26.09.2018
Chouftouhonna - feministische Strategien für postkoloniale Kontinuitäten


Vom 6.-9. September fand zum vierten Mal das internationale feministische Kunstfestival Chouftouhonna[1]in Tunis statt. Rund 1000 Besucher*innen zählte das Event pro Tag. Auf dem Programm: plastische und darstellende Kunst, ein Kunsthandwerksmarkt, dazu vier Konferenzen. Darunter Beiträge aus verschiedenen Ländern, 80 der ausstellenden Künstler*innen waren vor Ort. Chouftouhonna - ein Ort der Sichtbarkeit, ein Ort der gelebten Intersektionalität, ein Ort der postkolonialen Vernetzung?  Leonie Nückell hat das Festival besucht.

Chouftouhonna - das bedeutet im tunesischen Dialekt „ihr habt sie gesehen.“ Als Frage formuliert kann es auch „habt ihr sie gesehen?“ heißen. Dabei steht „sie“ im femininen Plural. Im Bezug auf das Festival steht Choutouhonna also für die Sichtbarkeit von Frauen* in Kunst und Politik. Allerdings: Diesen Ausdruck flüstern sich auch Typen gegenseitig zu, und machen ihre Kumpels auf die Frauen* aufmerksam, denen sie auf der Straße hinterherpfeifen. Darin besteht ein Teil der Selbstironie des Festivals, dessen Name zum Wortspiel wird: Es eignet sich eine sexistische Praxis an und kehrt ihre Bedeutung um, macht sie zu einem Moment des Empowerments. Das Konzept ist einfach: eine internationale Zusammenkunft von Künstler*innen, die sich zeigen, die sich ausdrücken, die das Wort ergreifen und den Raum gestalten. Die einzige Voraussetzung für eine Teilnahme ist, weiblich sozialisiert zu sein. Männlich Sozialisierte dürfen unterstützen oder als Gast vorbeischauen.

Seit dem letzten Jahr findet das Festival nicht mehr im Banlieue Carthage, einem poshen Stadtteil im Norden von Tunis am Stadtrand statt. Carthage und die umliegenden Gebiete sind Orte, an denen sich Hipster-Studis zum Kaffee treffen und fast nur noch Französisch gesprochen wird; wo ein feministischer, manchmal provozierender und LGBTQI*-bejahender Diskurs einfach ist. Von dort ist das Festival umgezogen ins Herz des Innenstadtviertels Halfaouine, am Rande der Medina, die für ihre eher konservativ-traditionelle Einwohnerschaft bekannt ist.

Das Festival ist nun umgeben vom belebten Lebensmittelmarkt, der Moschee und einem Männercafé, dessen Stammgäste sich in ihrer Jugend vielleicht selbst „chouftouhonna?“ zugeflüstert haben. Jetzt ist das Viertel von Festivalbesucher*innen und Künstler*innen bevölkert. Der Ort bietet ihnen die Möglichkeit, Vorurteile gegenüber traditionelleren Gegenden Tunesiens abzubauen und mit verschiedenen Menschen ins Gespräch zu kommen. Eine Gruppe von Mitarbeiterinnen des Festivals interviewt gezielt die Stammgäste und fragt, wie sie zum Festival stehen. Vereinzeltes Laufpublikum durchstreift die Räume der Ausstellung. Chouftouhonna ist in die Mitte der Gesellschaft gezogen.

Chouftouhonna – Ort der nationalen und internationalen Vernetzung

Chouftouhonna steht für einen postkolonialen, intersektionalen Feminismus. Die Herkunft der Beitragenden spiele keine Rolle, wie Bochra Triki mitteilt, Vorstandsvorsitzende des feministischen Vereins Chouf, der das Festival organisiert. Lediglich auf die Qualität eines Beitrags käme es an. „Es stand im Raum ein Festival nur mit Frauen* des globalen Südens zu machen, aber wir wollten so viel Diversität wie möglich. Wir wollen Menschen aus komplett unterschiedlichen Kontexten zusammenbringen. Das heißt auch Feministinnen aus dem Norden, die etwas privilegierter sind,“ sagt Bochra und fügt hinzu: „Wir übernehmen die Kosten für Anreise und Unterkunft der Künstler*innen, damit auch Menschen kommen können, die es sich sonst nicht leisten könnten. Doch alles was wir tun können, ist den Ort zur Verfügung zu stellen. Den Rest müssen die Leute selbst machen.“

