23.06.2019
„Muslimischer Antisemitismus“ und deutsche Solidaritätsfragen — Ein Interview mit dem Politologen David Ranan
Solidarität mit Israel gehöre in Deutschland zum "politischen Selbstverständnis", sagt David Ranan - aber hauptsächlich in der offiziellen Politik und in den wichtigen Medien. Foto: Frotzen/Wikicommons (gemeinfrei).
Solidarität mit Israel gehöre in Deutschland zum "politischen Selbstverständnis", sagt David Ranan - aber hauptsächlich in der offiziellen Politik und in den wichtigen Medien. Foto: Frotzen/Wikicommons (gemeinfrei).

Ob Al-Quds-Tag in Berlin, BDS-Beschluss im Bundestag oder die Israelsolidarität der AfD: Der Israel-Palästinakonflikt ist fester Bestandteil deutscher Politik. Daniel Marwecki spricht für dis:orient mit David Ranan, um die jüngsten Debatten etwas zu sortieren.

David Ranan ist ein israelischer Politik- und Kulturwissenschaftler und freier Autor mit deutsch-jüdischen Wurzeln. 2018 veröffentlichte er sein Buch „Muslimischer Antisemitismus: eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?“.

dis:orient: Gerade befinden wir uns in London, wo Sie leben. Seit einigen Jahren haben wir hier, neben der Brexit-Frage, eine riesige Debatte über Antisemitismus in der Labour Partei unter Parteichef Jeremy Corbyn. Was ist ihre Einschätzung zu dieser Debatte — vielleicht auch im Vergleich zu ähnlichen Debatten in Deutschland?

David Ranan: Man muss sich einer Sache bewusst sein. Corbyn ist ein extrem linker Parteichef. Er repräsentiert sicher nicht die Labour Party, wie sie viele Jahre zuvor beschaffen war. In England vermischt sich, wahrscheinlich wie in Deutschland, bei einigen extrem Linken der Anti-Imperialismus, der Anti-Kolonialismus und das menschenrechtliche Gefühl für die Palästinenser, die sie zum Anti-Zionismus bringen, mit alten antisemitischen Vorurteilen. Diese Vorurteile sind ein Geschenk von hunderten Jahren Kirche…It’s in the back of everyone’s mind.

So wie ich das sehe hat Corbyn den großen Fehler gemacht, dass er nicht sofort verstanden hat, dass antisemitische Äußerungen inakzeptabel sind. Die hätte er sofort, um ein schönes deutsches Wort zu verwenden, ausmerzen sollen. Und das hat er nicht getan, und je länger er es nicht getan hatte, desto schwerer wurde es für ihn, von diesem Baum herunterzuklettern. Es ist nicht gut, was sich da tut. Ich glaube aber auch, dass der Antisemitismus in der Partei zu einem Kampfthema wurde, hochgeschraubt von den Gegnern Corbyns, um ihn zu bekämpfen.

Wenden wir uns nun Deutschland zu. Dort haben Sie letztes Jahr ein Buch zum Thema „Muslimischer Antisemitismus“ verfasst. Der Untertitel: „eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?“. Meine erste Frage zu dem Buch und seinem Titel ist: Sie suggerieren, dass es eine spezifisch „muslimische“ Variante des Antisemitismus gibt. Was darf ich mir denn darunter vorstellen?

Ich hatte zu diesem Thema zuvor ein Seminar an der Universität angeboten. Mein Seminar nannte ich “Muslimischer? Antisemitismus?”. Was ich mit dieser Wortwahl zum Ausdruck bringen wollte ist: Sind die Phänomene, die wir beobachten, überhaupt “muslimisch”? Und handelt es sich dabei stets um Antisemitismus? Nun wollte mein Verlag keine zwei Fragezeichen im Titel. Ich wollte diese Frage des sogenannten “Muslimischen Antisemitismus” untersuchen, nicht schon im vornherein behaupten.

Es gibt seit vielen Jahren schon diese Behauptung, dass es unter Muslimen mehr Antisemitismus gäbe als unter nicht-Muslimen. Es ist also kein neues Thema. Ich wollte hören, was Muslime sagen, wenn sie über Juden reden. Ich wollte Narrative kennenlernen. Was wir über die Medien hören, ist ja meistens das, was die Extremisten von sich geben. Wir sehen Videos von Hasspredigern, die die allerschlimmsten Sachen über Juden sagen, wir sehen hormongeladene 14-Jährige auf Demonstrationen, die rufen “Kindermörder Israel” oder “Juden ins Gas”. Dann gibt es eine große Empörung und die ganze Nation regt sich unisono auf, vom Kleinstadt-Partei-Bezirksvorsteher bis zur Bundeskanzlerin. Ich wollte aber nicht hören, was die Extremisten sagen, sondern ich wollte wissen: was wird abseits des Lärms gesagt? Ich wollte das Thema besser verstehen.

