09.03.2019
Armenien: „Frauen müssen ungehorsam sein“
Mit Megafon gegen die korrupte politische Führung: Eine Frau ergreift das Wort während der Proteste in Armenien im April 2018.
Mit Megafon gegen die korrupte politische Führung: Eine Frau ergreift das Wort während der Proteste in Armenien im April 2018.

Die Teilnahme von Frauen an der „Samtenen Revolution“ 2018 erfuhr in armenischen und ausländischen Medien viel Aufmerksamkeit. Mit Queer-Feministin Anna Nikoghosyan sprach alsharq über die Rolle von Frauen am derzeitigen politischen Transformationsprozess und über die erste feministische Bibliothek, die sie mitbegründet hat. Von Anna-Theresa Bachmann

Dieser Text ist Teil der Serie Aufgehorcht. Darin stellen wir euch anlässlich des Internationalen Weltfrauentags am 8. März Einzelpersonen, Initiativen und NGOs aus der WANA-Region vor, die an den bestehenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern rütteln. Alle Texte der Serie findet ihr hier.

Zum Hintergrund: Im April 2018 versammeln sich unter der Führung von Oppositionspolitiker und Journalist Nikol Paschinjan und seiner Kampagne „Mein Schritt“ immer mehr Menschen auf den Straßen Armeniens. Die Wut der Protestierenden richtet sich gegen Korruption und Machtmissbrauch der national-konservativen Republikanischen Partei und den bisherigen Präsidenten, Sersch Sargsjan. Er wurde eben zum Ministerpräsidenten gewählt. Nach wenigen Tagen ist die „Samtene Revolution“ im vollen Gange und Sargsjan gibt am 23. April 2018 seinen Rücktritt bekannt. Davon ausgehend kommt es zu einer großflächigen Umstrukturierung der politischen Spitze des Landes.

Anna Nikoghosyan, du bist eine der feministischen Aktivistinnen, die letztes Jahr gegen Sersch Sargsjan auf die Straße ging. Markiert die „Samtene Revolution“ einen Wendepunkt in der Geschichte weiblicher Protestmobilisierung oder wurde der Frauenanteil an der Revolution überzogen dargestellt?

Die Medien und die politische Führung haben die Teilnahme von Frauen an der Revolution als etwas außergewöhnliches, ja noch nie Dagewesenes bezeichnet. Diese Darstellung negiert nicht nur die Teilnahme, sondern auch die frühere Organisation und Koordination von sozialen und politischen Bewegungen durch Frauen.

Frauen haben schon immer eine wichtige Rolle gespielt, sei es in der „Mashtots Park“ oder der „100 Dram“ Bewegung. Aber diese Rolle wurde nicht anerkannt. Männer haben stattdessen die Lorbeeren geerntet. Nur durch die langjährige Arbeit von Frauen und Feminist*innen ist es zu einem langsamen Umdenken gekommen, das zur Anerkennung der Rolle von Frauen in der „Samtenen Revolution“ geführt hat. Welche Rolle Frauen zugeschrieben wird, ist aber problematisch.

Warum?

Frauen werden noch immer als Friedensstifterinnen und Vermittlerinnen dargestellt. Also so, wie es kulturelle Normen und die Rollenverteilung der Geschlechter in unserer Gesellschaft vorsehen. Sogar der heutige Präsident Nikol Paschinyan hat während einer seiner Reden gesagt: ‚Es ist den Frauen zu verdanken, dass die Revolution friedlich verlaufen ist‘. So viele Male versuchten Autofahrer Demonstranten davon zu überzeugen, die blockierte Straßen zu öffnen. Männer waren kompromissbereit. Es waren die Frauen, die sich dagegengestellt haben.

Du wurdest während der Proteste festgenommen und warst für mehrere Stunden in Gewahrsam. Wie kam es dazu?