Neben der Internationalität sei Chouftouhonna ein Treffpunkt für die neue feministische Szene Tunesiens. Vereine wie der Kulturverein Tfannen, das feministische Autorinnenkollektiv Chaml  und die Umweltorganisation Zero Waste Tunisie sind vor Ort, unterstützen als Einzelpersonen oder tragen das Konzept als Verein mit. Wie Bochra hinzufügt, „sind in diesem Jahr auch Feministinnen der alten Generation gekommen.“ Das freue sie besonders. Die autonome Frauen*bewegung der 1980er Jahre hatte als erste öffentlich den bourgibischen Staatsfeminismus in Frage gestellt und gefordert, dass sich seine fortschrittliche Gesetzgebung vom Papier in die Köpfe der Menschen pflanze und tatsächlich die Geschlechterrollen aufbreche.[2] „Ich sehe viele Parallelen zwischen Chouftouhonna und dem Club Tahar Haddad,[3] ergänzt Rachida Ennaifer, eine damalige Aktivistin des Clubs, während der Konferenz Feministische Wege in Kunst und Politik in Tunesien aus dem Publikum. „Auch wir waren in der Medina, auch wir haben den kulturellen Ausdruck gewählt, auch wir haben das Tabu der Sexualität versucht aufzubrechen.“

Feministische Bewegungen im Fokus kolonialer Realitäten

Die damalige Bewegung hatte unter anderem mit dem Vorwurf der „Verwestlichung“ zu kämpfen. Dies ist eine patriarchale Abwehrstrategie um feministische Forderungen innerhalb ehemals kolonisierter Länder zu verunglimpfen und patriarchale Ordnungssysteme zu erhalten. So wird den Aktivistinnen zugeschrieben, ausschließlich westlichen Ursprungs zu sein und somit fern der eigenen kulturellen Authentizität. Die Feministinnen der 1980er Jahre sahen sich permanent dem Vorwurf ausgesetzt, die kulturell eigenen Bedingungen zu ignorieren und somit Tunesien westlich machen zu wollen. Diese Angriffe führten innerhalb der Bewegung zu Diskussionen über die „richtige“ Ausdrucksweise sowie Themenwahl und trieb die Feministinnen an den Rand ihrer Handlungsfähigkeit.

Der Kolonialismus bot dem Patriarchat also eine Ausrede, um eine Dualität zwischen dem vermeintlich Eigenen und Fremden zu kreieren und Individuen aufzufordern, sich der gesellschaftlichen Ordnung zu unterwerfen. Das setzt sich bis heute fort und macht ein internationales feministisches Festival in einer ehemaligen Kolonie ebenso interessant wie spannungsreich.

Der Mechanismus von Zuschreibung funktioniert aber auch aus der anderen Richtung. Indem Feminismus als eine Erfindung des Westens angenommen wird, schafft sich die weiße[4] mittelständische Frau* ihr Anderesin der „average third-world woman“, der sie sich selbst als vermeintlich emanzipierte Frau* überlegen fühlen kann und die sie mit Mitteln und Wegen des weißen westlichen Feminismus befreien möchte. Sie gibt damit einen Weg vor, der als alleiniger zur universalen Befreiung der Frau* führe und ignoriert die verschiedenen Hintergründe, Gegebenheiten, historischen Entwicklungen und vor allem die Stimmen der Frauen* vor Ort.[5]Der dominierende Einfluss auf südliche Feminismen, wurde auf dem Festival in der Konferenz Feminismen im globalen Süden diskutiert.

Die Fähigkeit universal für alle Frauen* sprechen zu können beansprucht der herkömmliche weiße Feminismus nicht nur zwischen globalem Süden und Norden für sich. Die Kritik an fehlender Intersektionalität von Seiten Schwarzer[6], migrantischer und post-migrantischer Feministinnen im sogenannten Westen, wie sie seit spätestens den 1980er Jahren geäußert wird, fand auf dem Festival seinen Raum. In der Konferenz Dekolonisierte Feminismen in westlichen Kontexten beschreibt die franco-algerische Lyrikerin Sagia Bessaid (Künstlername: Iaznam Zianam), wie Sprache kolonisiert wird. Indem sie nicht-weißen  Menschen als Muttersprache abgesprochen werde, kreiere die französische Mehrheitsgesellschaft ihr sprachliches Anderes innerhalb der Landesgrenzen. Derselbe Mechanismus greife, wenn Frankreich ein „reines“ und „richtiges“ Französisch für sich beanspruche und damit Sprachdynamiken in ehemaligen Kolonien ignoriere, die ein eigenes Französisch in einem Prozess der Aneignung geformt haben.

