25.10.2019
Verzerrungen und Vorurteile – eine ausführliche, kritische Rezension zu Constantin Schreibers „Kinder des Koran“
Der Schulunterricht in muslimisch geprägter Länder ist ein häufig diskutiertes Thema – doch wie haltbar sind Constantin Schreibers Thesen?  Foto: Debby Hudson
Der Schulunterricht in muslimisch geprägter Länder ist ein häufig diskutiertes Thema – doch wie haltbar sind Constantin Schreibers Thesen? Foto: Debby Hudson

Antisemitismus, problematische Frauenbilder und religiöser Fundamentalismus prägen die Schulbücher muslimischer Länder und dadurch die Werte von Muslim*innen – das behauptet der Journalist Constantin Schreiber in Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen. Eine genaue Lektüre zeigt jedoch: Schreibers Analyse ist ungenau, verzerrend und bisweilen faktisch falsch und verbreitet xeno- und islamophobe Positionen, Stereotype und Diskurse. Eine Rezension von Jan Altaner

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Nehmen wir an, eine nicht weiße Journalistin schriebe auf der Grundlage von je einem Schulbuch aus Russland, Ungarn, den USA, Kolumbien und Deutschland ein Buch mit dem Titel „Kinder der Bibel. Was christliche Schüler lernen“. Dieses Buch gäbe vor, christliche Gesellschaften zu erklären und den Leser*innen näher zu bringen. Es wäre kaum denkbar, dass ein Werk mit einer solchen Datengrundlage, voller Allgemeinplätze über völlig verschiedene christlich geprägte Gesellschaften, unhinterfragt in Deutschland zu einem Sachbuchbestseller würde.

Im Mai 2019 veröffentlichte der ARD-Fernsehjournalist Constantin Schreiber solch ein Buch – jedoch nicht über uns, die Christ*innen, sondern die, die Muslim*innen: „Kinder des Koran. Was muslimische Schüler lernen“ (im Folgenden KdK). Obwohl Wissenschaftler*innen seine Berichterstattung über Muslim*innen in Deutschland kritisieren,[1] gilt der Arabisch sprechende Journalist Schreiber mittlerweile als Experte für die ‚fremde Welt der Muslim*innen‘ und versteht sich selbst als „Brückenbauer mit kritischem Blick“.[2] Autor und Werk bekamen zuletzt viel unkritische Aufmerksamkeit in TV-Berichten, Talkshows sowie Online-Medien und über Monate befand sich das Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste für Sachbücher. Doch das Unbehagen, das der eingangs durchgeführte Orientalismus-Check auslöst – eine über die Anderen getätigte Aussage klingt unhaltbar, wenn sie auf den eigenen, westlichen Kontext übertragen wird – verlangt eine kritische Auseinandersetzung mit Schreibers Buch.

Diese ausführliche Rezension stützt sich auf eine akribische Untersuchung von KdK. Jede einzelne der von Schreiber benutzten Quellen wurde recherchiert, die Schulbücher aus Palästina und Ägypten ausfindig gemacht und mit Schreibers Analysen verglichen. Dabei wurde offenbar, dass Schreiber unwissenschaftlich, journalistisch unsauber und manipulierend arbeitet, denn sein Buch enthält falsche Zitate, erfundene Überschriften und Inhalte; unlautere Aneignungen fremder Texte; eine mangelhafte Quellenbasis; Verfälschungen von Quellen und bewusste sprachliche Suggestionen sowie inhaltlich falsche Schlussfolgerungen. Die Nachprüfbarkeit seiner Analyse ist nicht möglich, da die benutzten Schulbücher nicht klar referiert und keine Gründe für ihre Auswahl genannt werden. Außerdem stützt sich KdK in weiten Teilen auf individuelle Beobachtungen sowie unhinterfragte, nicht nachprüfbare Aussagen anonymer, einheimischer Informant*innen, die passenderweise stets Schreibers Meinung wiedergeben.