Einige meiner Freund*innen und ich hatten einen feministischen Protest organisiert, der unter dem Motto „Sersch ist nicht unser Vater, wir haben keinen Vater“ stand. Wir riefen diese Worte während wir eine große Kreuzung in Jerewan blockierten. Als die Lage eskalierte, hat mich die Polizei festgenommen, weil ich diejenige mit dem Megafon in der Hand war. Ich versuchte es meiner Freundin zu übergeben, denn zu dieser Zeit gab es nur wenige Megafone in Armenien. Wir hüteten sie, wie einen Schatz. Einige Tage vorher hatte mir Nikol Paschinjan das gleiche Megafon aus der Hand genommen, weil er selbst keins hatte.

Hat sich die öffentliche Meinung über Feminismus nachhaltig geändert, weil sich so viele Frauen an der Revolution beteiligten?

Leider nicht. Denn feministische Themen waren nicht wirklich Bestandteil der Revolution. Auf lokaler Ebene gab es feministische Tendenzen. Auf das große Ganze hatten sie aber keinen Einfluss: Im Mai 2018 organisierten wir etwa zwei große Demonstrationen, die zum Ziel hatten, Jerewans Bürgermeister Taron Margaryan aus dem Amt zu fegen.

Margaryan gehört ebenfalls der Republikanischen Partei an und war seit 2011 im Amt. Wegen Korruption, Geldwäsche und dem Abriss historischer Gebäude, die er durch Gewerbegebiete ersetzte, schwand seine Popularität. Außerdem übten Mitglieder seiner Partei während einer Stadtratssitzung im Februar 2018 körperlicher und sexueller Gewalt auf zwei Politikerinnen aus.

Zu den Demonstrationen gegen ihn kamen mehrere hundert Menschen. Die Hauptorganisator*innen waren Feminist*innen, inklusive mir. Als wir auf der Bühne unsere Redebeiträge vorlasen, die wir online streamten, haben mehrere Menschen kommentiert: "Vertraut ihnen nicht, das sind Feminist*innen. Wir wollen, das Paschinyan Präsident wird. Die regionale Regierung interessiert uns nicht." Das Misstrauen und der Hass sind also immer noch da. Sie werden von antirevolutionären Gruppen, die vom zweiten Präsidenten Armeniens Robert Kocharyan unterstützt werden, am Leben gehalten. Auch von Russland gestützten anti-Gender Nationalist*innen sind daran beteiligt.

Kommen wir zurück zum heutigen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan: Vor seiner Amtszeit landete Armenien im Ländervergleich auf Platz 115 von 149 im Punkto politisches Empowerment von Frauen und im Parlament machte ihr Anteil nur 17 Prozent aus. Während der Revolution ermutigte Paschinjan Frauen dazu, in der anstehenden Transformation des Landes eine größere politische Rolle zu spielen. Hatte er Erfolg?

Nein. Auf der einen Seite ist jetzt ein Viertel der Parlamentarier*innen Frauen und viele davon sind jung. Trotzdem gibt es mit Zaruhi Batoyan, die das Ministerium für Arbeit und Soziales leitet, nur eine Ministerin. Mehrere Freund*innen und ich haben uns dafür eingesetzt, dass sie Jerewans Bürgermeisterin wird [nachdem Margaryan zurückgetreten war, Anm. d. R.]. Ich wollte, dass sie diese Position bekommt, weil sie eine Frau ist, eine Behinderung hat und für viele Themen sensibilisiert ist. Aber für mich als radikale Feministin, stellen weibliche, politische Führungskräfte in hohen Positionen keine Priorität dar.

Inwiefern?

Frauen, die an der Spitze von patriarchalen Machtstrukturen stehen, nützen mir als Frau und Feministin nichts. Feminismus liegt im Kampf gegen Macht begründet. Ich kämpfe lieber für soziale und kulturelle Veränderung auf Graswurzelebene. So lange wir nicht an der Basis rütteln, wird es keine wahre Veränderung geben.