Chouftouhonna als Chance intersektionaler globaler Feminismen?

Chouftouhonna hat keine Agenda politischer Forderungen, Chouftouhonna will Feminismus leben. Einen Ort schaffen, der frei von Diskriminierung ist, der jenseits von Patriarchat existiert, wo alle gender und Sexualitäten ihren Platz finden. Kann er auch neokolonialen Kontinuitäten entgegenwirken? Kann Chouftouhonna dazu beitragen die Schieflage globaler Feminismen zu korrigieren, die oft durch ein Ungleichgewicht westlicher Geltungsansprüche gekennzeichnet sind?

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Italienerin Sara Borrillo eingeladen wurde, um ihre Doktorarbeit zu feministischem Aktivismus in Tunesien nach 2011 vorzustellen und die Chouftouhonna als ein Fallbeispiel gewählt hat. Sie vertritt unter anderem die These, dass Chouftouhonna ein Paradebeispiel für intersektionalen, postkolonialen und post-revolutionären Feminismus sei, der aus den Aufständen von 2011 geboren ist. Eine westliche Wissenschaftlerin aus Neapel erzählt den Organisatorinnen von Chouftouhonna wofür diese stehen. Das Publikum hört interessiert zu. Die Frage nach der Universalisierbarkeit von Frauen*belangen kommt auf. Borrillos Sprechfähigkeit wird jedoch nicht in Frage gestellt. Sie hebt vor allem hervor, dass mit Chouftouhonna ein Ort geschaffen wurde, der die Wissensproduktion vom Norden in den Süden verlege.

Hier hatte eine Korrektur der oben angesprochenen Schieflage erfolgen können, denn es ist vor allem das Wissen, das Macht verleiht. Wer die Möglichkeit hat, Wissen über andere zu generieren, hat auch die Macht Aussagen über deren Bedürfnisse zu treffen. Weil bisher der globale Norden der dominierende Ort der Wissensproduktion war, konnte er in globalen Zusammenhängen auch bestimmen was andere brauchen. Und dies zum eigenen Vorteil auslegen. Sollten Orte wie Chouftouhonna nun Menschen aus dem globalen Süden den Raum geben selbst für sich zu sprechen, nähme dies dem Norden an Macht und trüge zu einer tatsächlichen Korrektur der beschriebenen Asymmetrie bei.

 

 

[1]Ein Bericht über das Festival von 2016 erschien bereits hier (https://www.alsharq.de/blog/feminismus-tunesien-wir-haben-sie-gesehen)

[2]Vgl. Jrad, Neïla (1996): Mémoire de L'Oubli. Réflexion critique sur les expériences féministes des années quatre-vingt. Tunis: Cérès Éditions.

[3]Der Club Tahar Haddadwar der erste informelle Zusammenschluss autonomer Feministinnen der 1980er Bewegung. Er ist benannt nach dem islamischen Rechtsgelehrten Tahar Haddad, der in seiner Streitschrift Unsere Frauen in islamischen Recht und Gesellschaft 1930 für die Emanzipation der Frau durch Bildung und mehr Freiheitsrechte kämpfte.

[4]Anmerkung der Redaktion: weiß ist klein und kursiv geschrieben, denn es handelt sich nicht um eine ermächtigende Selbstbezeichnung, sondern um eine privilegierte Position innerhalb eines rassistischen Systems. Mehr dazu hier.

[5]Vgl. Mohanty, Chandra Talpade (2003): Feminism without Borders. Decolonizing Theory, Practicing Solidarity. Durham, London: Duke University Press.

[6]Anmerkung der Redaktion: Schwarz wird großgeschrieben, denn es handelt sich nicht um eine adjektivische Beschreibung, sondern eine politisch gewählte Selbstbezeichnung, die kolonial geprägte und damit rassistische Bezeichnungen ablehnen. Mehr dazu hier, und im Buch von Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus.

 

 

 

Leonie hat Arabistik, Islamwissenschaft und Soziologie in Bochum, Hamburg und Leipzig studiert. Ihr Bezug in die Region ist vor allem durch einen zweijährigen Aufenthalt in Tunesien geprägt. Zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig und als freie Literaturübersetzerin. Bei Alsharq...
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Julia Nowecki