25.06.2020
„Was ist das für ein Unsinn?“: Muslimische Kritik am Salafismus
Quelle: pixabay
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Sorgfältig und mit großer Sachkenntnis legt Hazim Fouad in seiner Dissertation offen: Muslimische Kritik am Salafismus ist eben doch keine Randerscheinung.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Seit Mai 2018 stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Islamwissenschaftler Hazim Fouad hält viele Vorträge zum Thema Salafismus: 2019 promovierte er an der Universität Kiel zum Thema Zeitgenössische muslimische Kritik am Salafismus. Eine Untersuchung ausgewählter Dokumente. Das Werk ist seit Dezember 2019 auch in Buchform erhältlich. Fouad, der seit 2011 auch für den Bremer Verfassungsschutz arbeitet, schreibt im Vorwort, das ihn sein Publikum oft frage, warum Muslim*innen sich denn nicht stärker gegen die Vereinnahmung ihrer Religion durch Salafist*innen positionierten. Gemäß den von ihnen proklamierten theologischen Doktrinen und ihrer politisch-ideologischen Agitation sehen sich Salafist*innen als einzig wahre Vertreter*innen des Islams. Das stellt die Geltungsansprüche anderer islamischer Glaubensrichtungen naturgemäß in Frage. Für Fouad war zwar klar: Es gibt muslimische Kritik am Salafismus. Aber von wem und wie wird sie vorgebracht? Das untersucht er in seiner Dissertation.

Die Diskursanalyse konzentriert sich auf drei Gruppen von Kritiker*innen. Auf über 300 Seiten untersucht Fouad Kritiken aus dem traditionalistischen, sufischen und modernistischen muslimischen Spektrum und ordnet diese ein. Damit legt er anschaulich dar, auf welche Weise salafistische Praktiken und ihre religiösen Legitimierungen von anderen sunnitischen Muslim*innen hinterfragt werden.

Vielfältige Kritiken

Im ersten Teil des Buches legt Fouad traditionalistische Perspektiven offen. Für seine Arbeit definiert Fouad traditionalistische Stimmen als solche, die sich theologisch vom Salafismus abgrenzen und sich einer der klassischen vier sunnitischen Rechtsschulen zuordnen lassen. Untersucht werden in erster Linie Quellen aus dem Umfeld der ägyptischen al-Azhar-Universität, aber auch Stimmen aus anderen Staaten und Kontexten, etwa Vertreter der Deobandi-Strömung aus Großbritannien.

Diesen traditionalistischen Positionen zufolge disqualifizierten sich Salafist*innen in erster Linie dadurch, dass sie sich auf islamische Quellen bezögen, ohne das traditionell etablierte Vorgehen bei der Anwendung und Interpretation dieser Quellen zu berücksichtigen. Die weitreichende salafistische Verbotskultur fuße nicht nur auf der Missachtung dieser anerkannten diskursiven Traditionen, sondern widerspräche außerdem auch einem Grundansatz, der traditionellen islamischen Rechtsprechung: Rechtsurteile hätten auch eine zeitgemäße Dimension und sollten das Leben der Gläubigen generell erleichtern, und nicht, wie durch salafistische Auslegungen proklamiert, erschweren.

Zur Untersuchung sufischer Kritik analysiert Fouad im Anschluss Positionen von Anhänger*innen des transnationalen Nazimiya-Ordens sowie des ägyptischen Azmiya-Ordens. Im Mittelpunkt der sufischen Kritik am Salafismus stehe zusammengefasst der Versuch, Anhänger*innen des Salafismus ihre Zugehörigkeit zum Islam abzusprechen und gleichzeitig die eigene Positionierung als rechtmäßig islamisch zu stärken. Die Kritik der Sufis am Salafismus falle dabei wesentlich polemischer aus als die der traditionalistischen Stimmen.

Modernistische Kritik am Islam definiert Fouad in erster Linie durch die Abgrenzung zu traditionalistischen Stimmen. Dabei ist es ihm wichtig, die Kritik nicht als generelle Religionskritik zu interpretieren: Statt Stimmen zu untersuchen, die laizistisch gegen den Islam als solchen argumentierten, bezieht sich Fouad auf Quellen, die eine Modernisierung des Islams mithilfe einer verstandsgeleiteten, humanistischen Ethik vorantreiben wollten. Beispielsweise kommt Fouad zu dem Ergebnis, dass die modernistische Kritik schwächer ausfalle als die traditionalistische und sufische. Das erklärt er damit, dass die Entstehung des modernen Salafismus für modernistische Kritiker*innen in erster Linie ein Symptom der kränkelnden muslimischen Orthodoxie sei. Anstatt den Salafismus zu bekämpfen, müsse dieses Phänomen als Ganzes adressiert werden.

„Den Islam“ gibt es nicht

Fouad macht in seiner Analyse deutlich, wie vielfältig die innerislamische Kritik am Salafismus ist und welche unterschiedlichen Islamverständnisse den verschiedenen Ansätzen zugrunde liegen. Teilweise sei die Kritik am Salafismus sogar der kleinste gemeinsame Nenner der untersuchten Strömungen. Seine differenzierte Untersuchung zeigt wieder einmal, dass Gleichsetzungen und Vereinfachungen, die Muslim*innen als homogene Gruppe konstruieren wollen, keiner tiefer gehenden Auseinandersetzung standhalten. Entsprechende Feindbilder, die oft auch in sogenannten „islamkritischen“ Publikationen verbreitet werden, entkräftet der Autor damit.