Eine dieser Graswurzel-Initiativen ist die erste feministische Bibliothek, die Dank einer Crowdfunding Kampagne 2017 öffnen konnte. Was ist die Idee dahinter?

Meine Freund*innen und ich haben diesen gemeinschaftlichen Raum gegründet, um feministische Akademie, Aktivismus und Kunst zusammenzubringen. Es ist ein queerer und feministischer Ort, der besonders für Mädchen, Frauen und Feminist*innen konzipiert wurde. Die Bibliothek steht aber auch allen anderen offen, die mehr über Feminismus und Queer Studies erfahren wollen. Dazu haben wir bisher 500 Bücher und 200 Zeitschriften aus der ganzen Welt zusammengetragen. Wir organisieren Buchclubs und Lesezirkel, Filmvorführungen und Diskussionsveranstaltungen, Gedichtlesungen und vieles mehr. Diese Art der Veränderung ist mir wichtiger als der Alibi-Ansatz, Frauen am politischen Prozess zu beteiligen.

 FemLibrary Armenia, Facebook

Wie wird die Bibliothek angenommen?

Zuerst haben wir sie im Juli 2018 geöffnet, mussten aber wieder schließen: Homophobe Nachbar*innen hatten sich bei der Vermietung beschwert und behauptet, dass wir Events für Homosexuelle veranstalten. Im Dezember sind wir mit der Bibliothek ins Stadtzentrum Jerewans umgezogen - eine teure Gegend, die wir aus Sicherheitsgründen ausgewählt haben. Diejenigen, die uns kennen und neue Leute, die zu uns kommen, sind verblüfft und sagen, dass sie sich schon lange einen solchen Ort gewünscht haben. Natürlich gibt es auch solche, die uns hassen und es auf uns abgesehen haben. Eigentlich warten wir jeden Tag darauf, im Internet oder körperlich von rechten Gruppen angegriffen zu werden.

Wie gesichert ist die Finanzierung?

Sie ist bis zum kommenden Sommer gesichert. Was wir danach machen, weiß ich nicht. Wir versuchen mehr Unterstützung zu bekommen. Aber nicht viele Geldgeber*innen sind an einer Einrichtung dieser Art interessiert. Wir sagen offen, was wir wollen und was nicht. Und sie bevorzugen Organisationen, die sich für die Veränderung politischer und rechtlicher Belange einsetzen. Die meisten Menschen hier sind Freiwillige. Nur die Mitbegründer*innen und die Buchhaltung bekommen eine kleine Aufwandsentschädigung. Mit dem Rest – 1000 Euro im Monat – bezahlen wir Miete und Nebenkosten.

Wenn du drei Bücher aus den Regalen auswählen müsstest,…

…würde ich Judith Butlers „Gender Trouble“ wählen. Das Buch hat meine Sicht auf Geschlecht komplett verändert. Dann würde ich Gedichte von Shushanik Kurghinyan [1876-1927, Anm. d. R.] auswählen, eine armenische, feministische Autorin. Eins ihrer Gedichte hat uns zu einem Wandgemälde in der Bibliothek inspiriert. Das Dritte wäre „Sublime Mutations“ von Del LaGrace Volcano, in dem es um das Queering von Körper und Sexualität geht.

Was wünscht du dir für Frauen zum 8. März?

Dass sie sich von zwanghaften Strukturen wie Familie, dem Staat oder anderen Institutionen befreien. Ich wünsche mir, dass Frauen immer ungehorsam sind und dass sie Macht und Hierarchisierung widerstehen.

 

 

Theresa ist freie Reporterin und Fotojournalistin mit Fokus Westasien und Nordafrika. Sie hat in Marbug, Kairo und Lund studiert, sowie eine Ausbildung an der Reportageschule Reutlingen absolviert. Seit November 2019 ist sie die Koordinatorin des dis:orient-Magazins.
Redigiert von Julia Nowecki