08.10.2017
Die neuen Pioniere: Siedler im Westjordanland als Erben des Arbeiterzionismus
Die Gruppe "Emunim" errichtet im Jahr 1946 einen Kibbuz bei Beit Shean. Foto: Wikicommons (gemeinfrei)
Die Gruppe "Emunim" errichtet im Jahr 1946 einen Kibbuz bei Beit Shean. Foto: Wikicommons (gemeinfrei)

Die Ideologie des Arbeiterzionismus prägte Israel über Jahrzehnte, doch mit dem Sieg im Krieg vom Juni 1967 begann ihr Abstieg. Mit dem Aufstieg der Siedlungsbewegung im eroberten Westjordanland und den Wahlen 1977 übernahm ein neuer Zionismus die Rolle als Leitideologie. Dieser Wandel sorgte für die Legitimierung der religiösen Siedler.

Dieser Text ist Teil einer Serie zum Krieg von 1967. Alle Beiträge der Serie findet Ihr hier

Das vorherrschende Nationalverständnis in Israel ist der Zionismus. Die rechte Regierung unter Benjamin Netanjahu beschwört den Zionismus ebenso wie die Arbeitspartei. Sie verstehen darunter allerdings unterschiedliche Dinge. Die Arbeitspartei vertritt eine Variante des Zionismus, die säkular ausgerichtet ist und für Frieden mit den arabischen Nachbarn und den Palästinenser_innen bereit ist, auf Land zu verzichten.

Die rechte Regierung hingegen repräsentiert eine Variante des Zionismus, in deren Zentrum die enge Verbindung zwischen dem Land Israel, dem jüdischen Volk und dem Judentum steht und somit einen Besitzanspruch auf das gesamte Land Israel/Palästina begründet. Um zu verstehen, wie es zu dieser Situation gekommen ist, müssen wir zurück in die israelische Geschichte gehen.

Der Arbeiterzionismus

Im Yishuv, also in der prästaatlichen Phase der Entstehung der israelischen Gesellschaft, dominierte der Zionismus der Arbeiter. Dieser verband die zionistischen Ideen der Besiedlung eines Landes und der Formung einer Nation auf diplomatischem Weg mit sozialistischen Ideen von der Gleichheit der Menschen, praktischer Arbeit und der Ablehnung kapitalistischer Produktions- und Lebensweise.

Doch in dieser Verbindung säkularer und religiöser Gedanken lag auch eine innere Spannung: Der sozialistische Zionismus operierte mit religiösen Symbolen sowie religiöser Sprache und seine Anhänger siedelten im Land Israel und wollten das jüdische Volk wieder auferstehen lassen. Die Arbeiterzionisten schienen einen Kompromiss mit der Vergangenheit eingegangen zu sein, denn obwohl sie sich als Sozialisten und daher als säkular verstanden, bezogen sie sich auf die religiöse Vergangenheit, die ein Band zwischen Juden und (jüdischen) Zionisten herstellte.

Damit trugen sie zur Transformation von Juden als religiöser Gruppe zu einer nationalen Gruppe bei, ohne die immanente Spannung zwischen Religion und Säkularisierung aufzulösen. Einer ihrer größten Vertreter war Aharon David Gordon: Er selbst arbeitete im Kibbutz und schrieb daneben Texte über seine Vorstellung des Zionismus. Darin war von der Wiederaneignung des Bodens die Rede, von der Revitalisierung des jüdischen Volkes durch Arbeit am Boden mit den eigenen Händen. Dies sei nur durch hebräische Arbeit zu schaffen: die jüdischen Chalutzim, Pioniere, wie sie im Yishuv und in Israel genannt wurden, bewirtschafteten mit ihren eigenen Händen die Äcker. Ein weiteres Schlagwort dabei war die Eroberung der Arbeit, das heißt alles, wirklich alles, sollte selbst in die Hand genommen werden. Dies war den jungen Siedlern besonders wichtig, ging es ihnen doch um eine neue Gesellschaft, die sie erschaffen wollten.