Kinder des Koran gibt nur vor, aussagekräftig und ergebnisoffen zu sein, sowie Verständnis für muslimische Gesellschaften zu schaffen. Tatsächlich ist das Buch aber grob verallgemeinernd, nicht repräsentativ und konstruiert ein einheitliches Bild antisemitischer, frauenverachtender und fundamentalistischer Muslim*innen. Es verbreitet, legitimiert und befördert xeno- und islamophobe Positionen, Stereotype und Diskurse, die es dem rechten politischen Rand ermöglichen, sich den Kampf gegen Antisemitismus und Ungleichbehandlung der Geschlechter diskursiv anzueignen und argumentativ gegen die als anders konstruierten Muslim*innen in Stellung zu bringen. Daher täuscht Schreibers Image des integren, toleranten und wahrheitsliebenden Brückenbauers. Insbesondere Medienmacher*innen sollten sich kritischer mit Constantin Schreiber und seiner Arbeit auseinandersetzen.

Vorhaben und Aufbau des Buches

Der Klappentext stellt den studierten Juristen Constantin Schreiber als „Kenner der Region“ vor (gemeint scheint die ‚Region muslimischer Gesellschaften‘). In KdK bezieht er sich mal auf Araber*innen und den ‚muslimischen Nahen Osten‘, mal auf Muslim*innen im Allgemeinen. Sein Buch fußt auf der Untersuchung von Schulbüchern verschiedener Fächer aus muslimisch geprägten Gesellschaften um nachzuvollziehen, welche Werte sie vermitteln. Die zentrale Annahme des Buches ist, dass Schulbücher den aktuellen Stand einer Gesellschaft widerspiegelten, weshalb eine Analyse dieser Schulbücher ein tieferes Verständnis muslimischer Gesellschaften ermögliche (Vgl S.7).

Diese Annahme ist jedoch (insbesondere für nicht demokratische Länder) nicht zutreffend, da sie nicht ausreichend zwischen Staat und Gesellschaft unterscheidet. So spiegelt ein durch ein autokratisches Regime ohne Mitsprache der Bevölkerung gestaltetes Schulbuch eben nicht die Gesellschaft wider, sondern versucht im Gegenteil auf die Entstehung einer vom Regime erwünschten gesellschaftlichen Realität hinzuwirken. Daher kann – anders als es das Buch behauptet –ohne eine umfassende Kontextualisierung nicht einfach von einem Schulbuchtext auf gesellschaftliche Realitäten oder die Wertesysteme einer Bevölkerung geschlossen werden.

Hinsichtlich der Anzahl der untersuchten Schulbücher, welche die Grundlage für seine Analyse bilden, macht Schreiber widersprüchliche Aussagen. In der Einleitung spricht er von „insgesamt weit mehr als 100 Bücher[n] aus dem Irak, Jordanien, Libanon, Palästina, Ägypten, dem Iran, der Türkei und Afghanistan“ (S.7), später von „gut hundert Bücher[n]“, die er sich „angesehen“ habe (S.283, eigene Hervorhebung). Umfassende Auszüge enthält das Buch jedoch nur aus je einem Schulbuch aus Afghanistan, Iran, Ägypten, Palästina und der Türkei. Neben knappen Ländereinführungen analysiert und bewertet Schreiber die abgedruckten Schulbuchinhalte unter Hinzuziehung deutscher Wissenschaftler*innen sowie einheimischer Informant*innen. Insbesondere untersucht der Autor die thematische Trias aus Antisemitismus, Unterdrückung der Frau und einem intoleranten, fundamentalistischen Islamverständnis sowie „die Auswirkungen bei uns, die insbesondere wegen der Migration aus muslimischen Ländern spürbar werden“ (S.11).

Um es vorwegzunehmen: Schreiber urteilt eindeutig über seine Stichprobe von Schulbüchern. Kein Buch sei ihm „positiv aufgefallen“ (S.283). Tatsächlich enthalten die abgedruckten Schulbücher problematisch und revisionsbedürftig erscheinende Inhalte und erfüllen deutsche Schulbuchstandards nicht. Insbesondere seine Auseinandersetzung mit einem eindeutig antisemitischen afghanischen Schulbuch, das möglicherweise durch internationale – und auch deutsche – Entwicklungshilfe (mit)finanziert wurde, weist auf vorhandene Missstände hin. Im Fokus dieser Rezension stehen jedoch nicht die untersuchten Schulbuchinhalte, die weder verteidigt noch rechtfertigt werden sollen, sondern eine kritische Untersuchung und Auseinandersetzung mit Constantin Schreibers Analyse.

