ sollen demnach mehr Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für vor allem junge Menschen in Ägypten geschaffen werden.

Darüber hinaus soll unter Leitung der GIZ ein „Migrationsberatungszentrum“ entstehen, das Menschen in Ägypten von der illegalen Reise nach Europa abhalten und für „freiwillige Rückkehrer*innen“ sowie für aus Deutschland abgeschobene Migrant*innen Anlaufpunkt sein soll. Ähnliche Zentren gibt es neben einzelnen Balkan-Staaten bereits in afrikanischen Ländern wie Ghana, Senegal, Tunesien und Marokko. Auch sieht das Migrationsabkommen von 2017 eine engere Kooperation zwischen deutschen und ägyptischen Sicherheitskräften in puncto Grenzschutz und Terrorismusbekämpfung vor.

In diesem Bereich wurde bereits im April 2017 ein deutsch-ägyptisches „Sicherheitsabkommen“ verabschiedet. Es schreibt Ausstattung und Ausbildungsprogramme zwischen Bundeskriminalamt (BKA), ägyptischer Grenzpolizei und Geheimdiensten fest, um etwa gegen Menschenhandel, Drogenkriminalität und illegale Migration vorzugehen und Informationen auszutauschen. Dabei war 2016 ein geplanter deutsch-ägyptischer Workshop zur Internetbeobachtung zunächst verschoben und später von deutscher Seite abgesagt worden. Wie sich herausstellte, hatte man in Berlin Bedenken, dass die darin vermittelten Techniken statt zur Terrorismusbekämpfung gegen die politische Opposition eingesetzt werden könnten.

An der Abschließung des Sicherheitsabkommens und seiner Fortsetzung änderte das nichts. Eine Kontrolle über den Missbrauch von Lehrinhalten sei „weder vorgesehen noch möglich“, erklärte die Bundesregierung 2019: Schulterzucken statt Verantwortung.

Zusammenfassung: Halbes Leid?

Als der mittlerweile verstorbene Guido Westerwelle im März 2011 vor den Bundestag trat, beschwor er: „Nicht eine autokratische Regierung macht ein Land stabil, sondern eine stabile Gesellschaft ist die Voraussetzung für die Stabilität eines Landes.“ Heute ist die ägyptische Gesellschaft noch immer weit von sozialer und wirtschaftlicher Stabilität entfernt: Seit 2014  ist die Anzahl der Ägypter*innen in extremer Armut auf über 33 Prozent gestiegen, das ägyptische Pfund hat massiv an Wert verloren und die Arbeitslosigkeit ist weiterhin hoch.

Stabil geblieben ist allein die Militär-Elite, auch weil sie von den Golfstaaten, den USA und Europa gestützt wird und sie jegliche Opposition mundtot macht. Geschätzte 60.000 politische Gefangene sollen in ägyptischen Gefängnissen sitzen, Folter und die scheinbar absichtliche Unterlassung medizinischer Hilfe sind an der Tagesordnung. Und auch in Berlin spioniert der ägyptische Geheimdienst  Oppositionelle offenbar im Exil aus.  

Trotz aller Repressionen wagten im Herbst 2019 einige Hundert Ägypter*innen, gegen die al-Sisi-Regierung auf die Straße zu gehen, nur um einer neuen Welle von Massenverhaftungen zu begegnen. Kurz darauf warb Präsident al-Sisi in Deutschland auf der „Compact with Africa“-Konferenz um weitere Institutionen, das AA mahnte ihn gebetsmühlenartig zur Einhaltung der Menschenrechte.

Wie glaubwürdig sind solche Forderungen angesichts von Kooperationsverträgen, steigender Waffenlieferungen und ausgebreiteten roten Teppichen noch? Stabilität – das scheint für die Bundesregierung heute die zunehmende Verzahnung von Wirtschafts-, Entwicklungs-, Migrations- und Sicherheitspolitik zu sein. An al-Sisi als Partner an seiner Seite kann man sich in Deutschland so schon einmal gewöhnen: Nach einer Kampagne, die jegliche Kritik untersagte, ließ die al-Sisi-Regierung 2019 für eine Verfassungsänderung stimmen. Nun könnte der Militär bis 2030 im Amt bleiben. Das wären dann 16 Jahre. Wer zynisch ist, könnte es als Trost verstehen – immerhin nur halb so lang wie Mubarak.

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[1] Information auf Anfrage beim AA. Juni 2020.

[2] Das AA erwägt aktuell, mit den Mitteln der „Transformationspartnerschaft” Projekte im „gesamten arabischen Kulturraum” zu fördern. Vorausgesetzt, sie erfüllen die DAC-Liste der OECD. Anfrage Juni 2020.

[3] Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung gab 2016 bekannt, ihr Regionalbüro „Naher Osten und Nordafrika“ wegen der Einschränkung ihrer 40-jährigen Arbeit in Ägypten nach Jordanien zu verlegen. Die Stiftung beitreibt derzeit ein kleines „Liaisonbüro“ in Kairo. Einzig verlieben in Ägypten ist damit die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD), deren Büro seit 1976 existiert.

[4] Der Mangel an Strom war unter Morsi immer wieder kritisiert worden. Seine Bereitstellung ist deswegen für die al-Sisi Regierung symbolisch und wichtig.

 

Theresa ist freie Reporterin und Fotojournalistin mit Fokus Westasien und Nordafrika. Sie hat in Marbug, Kairo und Lund studiert, sowie eine Ausbildung an der Reportageschule Reutlingen absolviert. Seit November 2019 ist sie die Koordinatorin des dis:orient-Magazins.
Redigiert von Daniel Marwecki, Magdalena Süß