Die Kibbutzim mit ihrer Idee eines sozialistischen Zionismus waren das damalige Leitbild der Gesellschaft. Sie waren der Inbegriff des neuen Juden: Stark, wehrhaft, mit dem Boden verbunden, hart arbeitend. Sie wurden auch nur Chalutzim, Pioniere, genannt. Sie standen an der vordersten Front bei der Besiedlung von Eretz Israel. Die Kibbutzim stellten darüber hinaus die Elite des Landes. So konnten David Ben Gurion und seine Arbeitspartei, die den politischen Arm des sozialistischen Zionismus verkörperte, die ersten Jahrzehnte lang die Geschicke des jungen Staates lenken. Und auch im Militär waren die Kibbutzim vertreten:  Der berühmte Moshe Dayan, General, Stabschef der Armee und während des Kriegs von 1967 Verteidigungsminister, war das erste Kind, das in der Mutter aller Kibbutzim, Deganyah Aleph, geboren wurde.

Rabbi Abraham Kook und das Land Israel

Jedoch entstand parallel zur Ideologie des Arbeiterzionismus auch eine andere Auslegung der zionistischen Ideologie, die vor allem von Abraham Kook entwickelt wurde, der 1935 erster Oberrabiner des Mandatsgebietes Palästina war. Rabbi Abraham Kook, ein konservativer Denker, wandte sich nicht wie viele seiner strenggläubigen Kollegen von den säkularen Zionisten ab, welche der Meinung waren, dass nur der Messias ein neues Land Israel erstehen lassen dürfe. Er nahm die Vorstellung der Besiedlung des Landes in sein Denken auf und entwickelte so einen messianisch-religiösen Zionismus. Um die religiöse Tradition und den Zionismus zueinander zubringen, musste er die Bedeutung des Landes radikal neu interpretieren. 

Dabei verband Abraham Kook jüdisch-religiöses und jüdisch-nationales Denken auf drei zentralen Ebenen. Der Politikwissenschaftler Shlomo Avineri zeigt, dass Abraham Kook in seinen Schriften versuchte die Bedeutung des Landes Israels aus der religiösen Tradition, auch in den Aktivitäten des Zionismus zu übertragen. Avineri führt aus: „(1) Das Zusprechen eines im Kern religiösen Sinns des irdischen und nicht nur des himmlischen Landes Israel; (2) die Entwicklung eines dialektischen Konzeptes der Wahrnehmung der Beziehung zwischen der jüdischen Religion und der säkularen zionistischen Praxis; und (3) das Zusprechen einer universalen Bedeutung der jüdischen Renaissance im Rahmen einer Religionsphilosophie.“ (217) Kurz: Abraham Kook legitimierte und begründete das zionistische Unterfangen, vor allem, indem er zwischen dem (im Grunde säkularen) Arbeiterzionismus und der jüdischen Tradition eine Verbindung herstellte.

Obwohl Abraham Kook keine direkte Aufforderungen zur Besiedlung von besetztem Gebiet aussprach und auch keine Aussagen über die Grenzen des Landes Israels machte, wurden seine Lehren nach 1967 zur Legitimationsgrundlage für radikal- religiöse Siedler. Aus diesem Grund, so Josef Dan, Professor für jüdisches Denken, verlor Abraham Kook „den tiefen Respekt, den der säkulare Zionismus für die Persönlichkeit und die gemäßigten, aufgeschlossenen Lehren Rav Kooks hatte“.

1967 und seine Folgen

Bis zum Krieg im Juni 1967 gab es in der israelischen Öffentlichkeit eine Angst vor der Vernichtung des Staates Israel. Angeheizt wurde die Stimmung durch die Propaganda von Gamal Abdel Nasser, Präsident Ägyptens. Israel entschied sich am 5. Juni 1967 zuerst zuzuschlagen und eroberte innerhalb von 6 Tagen den Sinai, die Golanhöhen, den Gazastreifen, Ostjerusalem und das Westjordanland (hier geht’s zu Vorgeschichte und Verlauf des Kriegs von 1967). Einen solch klaren Sieg hatte die Bevölkerung nicht erwartet. Die Euphorie wirkte vor dem Kontrast der Befürchtungen umso größer. Der Sechstagekrieg war der letzte große Auftritt des Arbeiterzionismus und der Startschuss zu seinem Untergang.