Eine „Schwarz-Weiß-Welt mit Muslimen und Nichtmuslimen“

Die dem Buch innewohnende Problematik beginnt bereits mit dem Titel „Kinder des Koran. Was muslimische Kinder lernen“, den Schreiber ausgewählt habe, „weil in allen Büchern ein muslimisches Weltverständnis in mehr oder weniger ausgeprägter Form eine Rolle spielt“ (S.11). Dieser Titel setzt eine nichtexistierende Uniformität aller Muslim*innen ebenso voraus wie die Annahme, dass „muslimisch“ als Analysekategorie für verschiedenste Gesellschaften ausreiche.

Auch unterstellt der Titel fälschlicherweise der Koran sei die entscheidende Prägung für alle Schüler*innen in muslimischen Ländern. Dabei sind die untersuchten Länder weder homogen muslimisch, noch definieren sich alle dort lebenden Muslim*innen in erster Linie oder überhaupt durch ihren Glauben. Die Dominanz des Islams in seiner Analyse verstärkt der Autor dadurch, dass es sich bei zwei der fünf von ihm ausgewählten und in langen Auszügen wiedergegebenen Schulbüchern dezidiert um religiöse Schulbücher handelt (Afghanistan: Koranexegese und Iran: Ethik).

Doch während Schreiber von den Schulbüchern fordert „den Fokus auf Vielfalt statt auf Homogenität zu setzen“ (S.279) und ihnen vorwirft, „eine Schwarz-Weiß-Welt mit Muslimen und Nichtmuslimen“ (S.58) zu zeichnen, konstruiert er selbst das Bild homogener, andersartiger Muslim*innen und führt damit seinen eigenen Vorwurf ad absurdum. Diese konstruierte Dichotomie zwischen uns, dem modernen, rationalen, sachlichen, nicht-antisemitischen, nicht-sexistischen, christlich geprägten, moderaten Westen – und den Anderen, dem emotionalen, antisemitischen, frauenverachtenden, religiös-fundamentalistischen Kollektiv der Muslim*innen durchzieht das gesamte Buch. Er entkontextualisiert problematische Textstellen einzelner Schulbücher und verallgemeinert sie unverhältnismäßig auf die Gesamtheit der Muslim*innen – für Graustufen, Zwischentöne, Vielfalt und Komplexität innerhalb und zwischen den diversen, auf drei Kontinenten liegenden muslimischen Gesellschaften ist in KdK kein Platz.

Schreibers Argumentation zufolge existieren Frauenverachtung und Antisemitismus in Deutschland und Europa ohne Migration nicht (Vgl. S.8). Den vorhandenen Antisemitismus, Sexismus oder ideologischen Fanatismus der Mehrheitsgesellschaften in europäischen Ländern leugnet er („Selbstverständlich ist Jude kein Schimpfwort [in Europa]“ (S.8)). Stattdessen verortet er diese gesamtgesellschaftliche Probleme ausschließlich bei der muslimischen Minderheit, auch um das deutsche Selbstbild durch Abgrenzungen von einem Anderen zu konstruieren. Der antisemitische Anschlag auf eine Synagoge in Halle im Oktober 2019 verdeutlicht beispielhaft die Absurdität von KdKs Behauptungen, die ferner dazu beitragen, dass Staat und Gesellschaft blind für den Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationshintergrund bleiben und diesen ausschließlich den Anderen zuweisen.

Welche Länder, Schulbücher und -auszüge wählt er - und warum?

Die Beschaffung der Schulbücher stellt Schreiber als schwierig dar (Vgl. S.14) und behauptet in einer Talkshow, ägyptische Schulbücher bekäme man nur im Land, sie würden „auch nicht online gestellt“.[3] Im Fazit räumt er jedoch ein, dass einige Bildungsministerien die Schulbücher selbst ins Internet stellten (Vgl. S.283). Tatsächlich ermöglicht eine einfache Google-Suche des arabischen Titels und „PDF“ in wenigen Sekunden den Zugriff auf das palästinensische und auf eine aktuellere Version des ägyptischen Schulbuches.

Weder begründet Schreiber, warum, noch wie er die Länder, Schulbücher und deren Schulbuchauszüge für seine Untersuchung auswählte, die bereits in ihrem Ansatz in keiner Weise repräsentativ ist, da die nicht belegte Stichprobe viel zu klein ist, um seine verallgemeinernden Aussagen und Schlussfolgerungen zu rechtfertigen. Dennoch behauptet er, seine Auswahl sei „exemplarisch“ (S.10) und ein „Querschnitt“ dessen, „was Schüler in diesen Ländern lernen“ (S.7). Arabischsprachige Schulbücher aus dem Libanon, Jordanien oder Irak könnte Schreiber selbst lesen, doch enthält KdK weder Auszüge noch Verweise auf Schulbücher von dort. Stattdessen nimmt er Auszüge aus der Türkei, dem Iran und Afghanistan auf – obwohl er weder Türkisch, Persisch noch Dari/Paschtu beherrscht (Vgl. S.9).

