21.08.2019
„Niemand überquert das Mittelmeer ohne Grund“
Zains erste Lesung in Hildesheim am Weltflüchtlingstag im Juni 2019. Foto: Mareike Schrader (C)
Zains erste Lesung in Hildesheim am Weltflüchtlingstag im Juni 2019. Foto: Mareike Schrader (C)

Zain-Alabidin Al-Khatir flüchtete aus dem Sudan nach Deutschland und schrieb ein Buch darüber. Im Interview spricht er über Ausbeutung und Krieg in Libyen, Repression im Sudan und Schreiben als Therapie. Von Tamara Wyrtki

In Ihrem Buch „Ums Überleben kämpfen“ (Arete Verlag, 2019) berichten Sie sehr ausführlich von Ihren Fluchterfahrungen. Warum sind Sie aus dem Sudan geflohen? Gab es einen konkreten Anlass?

Ich war damals an der Uni in Omdurman und habe Englisch studiert. Wir haben uns ungefähr drei Mal pro Woche für Diskussionsrunden in der Uni getroffen, um über die Regierung zu sprechen. Und wenn du da etwas gegen die Regierung sagst, bist du richtig in Gefahr. Viele meiner Freunde wurden erschossen und getötet – an der Uni! Auch ich persönlich war drei Mal im Gefängnis und wurde bedroht. Ich habe den Sudan dann verlassen, weil ich nicht mehr studieren gehen konnte. Ich habe meinem Vater mitgeteilt, dass ich das Land verlassen muss. Er hat mir dann Geld gegeben, damit ich schnell wegkonnte.

Sie sind dann über Ägypten zunächst nach Libyen. Was war Ihr Plan?

Ich wollte in ein Land, in dem ich mich sicher fühlen konnte. In Ägypten war das nicht der Fall und weil ich keine große Wahl hatte, bin ich dann nach Libyen. Ich wusste zwar, dass Libyen auch nicht sicher ist, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schlimm werden würde. In Libyen musste ich erstmal Arbeit finden, denn gerade als Geflüchteter ist dort alles extrem teuer. Du musst für fast jeden Weg einen Schleuser finden, weil du dich kaum frei bewegen kannst in Libyen. Es ist sehr gefährlich.

Haben Sie problemlos Arbeit gefunden?

Die ersten zwei Monate habe ich in Bengasi gelebt und dort auch angefangen zu arbeiten. Arbeit ist sehr schwer zu finden und selbst wenn du Arbeit findest, kannst du nicht darauf vertrauen, dass du auch tatsächlich bezahlt wirst. Unter Umständen bezahlst du sogar mit deinem Leben dafür, arbeiten zu wollen.

Was meinen Sie damit?

Es gab einen zentralen Platz in Bengasi, wo wir uns getroffen und darauf gewartet haben, dass uns jemand zum Arbeiten abholt. Dort wurden Menschen abgeholt und an der nächsten Straßenecke getötet, nur um an ihnen Waffen zu testen. Das ist wirklich kaum zu glauben! Selbst Zivilist*innen haben in Libyen teilweise einen Panzer bei sich im Garten stehen. Es war pures Glück, dass ich überlebt habe.

Was haben Sie in Libyen gearbeitet?

Ich habe alles Mögliche gemacht, aber hauptsächlich Steine und Sand zum Bauen von Häusern geschleppt. Unter dem ehemaligen Staatsoberhaupt Gaddafi war noch alles anders, aber jetzt will jede*r ein Haus bauen. Alle Häuser werden von Ausländern gebaut, oft zu einem absoluten Hungerlohn. Du arbeitest den ganzen Tag und bekommst dafür umgerechnet ungefähr 50 Eurocent. Auf der anderen Seite sind die Kosten wahnsinnig hoch, zum Beispiel für Transport, da es ja auch kein öffentliches Verkehrsnetz gibt.

Dann waren wohl die Arbeitsbedingungen mitunter auch ein Grund, warum Sie Libyen verlassen haben?

Ja, aber diese Bedingungen waren nicht der einzige Grund. Viel schlimmer noch war, dass in der Küstenstadt Ben Jawad ein Krieg tobte, währenddessen wir zwei Wochen nichts zu Essen hatten und von allen Seiten Gefahren ausgesetzt waren. Eigentlich waren wir zum Arbeiten dort, aber irgendwann waren wir eingekesselt: rechts das Meer, links der Krieg und von oben die Bomben. Wir mussten die Munition tragen, mit der sich Leute beschoßen haben. Wir hofften auf Hilfe von der sudanesischen Botschaft. Doch als ich dort anrief, sagten die nur: „Ihr seid illegale Migrant*innen. Mit euch haben wir nichts zu tun.“ In dem Moment wusste ich, dass ich kein Land habe.

Wie sind Sie aus dieser Lage entkommen?

Ein Freund von mir hatte damals ein wenig Geld und hat uns – wir waren fünf – mit einem Taxi geholt und uns dann nach Bishr [Küstenort an der Großen Syrte, Anm. d. Red.] gebracht. Wir mussten einen Umweg über Sirte im Westen fahren, da im Osten Krieg herrschte. Acht Monate später habe ich Libyen dann verlassen und musste dafür erst noch arbeiten. Ich wollte eigentlich nicht nach Europa, denn ich wusste ja, dass die Menschen im Mittelmeer sterben. Aber um ehrlich zu sein, wäre ich lieber gestorben als in Libyen weiterzuleben.

Sie sind dann in Italien angekommen und letztendlich in Deutschland gelandet. Wie kam es dazu?

