16.07.2020
Antisemitismus-Debatte: (Post-)migrantische Stimmen zulassen
In Debatten um Israelkritik und Antisemitismus fehlen die Graustufen. Foto: OpenClipart-Vectors (pixabay.com)
In Debatten um Israelkritik und Antisemitismus fehlen die Graustufen. Foto: OpenClipart-Vectors (pixabay.com)

Während Feuilletonist*innen aller politischer Couleur die Antisemitismusvorwürfe gegen Achille Mbembe eifrig kommentieren, halten sich Autor*innen mit WANA-Bezügen zurück – aus Angst, diffamiert zu werden. Ein Gastbeitrag von Sonja Hegasy.

Es sind schon über 150 Artikel und trotzdem werden es täglich mehr. Seit dem 19. März sammelt der Islamwissenschaftler Serdar Güneş unermüdlich alle deutschsprachigen Beiträge zur Causa Achille Mbembe auf seinem Blog. Mit den Antisemitismusvorwürfen gegen den angesehenen Philosophen aus Kamerun sind auch die gesamten postkolonialen Studien unter Beschuss geraten. Doch trotz der Menge an Artikeln zum Thema: Unter den Feuilletonist*innen sind weniger als eine Handvoll Autor*innen mit Kulturhintergrund aus Westasien oder Nordafrika. Warum beteiligen sie sich mit ihren Perspektiven auf die Region nicht an der Debatte? Kann es sein, dass auch sie befürchten müssen, mit der Antisemitismuskeule erschlagen zu werden?

Kritik an der Politik des Staates Israel wird zunehmend unterstellt, antisemitisch zu sein. Dazu wird auf den Beschluss des Bundestags zu BDS und die „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verwiesen. Sie lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.“

2017 hatte die Bundesregierung beschlossen, dass diese Definition politisch unterstützt werden solle. Die Umsetzung wurde den einzelnen Ressorts überlassen. Seitdem geistert diese Implementierungsabsicht durch viele Entschließungen bundesdeutscher Institutionen und Anträge im Bundestag. Dabei kommt Kritik am Staate Israel in der Definition expressis verbis gar nicht vor, wie oben deutlich wird. Vielmehr folgt israelbezogener Antisemitismus im Anschluss als eine – von elf – Illustrationen.

Und: Dass Kritik am Staate Israel antisemitisch sein kann, aber nicht sein muss, hält die Allianz gleich an erster Stelle mit den Worten fest: „Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen: Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“

Nun gibt es alle möglichen Arten von Kritik in und an anderen Ländern – der Rahmen für nicht-antisemitische Kritik am Staate Israel wäre also breit gesteckt. Dennoch achtet heute kaum noch jemand auf diese Ausführungen zur Definition. Manche verhalten sich unbewusst so (was aber für einen Bundestagsbeschluss fahrlässig ist), weil sie sich die Definition nicht im Original anschauen. Andere differenzieren ganz bewusst nicht, weil sie es darauf anlegen, jegliche Kritik an israelischer Politik auszuschalten – egal von wem sie kommt.

Urplötzlich und unerwartet wurde nun der bis dato in Deutschland mit vielen Preisen ausgezeichnete Historiker, Achille Mbembe, unter anderem Träger des Geschwister-Scholl-Preises, unter Antisemitismusverdacht gestellt. Hatte die Bundeszentrale für politische Bildung 2016 eine günstige Lizenzausgabe seines Werks „Kritik der schwarzen Vernunft“ herausgebracht, weil sie keine andere Stimme aus dem Globalen Süden gefunden hat? Las die Jury der Gerda-Henkel-Stiftung 2018 seine Schriften nicht gründlich genug, bevor sie ihm den Preis verlieh? Nein, nicht die Preiswürdigkeit Achille Mbembes hat sich heute geändert, sondern der Kontext – und dies nicht zufällig, sondern durch eine gezielte Umwertung von Begriffen.