Welche Expertise und Qualifikation er für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Schulbüchern der Türkei, Afghanistans und des Irans mitbringt, ist angesichts fehlender Sprach-, Geschichts-, Kultur- und Pädagogikkenntnisse unklar. Sein Image des arabischsprechenden ‚Islamexperten‘ ohne Migrationshintergrund scheint zu genügen. Das Buchcover zeigt sein Konterfei vor scheinbar arabischer Schrift, der Sprache des Korans, die tatsächlich jedoch Persisch ist. Dieses Design-Missgeschick – weder spricht Schreiber Persisch, noch ist es die ursprüngliche Sprache des Korans – ist sinnbildlich für KdK, dessen scheinbare Überzeugungskraft sich bei genauerer Hinsicht als oberflächlich, verallgemeinernd und fehlerhaft entpuppt.

 Ullstein Buchverlage

Hinzu kommt, dass Schreiber „auch nicht alle Bücher aus diesen Ländern [Afghanistan, Iran, Türkei] komplett übersetzen lassen [konnte]“, sondern gemeinsam mit Muttersprachler*innen durch diese Bücher blätterte, auf der Suche nach „Interessante[m], Auffällige[m] und Berichtenswerte[m]“ (S.9) – ohne zu definieren, was er darunter versteht. Drei der fünf Bücher, deren in Auszügen abgedruckte Inhalte die Basis Schreibers Analyse bilden, wählte er demnach aus, ohne dass ihm ihre genauen Übersetzungen geschweige denn die Übersetzungen anderer Werke, die einen Vergleich ermöglicht hätten, vorlagen.

Demnach kann er im Falle dieser Länder allein sprachlich nicht fähig gewesen sein, zu beurteilen, was in den Schulbüchern ‚üblich‘ ist. Aus diesen fehlenden Kompetenzen folgt, dass die ausgewählten Bücher und damit KdK nicht als „exemplarisch“ (S.10) gelten können. Wie reagierten wir, behauptete eine nicht-europäische Journalistin ohne Fremdsprachenkenntnisse, jeweils ein bei der Betrachtung mit einer Übersetzerin ‚interessant‘ scheinendes deutsches, französisches und italienisches Schulbuch seien exemplarisch für die jeweilige Gesellschaft oder gar für ganz Europa?

Der ‚authentische‘ Blick als farce

Ursprünglich plante Schreiber, „die prägnantesten, überraschendsten, bedenklichsten Ausschnitte“ der Schulbücher zu präsentieren (S.10). Davon sei er jedoch abgerückt, da Kritiker*innen ihm sonst vorhalten würden, „die krassesten Aussagen aus dem Kontext [zu] reißen und moderatere Stellen aus[zu]blenden“ (S.10) – womit er mögliche Kritik von vornherein abwertend als überzogen darstellt. Allein die Beschreibung seines ursprünglichen Plans zeigt stellvertretend für das gesamte Buch, dass er den für genaue Gesellschaftsanalysen notwendigen Kontext von Aussagen als unwichtig einschätzt. Weiter habe Schreiber „exemplarisch mehrere Schulbücher annähernd in Gänze übersetzen lassen“ und beispielsweise „immer wiederkehrende Aufgaben oder Inhaltsverzeichnisse“ „behutsam gekürzt“ (S.10). So entstehe ein „ein authentischer Blick“ mithilfe dessen sich „jeder Leser […] einen eigenen Eindruck“ verschaffen könne (S.10).

Doch dieser „authentische Blick“ ist eine Farce. Schreibers Auswahl ist intransparent und selektiv. Entgegen seinen Behauptungen kürzt er nicht „behutsam“, sondern streicht gezielt Inhalte heraus, wie die Überprüfung des 140 Seiten starken palästinensischen Schulbuches zeigt, von dem KdK nur 25 Seiten übernimmt. Dessen Kapitel über Facebook oder das Engagement der unverschleierten Palästinenserin Hind al-Husseini für die Bildung von Frauen und Kindern kürzt Schreiber heraus. Vermutlich, da sie dem einförmigen Bild einer rückständigen, frauenverachtenden muslimischen Schulbildung widersprechen würden, das Schreiber in seinem Buch zu vermitteln versucht.

