Während die Welt gebannt auf Syrien blickt, steht das Leben im Libanon still: Eine Anschlagsserie erschüttert das Land, das zudem politisch wie wirtschaftlich auf der Stelle tritt. Die Armee reibt sich immer wieder in Scharmützeln auf. Doch hat der politische Stillstand auch sein Gutes: Er macht zumindest einen erneuten Bürgerkrieg bis auf Weiteres unwahrscheinlich.
„Es gibt eine Menge Straßensperren“, erzählt Habib, „aber das ist gut so, damit halten wir die Terroristen fern und sind zumindest in unseren Gebieten sicher. Die ganze Situation hier ist trotzdem beängstigend.“
Mit der „ganzen Situation“ meint der 25-jährige aus Jounieh nördlich von Beirut das Leben in seinem Land. Und auch wenn er sagt: „Es ist der Libanon, wir sind das gewohnt“, so hat sich die Lage doch drastisch zugespitzt, eine Woche nach den verheerenden Anschlägen in Tripoli. In der zweitgrößten libanesischen Stadt hatten zwei Autobomben 45 Menschen in den Tod gerissen, fast 500 wurden verletzt. Es waren die größten Anschläge seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990, und der vorerst traurige Höhepunkt einer dramatischen Entwicklung: Eine Woche zuvor, am 15. August, hatte eine Autobombe im Süden Beiruts 23 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Bereits am 9.Juli waren bei einem Anschlag ebenfalls im Beiruter Süden fast 50 Menschen verletzt worden.
Das Muster dieser Serie war dabei zunächst verwirrend: Die ersten beiden Autobomben explodierten in einem schiitischen, von der Hizbollah dominierten Gebiet. Die Anschläge wurden weithin als Vergeltungsmaßnahmen für die Beteiligung der „Partei Gottes“ am syrischen Bürgerkrieg interpretiert, in dem die Miliz auf der Seite des Assad-Regimes kämpft. In einem Bekennervideo, das nach dem zweiten Anschlag auftauchte, übernahm eine bislang unbekannte Terrorgruppe mit dem sunnitisch anmutenden Namen Brigade von Aisha, Mutter der Gläubigen die Verantwortung für die Anschläge. In Tripoli dagegen explodierten die Autobomben zur Zeit des Freitagsgebetes vor sunnitischen Moscheen. Zunächst sah alles nach einer Racheaktion der Hizbollah aus; die jedoch sprach umgehend den Opfern und deren Angehörigen ihr Beileid aus und wies jegliche Beteiligung von sich.
Im Libanon wurde schnell vermutet, dass die drei Anschläge miteinander zusammenhingen und die Destabilisierung des Zedernstaates zum Ziel hatten. So zeigten mit der Zeit immer mehr anklagende Finger nach Damaskus – Syriens Regime, so der Verdacht, wolle im Libanon sektiererische Kämpfe lancieren, um die Hizbollah, nun auch an ihrer „Heimatfront“ bedroht, noch stärker in den Überlebenskampf des Assad-Systems mit einzubeziehen. Tatsächlich wurden Medienberichten zufolge mittlerweile fünf Männer angeklagt, hinter den Anschlägen von Tripoli zu stecken. Darunter ist ein Offizier des syrischen Geheimdienstes aus Tartus, der die Autos präpariert haben soll, und auch ein freier Journalist, der gelegentlich für den Hizbollah-TV-Sender al Manar arbeitet.
Die umgekehrte Lesart – nämlich die der Anhänger des syrischen Regimes – wirft den Geheimdiensten der Golfstaaten eine Verwicklung in die Anschläge vor. Diese schürten die konfessionellen Grabenkämpfe im Libanon, um die Hizbollah als Konfliktpartei in Syrien entscheidend zu schwächen. So oder so, das typische Spekulieren um „Motives and Mysteries“, bei dem die Libanesen wie nach jedem Anschlag mangels jeglichen Beweises wild über mögliche Täter fachsimpeln, hat schon längst begonnen.
Die Armee gerät zwischen die Fronten
Währenddessen nimmt die Bewaffnung nicht-staatlicher Akteure weiter zu. Bereits seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs vor mehr als zwei Jahren haben sich die Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern Assads in Tripoli verschärft.Hier sind in der Zwischenzeit sowohl sunnitische als auch alawitische Milizen oder Bürgerwehren entstanden, welche die von ihnen beanspruchten Gebiete sichern.Doch mittlerweile bereiten sich auch andere Gegenden auf eine Gewalteskalation vor: Im Beiruter Süden hat die Hizbollah Straßensperren errichtet, christliche Gruppenrund um Jounieh tun es ihr gleich.
Die Gewährleistung der allgemeinen Sicherheit ist eigentlich die Aufgabe der libanesischen Armee. Allerdings gerät die immer mehr zwischen die Fronten – wie am gestrigen Freitag, als sie in ein Feuergefecht in Tripoli geriet, oder bei ihren blutigen Zusammenstößen mit Anhängern des radikalen salafistischen Predigers Ahmad al-Assir in Saida im Juni. Unterfinanziert, unzureichend ausgebildet und schlecht ausgerüstet, hatte sie noch nie seit Ende des Bürgerkriegs das Gewaltmonopol im Land, geschweige denn ausreichend gesellschaftlichen Rückhalt. Auch wenn Analysten in ihr immer wieder die einzige „neutrale“ Instanz im Land sehen, hinter der sich das Volk versammeln und die der Westen unterstützen solle, so ist sie doch längst nur mehr Spielball der Ereignisse.