Der Sieg und die damit einhergehenden Territorialgewinne brachten Fragen auf, welche die Regierung bisher zurückgestellt hatte: Werden wir von Unterdrückten zu Unterdrückern? Wird es langfristig Frieden geben? Was geschieht nun mit Jerusalem und den heiligen Stätten? Es waren vor allem die religiös konnotierten Fragen, die den (säkularen) Arbeiterzionismus in eine Krise stürzten. Denn insbesondere die Frage nach der nationalen Identität wurde durch den Sieg 1967 und die Eroberung von religiösen jüdischen Stätten neu gestellt. Die Arbeitspartei und der Arbeiterzionismus konnten auf die Fragen und die Krise keine zufriedenstellenden Antworten geben.

Zvi Yehuda Kook und die Siedlerbewegung

Daher versuchte eine Gruppe junger Menschen eine Antwort auf diese Krise zu geben. Sie wollten an das ursprüngliche Pionierideal der frühen (Arbeiter-)Zionisten anschließen und es mit ihren religiösen Vorstellungen verbinden. Ihr Anführer war Zvi Kook, der Sohn Abraham Kooks. Zvi Kook entwickelte auf der Grundlage der Theologie seines Vaters eine eigene Ideologie, die in der Siedlerbewegung großen Anklang fand. Somit wurde er, wie es Michael Brenner ausdrückte, „zum geistigen Vater der Siedlerbewegung, deren Mitglieder sowohl gegen die Passivität der traditionellen Orthodoxie als auch gegen den Säkularismus der traditionellen Zionisten rebellierten.“

Als 1967 das Westjordanland erobert wurde und die ersten Siedler dorthin auszogen, um ein 1948 zerstörtes Kibbutz wiederaufzubauen, zeigte sich die Regierung zögerlich. Das israelische Kabinett war über die Siedlungsfrage zerstritten und so nutzten die Siedler diese Unentschlossenheit des Staates, um Fakten zu schaffen. Der Siedler und Terrorist Yehuda Etzion (er wurde 1984 wegen des Versuchs, den Felsendom zu sprengen, verurteilt) beschreibt das Selbstverständnis der religiösen Siedler folgendermaßen „Die Mission, den Staat zu retten, lag also diesmal auf den Schultern der Gläubigen. Die Fackel war an den religiösen Zionismus weitergereicht worden. Und dessen Auftrag war es, Feuer auf den Berggipfeln zu entzünden. Eine einzige Siedlung auf dem Berg Shomrom würde das Problem nicht lösen, doch lag die Gründung einer solchen auf einmal im Bereich des Möglichen. Und mit ihr könnte man ein Exempel statuieren. Sie könnte den Zionismus in eine ganz neue Richtung führen.“ (Shavit, 292)

Diese neue Richtung des Zionismus basierte auf den adaptierten Ideen von Abraham Kook. Zvi Kook interpretierte die Besatzung des Westjordanlands als Bestätigung seiner messianischen Deutung des Zionismus. Damit war für ihn klar, dass das gesamte historische Land Eretz Israel besiedelt und so mit dem jüdischen Volk verbunden werden musste. Nur so könne die Erlösung der Menschheit erreicht werden.

Der Krieg 1973 als Katalysator des religiösen Zionismus?

Während des Ramadan, als in Israel Yom-Kippur gefeiert wurde, griffen im Oktober 1973 Ägypten, Syrien, Jordanien, Irak und einige andere arabische Staaten Israel an. Nach anfänglichen Gebietsverlusten erlangte Israel die Oberhand und konnte die angreifenden Armeen zurückdrängen. Trotz dieses Erfolges wurde der in Israel als Yom-Kippur-Krieg bezeichnete militärische Konflikt von der Bevölkerung als traumatisch wahrgenommen. Der vorherige fast schon narzisstische Glaube an die militärische Überlegenheit der israelischen Armee wurde tief erschüttert und ein Gefühl der Unsicherheit stellte sich ein.

Den religiösen Siedlern bestätigte das Ereignis nur, dass der bis dahin vorherrschende Arbeiterzionismus an sein Ende gekommen war. Der religiöse Zionismus, wie er bis dahin bestanden hatte, war hingegen gefangen in einem Spannungsfeld aus messianischer Erwartung und der Erfahrung eines säkularen Staates. Um diese Spannung aufzulösen, vollzog die religiöse Jugend eine doppelte Radikalisierung. Dabei machten sie den Zionismus ‚orthodox’ und die Orthodoxie ‚zionistisch’. Institutionalisiert realisierte sich diese Doppelradikalisierung in der Siedlerbewegung Gush Emunim.