Palästinensische Erinnerung an den Holocaust

In der Debatte um Mbembe wird immer wieder auf den Gründer der postkolonialen Studien verwiesen: Edward Said. Bis zu seinem Tod 2003 war der bekannte Kulturkritiker als Literaturwissenschaftler an der Columbia Universität tätig. „Wir müssen die Wirklichkeiten des Holocaust anerkennen; nicht als Blankocheck für Israelis um uns zu misshandeln, aber als ein Zeichen unserer Humanität, unserer Fähigkeit Geschichte zu verstehen, unserer Forderung nach gegenseitiger Anerkennung unseres Leidens“, schrieb Said 1998 in der panarabischen Zeitung al-Hayat. Said wählte die 1946 gegründete Tageszeitung1, um über 50 Jahre nach Ende des Holocausts in der arabischsprachigen Welt für mehr Empathie mit den Opfern der Schoah zu werben.

Am Text allein könnte man Saids Diktum als instrumentelles Verhältnis zur Schoah interpretieren: Ich erkenne dein Leiden an, wenn du meines anerkennst. Aber so hatte er es nicht gedacht. Sein Wirken entstammt einem zutiefst humanistischen Ansatz, der in seinen Schriften und Taten zum Ausdruck kommt. Wie kann Zeit-Autor Jens Jessen zu dem Schluss kommen, dass schon Saids Person genüge, um dem Postkolonialismus „einen Grundaffekt gegen Israel zu beglaubigen“? Vielmehr ließe sich Said doch heranziehen, um dem Postkolonialismus eine ungebrochene Hingabe für eine friedliche Lösung des Konflikts zu attestieren.

Umkämpfte Geschichte

Deutschland war bislang – zurecht – stolz auf die schwer erkämpfte Erinnerungskultur des Landes. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Neue Rechte sich ihrer entledigen will. Aleida Assmann und Susan Neiman haben sich frühzeitig in diese Debatte um Mbembe eingeschaltet. Als herausragende Wissenschaftlerinnen, die an deutschen Institutionen zum Umgang mit Geschichte und Erinnerungskultur forschen, sehen sie in Mbembes Äußerungen weder Holocaustrelativierung noch Antisemitismus.

Interventionen wie die von Assmann und Neiman sind auch aus anderen Gründen wichtig, denn sie sind stellvertretende Stimmen. Wer aus welcher Position für wen spricht ist von zentraler Bedeutung in allen Debatten, in denen sich eine Gesellschaft über ihre kulturellen – und darunter fallen auch die erinnerungspolitischen – Grundlagen verständigt. Wie sollen wir Deutsche mit arabischem oder islamischen Kulturhintergrund uns hier einmischen, ohne unter den niederschmetternden Generalverdacht gestellt zu werden, antisemitisch zu sein?

Wir lesen mit, aber wir sprechen fast nicht in dieser Debatte, wie man nicht nur an Güneş‘ Liste sieht. Kolleg*innen aus WANA haben mir das in vielen Gesprächen bestätigt. Es herrscht Angst, Zielscheibe zu werden und vor allem: mit Absicht missverstanden und diskreditiert zu werden.

Die Erinnerungsgemeinschaft an den Holocaust ist heute eine weltweite. Damit kommentieren auch globale Stimmen wie Mbembe und andere. Viele – auch ich – halten diese globale Erinnerungsgemeinschaft für eine bundesdeutsche Errungenschaft. Dass Kommentator*innen dazu ihre eigenen Kontexte einweben, ist logisch.

Die Debatte und das Diskussionsklima in Deutschland aber regen bisher in keiner Weise dazu an, dass sich (post-)migrantische Stimmen einmischen. Das ist übrigens ein Ziel, das Aleida Assmann verfolgt.

1 Zum Entsetzen aller Liberaler in der Region wurde die Tageszeitung al-Hayat nach fast 75-jährigem Bestehen dieses Jahr eingestellt.

 

 

Prof. Dr. Sonja Hegasy ist Islamwissenschaftlerin und stellvertretende Direktorin des Berliner Leibniz-Zentrums Moderner Orient (ZMO). Derzeit lehrt sie Zeitgeschichte des Nahen Ostens und postkoloniale Theorie an der Barenboim-Said Akademie in Berlin.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht; Henriette Raddatz