Fouad arbeitet sehr reflektiert: Weder negiert er neben den politisch-ideologischen die religiösen Elemente des Salafismus, noch lässt er die von ihm untersuchten Kritiken am Salafismus ohne Einordnung im Raum stehen. Stattdessen hinterfragt er auch die Argumentationsmuster und Machtpositionen der Kritiker*innen im Diskurs und bezieht Entgegnungen salafistischer Gelehrter in die Analyse mit ein. Auch macht er immer wieder deutlich, dass nicht nur Salafist*innen den „Westen“ als Feindbild generierten, sondern dass auch manche Sufis und traditionalistische Stimmen dieses Bild gerne bedienten.

Umfangreiche Quellen

Fouads Untersuchung erfüllt den selbst gesetzten Anspruch, zentrale Akteursgruppen und Argumentationsmuster muslimischer Kritik am Salafismus offenzulegen und diese Kritik einer ersten Systematisierung zu unterziehen. Seine Quellenauswahl ist umfangreich und vielfältig und beinhaltet sowohl Textbücher als auch Youtube-Videos, wie beispielsweise Aufzeichnungen von TV-Duellen.

Dennoch bleibt sie notgedrungen selektiv, was Fouad auch selbst anerkennt. In Anbetracht der gewählten, qualitativ forschenden Herangehensweise und Fouads transparenter Darstellung ist dieses Vorgehen jedoch vertretbar. Auch seine idealtypische Kategorisierung der Kritik reflektiert Fouad und erkennt selbst an, dass die von ihm vorgenommene Ordnung der Kritik in der Realität nicht immer trennscharf durchzuhalten sei und es bisweilen Überschneidungen gäbe.

Trotz seiner Wissenschaftlichkeit und gelegentlich ausschweifender Darstellungen über historische Hintergründe, ist das Buch gut lesbar. Fouad schreibt anschaulich und schafft es so, die komplexen Inhalte verhältnismäßig niedrigschwellig zu vermitteln. Das Buch ist daher auch für an der Thematik interessierte Laien ein Gewinn. Bisweilen muss man bei der Lektüre sogar schmunzeln, wenn Fouad besonders greifbare Zitate der Salafismuskritiker* innen herausstellt: Da fragt ein Traditionalist schon einmal: „Was ist das für ein Unsinn?“ oder fordert ein sufischer Gelehrter die „Mülltonne“ für das „Gerede dieser Idioten“. Und ein modernistischer Kritiker stellt trocken fest, manche salafistische Praktiken machten diese zu einem „Fall für den Psychiater“. 

Analytische Stärke – theoretische Schwäche

Einzig der theoretische Rahmen des Buches wirkt neben der fundierten Analyse etwas holzschnittartig. In Abgrenzung zu Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ und gemäß einer Kritik des Friedensforschers Dieter Senghaas an Huntington, interpretiert Fouad die innermuslimische Kritik am Salafismus als einen „Kampf innerhalb von Kulturen“.

Dieses Framing wirkt trotz einiger theoretischer Erweiterungen recht konstruiert. Das liegt nicht nur daran, dass Huntingtons Thesen schon vielfach kritisiert, diskutiert und erweitert wurden und die wissenschaftliche Debatte diesbezüglich schon recht „abgegrast“ wirkt. Fouads Zugang ist hier also nicht sonderlich innovativ. Darüber hinaus werden eine Vielzahl großer Begriffe wie Staatlichkeit, Kultur und Religion aufgeworfen und im Laufe der Analyse nicht immer trennscharf verwendet.

Die Theorie wirft so bisweilen mehr Fragen auf, als sie beantwortet und der theoretische Rahmen lenkt damit eher von den zentralen inhaltlichen Aussagen des Buches ab, als dass er zu ihnen hinführt. Das ist insbesondere deshalb schade, weil Fouads Untersuchung – gemäß der angewandten Methodik der Grounded Theory  [1]– auch ohne die theoretische Einbettung die nötige Argumentationskraft entfaltet. Die Relevanz des Themas ergibt sich aus der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung, ein aktuellerer sowie konkreterer theoretischer Rahmen hätte der Arbeit daher gutgetan.

Nichtsdestotrotz ist das Buch lesenswert. Fouads Kategorisierung und Analyse muslimischer Kritik am Salafismus bilden einen gelungenen Aufschlag und laden zur weiteren Untersuchung des Themas ein. Beim Lesen des Buches wird außerdem deutlich, wie notwendig eine differenzierte Perspektive, sorgfältige Ausarbeitungen und das Wissen um Machtpositionen und –Räume für die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Islam-Islamismus-Salafismus ist. Das gilt insbesondere auch für die Arbeit von Sicherheitsbehörden, die stets Gefahr laufen, gemäß einer Logik der Versicherheitlichung nicht ausreichend differenzierte Entscheidungen zu treffen. Inwieweit die Erkenntnisse von Forschungen wie Fouads in die Arbeit des Verfassungsschutzes einfließen werden, bleibt abzuwarten.

Fouad, Hazim (2019): Zeitgenössische muslimische Kritik am Salafismus. Eine Untersuchung ausgewählter Dokumente. Baden-Baden: Ergon Verlag, 391 Seiten.

 

[1] Grounded Theory beschreibt eine (sozial)wissenschaftliche Methodik, in der mithilfe der abwechselnden Sammlung von Daten und deren Auswertung neue theoretische Erkenntnisse oder Systematisierungen vorgenommen werden sollen.

 

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.
Redigiert von Bodo Weissenborn, Anna-Theresa Bachmann, Johanna Luther