Die Politik ist blockiert
Hinzu kommt, dass die Armee schon seit Monaten keinen legitimen Anführer mehr hat, nachdem Oberbefehlshaber Jean Kahwaji das gesetzliche Rentenalter erreicht hat. Er führt das Amt dennoch aus, da das Parlament keinen Nachfolger nominieren konnte. Das gleiche gilt für die gesamte libanesische Regierung: Nach dem Rücktritt des Premierministers Najib Mikati im März konnte sein designierter Nachfolger Tammam Salam bis heute keine Regierung bilden. Das Parteienbündnis des 14. März, unter der Führung des sunnitisch dominierten Future Movement, blockiert jede Regierung unter Beteiligung der Hizbollah. Die wiederum blockiert jede Regierung, in der sie nicht beteiligt wird, und die größte christliche Fraktion, das Free Patriotic Movement um Michel Aoun, hält ohnehin das ganze Parlament für illegitim.
Denn eigentlich hätten im Juni Parlamentswahlen stattfinden sollen. Nachdem sich aber die verschiedenen Seiten auf kein neues Wahlgesetz einigen konnten, kamen die Abgeordneten das letzte Mal im März zusammen, um ihre Amtszeit um 17 Monate bis November 2014 zu verlängern. Seitdem geben sich alle Seiten gegenseitig die Schuld am politischen Stillstand, wohl wissend, dass niemand von einem Kompromiss profitieren würde – außer natürlich der libanesischen Bevölkerung, aber deren Wohl hat im Treiben der Parlamentarier bislang noch selten eine Rolle gespielt.
Die Wirtschaft stagniert
Eine unfähige Armee, eine lediglich kommissarische Regierung und nun auch noch eine Serie von Anschlägen – all das wirkt sich auf das Leben im Land aus: „Es fahren weniger Autos auf den Straßen, niemand traut sich mehr in Einkaufszentren, auch die Hotels, Restaurants, Bars sind leer. Es gibt kein anderes Gesprächsthema mehr als die Anschläge“, erzählt Robert (26) aus Beirut. Der für das Land so wichtige und langsam wieder aufblühende Tourismus ist zum Erliegen gekommen; auch das deutsche Auswärtige Amt hat seine Reisewarnung verschärft, und selbst innerhalb des Landes verreist kaum noch jemand.
Dabei stagniert die Wirtschaft ohnehin: 2012 erwirtschaftete das Land ein Außenhandelsdefizit von 14 Milliarden Euro; bei einer Staatsverschuldung von 140 Prozent des BIP sind auch keine großen Spielräume für wirtschaftliche Maßnahmen vorhanden – abgesehen davon, dass es ohnehin keine Regierung gibt, die diese beschließen könnte. Medienberichte, wonach den Beamten ab Anfang September kein Gehalt mehr ausgezahlt werden könne (wovon ein Fünftel der Bevölkerung betroffen wäre, Angehörige mit eingerechnet), verschärfen die Lage zusätzlich. Selbst das Banken- und Finanzwesen, der einzige traditionell starke Wirtschaftszweig, droht durch Kapitalflucht und niedrigere Kredite im Zuge der Syrienkrise in Gefahr zu geraten. Die ungeheure Vielzahl der syrischen Flüchtlinge, die auf den libanesischen Arbeitsmarkt drängen, die Löhne senken und die Preise in die Höhe treiben, tut ihr übriges.
Zu allem Überfluss hat die Hizbollah angekündigt, Israel angreifen zu wollen, wenn der US-Einsatz in Syrien die Absetzung Baschar al-Assads zum Ziel habe – eine Ankündigung mit viel Spielraum, doch für die Hizbollah geht es dieser Tage nicht nur materiell, sondern auch ideologisch um alles. Dazu passen Berichte, nach denen die Hizbollah sich auf Anordnung Irans bis zum Dezember aus Syrien zurückziehen will. Ob sie militärisch und personell überhaupt stark genug ist für einen Zwei-Fronten-Krieg in Syrien und Israel, sei dahingestellt – Israel nimmt die Warnung jedenfalls ernst.
Die Zahl der israelischen Aufklärungsflüge über dem Libanon nimmt zu, zudem drangen am 7. August vier israelische Soldaten auf libanesisches Gebiet vor (und verletzten sich dabei). Zugespitzt hat sich die Lage, als am 22. August vermutlich im Libanon lebende Palästinenser vier Katjuscha-Raketen auf Israel abfeuerten. Aus den innerlibanesischen Kämpfen halten sich die geschätzt 400.000 palästinensischen Flüchtlinge im Land bisher jedoch heraus. Israel flog einen Vergeltungsangriff auf ein palästinensisches Flüchtlingslager im Libanon.
Bei all dem hallt die Ankündigung Baschar Al-Assads nach, bei einer Militärintervention des Westens „die Region explodieren zu lassen“. Und es ist bisher schwer abzuschätzen, wie sich die zahlreichen ausländischen Akteure im Libanon nach dem Eingreifen der USA in Syrien verhalten werden. Wird der Libanon einmal mehr zum Schlachtfeld des Nahen Ostens, wie schon so oft in seiner Geschichte? Bislang scheint zumindest ein erneuter libanesischer Bürgerkrieg noch ausgeschlossen: Noch kann es keine Gruppe im Land mit der Hizbollah militärisch aufnehmen. Und es ist gut, dass auch diese Straße blockiert ist – wie derzeit so viele im Libanon.