Ich habe eine qualitative Studie durchgeführt, für die ich über 70 Interviews geführt habe, mit Studierenden und Graduierten. Ich habe festgestellt: In der Tat gibt es auch unter gebildeten Muslimen [in Deutschland] die ganze Bandbreite von Vorurteilen über Juden und Verschwörungstheorien über Juden.

Aber klar waren auch zwei Dinge — und das gilt natürlich nur für die Interviews die ich geführt habe, das ist keine allgemeine Aussage. Erstens: keiner meiner Interviewpartner, auch wenn sie sehr gläubig waren, wusste überhaupt, was im Koran über Juden steht. Das Ganze hat mit Religion überhaupt nichts zu tun! Es wird ja gern aus dem Koran zitiert, um den Antisemitismus unter Muslimen zu beweisen. Das machen Extremisten auf beiden Seiten. Extremisten sind zwar laut, aber in der Minderheit.

Zweitens, und auch das wer sehr klar, bei all meinen Interviewpartnern, und ich habe Interviews gemacht mit Muslimen aus arabischen wie auch nichtarabischen Ländern, bei allen waren die Einstellungen zu Juden eng mit dem Nahostkonflikt verbunden. Vorurteile über Juden wurden mit Beispielen aus dem Nahen Osten unterfüttert, nach dem Motto: “Nur weil die Juden so viel Macht haben, kann sich Israel alles erlauben.”

Auch in Berlin hat sich vor Kurzem der Nahostkonflikt mit der Antisemitismusdebatte in Deutschland auf einige Weisen verknüpft. Zum Anlass des „Al-Quds Tag” rief der bundesdeutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein nichtjüdische Deutsche dazu auf, als Zeichen der Solidarität mit Juden eine Kippa zu tragen. Halten Sie derartige Aktionen für ein sinnvolles Zeichen der Solidarität?

Zuerst zu Herrn Klein: der Bundesbeauftragte hat in einer Woche drei verschiedene Sachen gesagt. Zuerst meinte er, dass Juden überlegen sollten, ob sie mit einer Kippa auf die Straße gehen wollen. Dafür wurde er dann von Einigen aus der jüdischen Gemeinde kritisiert. Danach hat er Deutsche dazu aufgerufen, am Tag der Al-Quds Demonstration zur pro-israelischen Gegendemonstration zu gehen. Und er hat Deutsche dazu aufgerufen, auf dieser Demonstration die Kippa zu tragen.

Die Frage ist: brauchen wir deutsche Beamten, die einem sagen, ob man eine Kippa tragen soll oder nicht? Es ist unmöglich, zumindest nach meinem Verständnis davon, was ein Regierungsbeamter darf, dass er aufruft, zu irgendeiner Demonstration zu gehen. Das geht überhaupt nicht. Aber auf die Frage, ob man jetzt als Nichtjude eine Kippa tragen soll oder nicht, natürlich, wenn jemand das Bedürfnis hat das zu machen soll er’s machen, ich weiß nicht ob es etwas bringt.

Damit komme ich zu meinem Hauptpunkt: Das ganze Kippa-Thema wird aufgebauscht. Wie viele Juden gehen in Deutschland mit einer Kippa auf die Straße und werden deswegen beleidigt? Und wie viele muslimische Frauen gehen auf die Straße mit einem Kopftuch und werden beleidigt? Ist die Lösung dafür jetzt, dass alle nichtmuslimischen Frauen aus Solidarität ein Kopftuch tragen?

Bleiben wir bei der Frage deutscher Solidarität für seine ehemaligen Opfer: Für Deutschland ist die außenpolitische Solidarität mit Israel mehr als nur reines „Interesse“: sie gehört zum Selbstverständnis der Republik nach dem Holocaust. In den letzten Jahren können wir aber beobachten, dass ausgerechnet die AfD, die Alternative für Deutschland, sich am stärksten pro-israelisch positioniert. Gleichzeitig ist die Partei in Richtung Faschismus und Antisemitismus offen. Was hat es ihrer Meinung nach mit diesem Doppelspiel auf sich?

Erstens: Sie wissen ja selber, dass es mit der Frage des deutschen ‘Selbstverständnis’ nicht so einfach ist. Wenn man genau hinschaut, dann hat sich dieses solidarische Selbstverständnis vor allem nach 1967 gebildet, als Israel zeigte, wie gut es kämpfen kann. Die große Attraktion war Moshe Dayan [Anm: berühmter israelischer General, der damals von der Springerpresse mit dem „Wüstenfuchs“ Erwin Rommel verglichen wurde]. Das war das attraktive Israel. Nun ist es schon so, dass heute die Solidarität mit Israel zum politischen Selbstverständnis gehört. Dabei gibt es aber meiner Meinung nach keinen Zweifel über die immer größere Kluft zwischen der Einstellung der offiziellen Politik und den Hauptmedien im Land und der Bevölkerung vis à vis Israel. Diese solidarische Einstellung gegenüber Israel wird ‘vom Mann auf der Straße’ nicht geteilt.