Wir waren drei Tage mit dem Boot auf dem Wasser unterwegs, bevor wir gerettet wurden. Wir wurden nach Sizilien gebracht und sind von dort mit einem Bus nach Mailand gefahren worden. Ein guter Freund von mir war die ganze Zeit bei mir. Wir wurden zu einem Krankenhaus gebracht und untersucht. Danach kamen wir zu einer Polizeistation, wo wir uns mit Fingerabdrücken registrieren sollten. Da wir allerdings an dem Tag zu spät waren, sagten sie uns, sie würden am nächsten Tag um acht Uhr in unserer Unterkunft vorbeikommen und uns dort die Fingerabdrücke abnehmen. Da wussten wir, dass das unsere letzte Möglichkeit ist, Italien zu verlassen.

Wohin wollten Sie Ihren Weg fortsetzen?

Wir hatten kein Ziel, aber wir wollten nicht in Italien bleiben. Wir sind dann in den nächsten Zug eingestiegen und nach München gefahren. Als wir dort um ein Uhr morgens ankamen, sind wir in eine Unterkunft im bayerischen Sonthofen gebracht worden. Das erste, was wir gemacht haben, war zu duschen und uns die schöne Stadt anzusehen!

„Ums Überleben kämpfen“, © Arete Verlag.Mittlerweile sind Sie seit einem Jahr im niedersächsischen Gronau. Dort machen Sie eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker und trainieren eine Fußball-Jugendmannschaft. In der Zwischenzeit haben Sie aber noch ein Buch geschrieben. Was war Ihre Motivation dafür?

Hätte ich das Buch nicht geschrieben, hätte ich eine Therapie gebraucht. Obwohl ich damals ein Praktikum als Kfz-Mechatroniker in Hildesheim machte und sehr früh aufstehen musste, konnte ich nicht anders: Ich musste mich um zwei Uhr morgens hinsetzen und meine Geschichte aufschreiben. Ich konnte nicht schlafen, bevor ich meine Geschichte nicht aus dem Kopf hatte. Viele meiner Freunde sind jetzt in Therapie, weil sie nicht verarbeiten konnten, was sie erlebt haben. Nachdem ich alles aufgeschrieben hatte, hatte ich meine Ruhe.

Welche Zielgruppe möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen?

Natürlich wäre es schön, wenn das Buch so viele Menschen wie möglich erreicht, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und vielleicht der ganzen Welt. Es gibt viele Leute, die verstehen uns Geflüchtete nicht. Sie wissen nicht, welche Probleme wir haben, warum wir eigentlich hier sind. Es gibt niemanden, der das freiwillig macht. Niemand überquert das Mittelmeer ohne Grund.

Wie steht es um Ihren Asylantrag? Haben Sie bereits eine Entscheidung erhalten?

Im Juni 2017 wurde mein Antrag abgelehnt. Das war für mich sehr hart. In dem Moment, in dem du die Wahrheit sagst, glaubt sie niemand. Aber mehr als die Wahrheit habe ich nicht. Nachdem ich die Entscheidung mitgeteilt bekommen habe, bin ich dagegen vorgegangen und habe geklagt.

Mit welchem Ergebnis?

Momentan warte ich seit über eineinhalb Jahren auf die Entscheidung des Gerichts. Gerade fühlt sich meine Situation wie ein Gefängnis an. Ich kann mich kaum bewegen, ich kann nicht reisen oder auch nur in Niedersachsen irgendwohin fahren. Ich bekomme nicht einmal Ausbildungsbeihilfe, da der Sudan in Deutschland nicht als Land mit guter Bleibeperspektive gilt – ein Land, aus dem Saudi-Arabien sudanesische Soldaten rekrutiert, um sie im Jemen kämpfen zu lassen.

Wie schätzen Sie die aktuellen politischen Umbrüche im Sudan ein?

Die Situation im Sudan ist noch immer hoffnungslos. Wir haben dort seit circa sechs Monaten große Demonstrationen. Doch obwohl Präsident Omar al-Bashir im April dieses Jahres zurückgetreten ist, haben noch immer seine Leute das Sagen. Diejenigen, die an seine Stelle getreten sind, gehen genauso gewaltvoll gegen Demonstrant*innen vor wie einst al-Bashir.

Im Juni haben sie sogar das Internet abgeschaltet, damit niemand nachvollziehen kann, was mit den Körpern der getöteten Demonstrant*innen passiert. Erst als kürzlich ein Abkommen mit der zivilen Opposition erreicht wurde, haben sie das Internet wieder angeschaltet. Es besteht auch kein Interesse daran, Omar al-Bashir vor Gericht zu bringen, obwohl er eigentlich vor den Internationalen Gerichtshof gehört und wegen früherer Verbrechen angeklagt ist. Es ist wirklich unglaublich, was dort gerade passiert.

Wenn Sie an die Zeit Ihrer eigenen Flucht zurückdenken, sehen Sie Ähnlichkeiten zur jetzigen Situation?

Es ist genau das Gleiche. Wir haben im September 2013 im Sudan gegen die Ölpreiserhöhungen demonstriert und den Rücktritt al-Bashirs gefordert. Auch damals wurden friedliche Proteste vom sudanesischen Geheimdienst und der Polizei niedergeschlagen. Es wurden Menschen getötet und Tausende verletzt. Ich sehe nicht, dass sich das ändern wird. Das Gute ist, dass die Demonstrant*innen bis jetzt nicht zu Waffen gegriffen haben und friedlich gegen die Regierung demonstrieren. Das ist unsere große Hoffnung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde am 13. Juli 2019 geführt.

Das Buch: Zain-Alabin Al-Khatir: Ums Überleben kämpfen. Meine Flucht aus dem Sudan und Libyen nach Deutschland. Arete Verlag 2019.

Artikel von Tamara Wyrtki
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Diana Beck