Gush Emunim und der Neozionismus

Gush Emunim etablierte sich als Sprachrohr und Lobbygruppe in der israelischen Politik. Außerdem propagierte sie erfolgreich einen neuen religiös-nationalistischen Zionismus, der nach und nach die Hegemoniestellung des Arbeiterzionismus untergrub. Doch setzte Gush Emunim nicht einfach einen neuen Zionismus dem alten gegenüber. Die Ideologie der Siedler schloss an den ursprünglichen praktischen Arbeiterzionismus an. Damit konnte der Begriff ‚Zionismus‘ neu interpretiert und um ihn herum ein neuer hegemonialer Narrativ errichtet werden. Das Ethos der arbeitenden, siedelnden hebräischen neuen Juden vom Beginn des 20. Jahrhundert wurde von Gush Emunim auf die post-1967 religiösen Siedler übertragen.

Der Krieg 1967 schuf zwar nicht die Identitätskrise des Zionismus, machte die Israelis jedoch darauf aufmerksam. Bis 1977 schaffte es die Siedlerbewegung und die israelische Rechte, den Begriff Zionismus semantisch neu zu besetzen, sodass mit Zionismus nun ihr ‚Neo-Zionismus‘ gemeint war. Der Zionismus wandelte sich um 180 Grad von einer säkularen revolutionären Ideologie zur Legitimierungsideologie eines sich als religiös und national jüdisch verstehenden Staates. Die ursprüngliche revolutionäre Idee wurde in religiösen Begriffen neu formuliert.

Die Wahl 1977 als Abschluss und Anfang

Mit der Wahl von 1977 schloss sich dann der Kreis. Die israelische Rechte mit dem Likud Wahlbündnis unter der Führung der Cherut Partei Menachem Begins gewann die Wahl. Nun konnte der neue Zionismus auch auf staatlicher und Regierungsebene implementiert werden. Für die Siedlerbewegung brachen gute Zeiten an, sie erhielten von Regierungsseite viel Freiheit in Bezug auf ihre Betätigungen im Westjordanland. Der ‚Neo-Zionismus‘ etablierte sich mit der Zeit als dominante Ideologie und bildet, in unterschiedlichen Schattierungen und Abstufungen, heute die Grundlage der gesamten israelischen Rechten und eines Gutteils der israelischen Mitte.

Die Etablierung dieser neuen Interpretation des Zionismus hat auch dazu beigetragen, dass die israelische Gesellschaft nationalistischer geworden ist. Und jüdischer, in dem Sinne, dass ‚das Jüdische’ stark betont wird, ohne zwangsläufige religiöse Konnotation. Auf diese Weise ist der ‚Neo-Zionismus‘ sowohl bei extremen Nationalisten als auch Religiösen anschlussfähig. Dabei verwendet der Neo-Zionismus Motive und Mythen seines Vorgängers, des Arbeiterzionismus, nur interpretiert er sie neu und entwickelt sie weiter. Daher kann oder vielmehr sollte er als genuine Weiterentwicklung des ‚alten’ also Arbeiterzionismus gesehen werden und nicht als eine Neuschöpfung. Diese Kontinuität müsste von allen anerkannt werden, wie man mit ihr umzugehen hat, ist allerdings Aufgabe der israelischen Gesellschaft.

 

Sebastian Kunze ist Herausgeber des Blogs undogmatisch.net

   

Ebenfalls in dieser Serie erschienen:

Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.

Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam

Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte

Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall

Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es

Die Folgen des Juni-Kriegs 1967,in Israel

1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabischi

Die Folgen von 1967 in Ägypten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Nasser und der Krieg 1967: Zwischen politischem Kalkül und Improvisation

Wenn über Erinnerungen Gras wächst – palästinensische Ruinen im Ayalon Canada Park

Israel und die Golan-Drusen: 50 Jahre Provisorium

1967 – Als der Zionismus in die eigene Falle ging

Folgen von 1967 in Jordanien: Eine palästinensische Identität entsteht

Vom Messianismus zur Mittelklasse: Israelische Siedlungen im Westjordanland

Ein deutscher Sieg? Verdächtiger Enthusiasmus im Krieg von 1967 

Artikel von Sebastian Kunze