Um zweitens auf die AfD zu kommen: Was Sie beschrieben haben ist genau richtig. Ob die AfD sich mit ihrer pro-Israel Attitüde von der Vergangenheit distanzieren will, weiß ich aber nicht. Sie wandelt auf einem sehr schmalen Grat. Sie kann ja nicht all ihre antisemitischen Wähler brüskieren. Da müssen die vorsichtig sein. Sie macht eine Akrobatik, die ganz gezielt ihrem Zweck dient, anti-muslimisch zu sein. Die AfD will keine muslimische Einwanderung haben und dazu werden Juden und Israel instrumentalisiert. Das ist der einzige Grund, weswegen sie pro-Israel und pro-jüdisch ist. Juden werden als anti-muslimische Waffen benutzt.

Der Bundestag hat jüngst die BDS-Bewegung gegen Israel deutlich verurteilt, sie quasi mit Antisemitismus gleichgesetzt. Nun gibt es vermutlich wenige Palästinenser, die den gewaltfreien Boykott von Israel vollkommen ablehnen. Gleichzeitig arbeiten deutsche politische Stiftungen und Entwicklungshilfeorganisationen in den besetzten palästinensischen Gebieten eng mit Palästinensern zusammen. Wie passt das ihrer Meinung nach zusammen? Oder ist die deutsche Politik gegenüber Israel und den Palästinensern widersprüchlich?

Die BDS-Entscheidung ist das Resultat einer Gruppe halbgebildeter deutscher Politiker, deren eigene Schuldbearbeitung sie dazu bringt, solche Entscheidungen durchs Parlament zu schieben. Das geht natürlich nicht zusammen mit dem Wunsch, mit der palästinensischen Zivilgesellschaft zusammen zu arbeiten.

Sie sagen mit Recht, dass es sicher sehr wenige Palästinenser gibt, die nicht pro-BDS sind. Dabei muss es einem klar sein, und man muss davor auch nicht solche Angst haben, ich gehe davon aus dass jeder Palästinenser, wenn er die Wahl hätte, lieber eine Welt hätte, ohne dass es einen jüdischen Staat im Nahen Osten gäbe. Genauso wie die meisten Israelis es sich wünschen würden, dass es keine Palästinenser da gäbe. Das macht beide Gruppen doch noch nicht zu potentiellen Vernichtern. 

Schauen Sie, nicht nur bin ich Israeli, ich bin dankbar dafür, dass es Israel gibt. Das Existenzrecht Israels ist für mich keine Frage. Aber ein Palästinenser hat da eine andere Meinung. Und ich kann mit ihm befreundet sein, auch wenn er eine andere Meinung hat. Das muss man verstehen. Und man kann nicht durch die Lupe der eigenen Vergangenheit und durch die Lupe der eigenen anti-jüdischen Vorurteile und Ressentiments eine andere Gruppe beurteilen. Den Anderen [Anm.: den Palästinenser*innen] hat man ihr Land weggenommen. Die Anderen sind Flüchtlinge geworden, wegen der Existenz des jüdischen Staates. Ich sage damit nicht, dass es keinen jüdischen Staat geben soll, ich sage damit nicht einmal, dass es moralisch falsch war, den jüdischen Staat zu gründen. Ich finde der Entschluss damals für den jüdischen Staat ist der moralisch richtige Entschluss. Aber jetzt sollen die Palästinenser das Ganze auch noch gutheißen?

Als der Bundestag seine Resolution zur BDS-Bewegung beschloss, habe ich in meinem Blog an Angela Merkel eine Frage gerichtet: Wenn Frau Merkel im Supermarkt steht und eine Flasche Wein vom Regal nimmt und sieht, dass die Flasche in einer israelischen Siedlung produziert wurde — tut Sie die Flasche zurück und nimmt einen anderen Wein, oder nimmt Sie den Wein?  

Ich würde glauben, dass Sie den Wein zurücktut, aber ich würde auch glauben, dass Sie das nie zugeben würde, wenn ein Journalist ihr eine solche Frage stellen würde. Ich glaube, ihre Wertvorstellungen lassen nicht zu, dass man die Siedlungen unterstützt. Mein Punkt ist: der ganze Diskurs zum Thema Israel in Deutschland ist ritualisiert. Er ist unecht. Und unechte Kommunikation stagniert. Sie schadet. So kann man keine Beziehung haben. Man kann auch in keiner privaten Beziehung nur mit Phrasen leben.

Daniel ist seit 2019 bei dis:orient dabei. Aktuell ist er an der School of History der University of Leeds angestellt und hat Lehraufträge an der SOAS in London, wo er auch promovierte. Zuvor hat er in Bremen, Magdeburg und Montpellier studiert und bei einer deutschen NGO in Jerusalem gearbeitet.
Redigiert von Adrian Paukstat, Anna-Theresa Bachmann, Julia Nowecki