Häufig verweist Schreiber – wissenschaftlich unsauber – auf problematische Stellen in anderen Schulbüchern, ohne diese zu belegen (Vgl. z.B. S.7f, 9, 224). Textabschnitte, die seinen Darstellungen wiedersprechen, framed er durch voreingenommene, tendenziöse und teils falsche Schlussfolgerungen sowie bestätigende Aussagen seiner einheimischen Informant*innen als letztendlich doch ‚problematisch‘. Beispielhaft zeigt dies sein Resümee: „Es ist nicht alles schlecht, was ich zu lesen bekam“ (S.8). Doch noch der gleiche Absatz endet mit seinem Verweis auf iranische Mathematikbücher, die durch Abbildungen von Militärraketen versuchten, die Schüler*innen für das Militär zu begeistern. Der gezielte Einsatz einprägsamer Einzelbeispiele und sein gezieltes Framing vermitteln den Lesenden einen sehr negativen Gesamteindruck.

Der "Experte" Schreiber und seine Expert*innen

Schreiber bezeichnet sein Projekt selbstentlarvend als „[keine] wissenschaftliche Studie“, sondern „vielmehr ein[en] Blick in eine mir unbekannte Welt“ (S.56), womit er bei seinem Publikum exotisierende Vorstellungen von Muslim*innen als mysteriös und geheimnisvoll evoziert. Seiner vermeintlichen Unkenntnis widerspricht er selbst mit seiner Aussage: „Ich erwartete also eindeutig problematische nationalistische und religiöse Inhalte“ (S.223). Außerdem offenbart er hier seine Voreingenommenheit. Anstatt als „Experte“ zu differenzieren und zu kontextualisieren, fällt er durch krasse Verallgemeinerungen auf, die islamo-, und xenophoben Diskursen Vorschub leisten, wie „Ist der muslimische Gott also per se zornig?“ (S.15). Bis auf das gut belegte Ägypten-Kapitel stützt sich KdK zumeist auf vereinzelte Zeitungsartikel und Berichte. Zum Iran gibt es außer einer Koranübersetzung keine einzige Sachquelle und nur einmal im gesamten Buch nutzt Schreiber eine arabischsprachige Sekundärquelle.

Die Pädagogik-Professorinnen Susanne Lin-Klitzing und Julia Schwanewedel konsultiert Schreiber häufig, um seiner Analyse den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu geben, jedoch besitzen beide keine Expertise für die untersuchten muslimischen Gesellschaften. Wie problematisch die Annahme ist, einzelne Schulbücher könnten kontextlos von Pädagog*innen ohne Regionalkenntnisse sinnvoll analysiert werden, zeigen beispielhaft Julia Schwanewedels Ausführungen zu den Folgen militaristisch geprägter Schulbücher in Ägypten: „Wenn einem das als junger Mensch immer wieder vermittelt wird, dann wird man eine bestimmte Sicht auf die Bedeutung von Waffen entwickeln und z.B. einen Militärstaat als folgerichtig empfinden.“ (S.167) Ihre deterministische Überlegung lässt dabei völlig außer Acht, dass 2011 Millionen von Ägypter*innen gegen den autokratischen, militaristischen Herrscher demonstrierten und dabei ihr Leben riskierten – obwohl sie das ägyptische Schulsystem durchlaufen waren.

Die Auseinandersetzung mit Schulbuchinhalten muslimischer Gesellschaften stellt Schreiber im Interview mit der Welt als „Blackbox“[4] dar, denn selbst „Wissenschaftler hätten […] häufig keine Zugänge zu Informationen aus muslimischen Ländern“ (S.271f). Dabei gibt es in Deutschland das renommierte Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung, das eine umfassende Schulbuchsammlung besitzt und dessen Wissenschaftler*innen Schulbuch-Konferenzen mit arabischen Partner*innen vor Ort durchführen.[5]

Die Arbeit des Instituts passt also perfekt zu Schreibers angeblichem Vorhaben – doch er erwähnt es kein einziges Mal und lässt seine Intention, mit journalistischer Umsicht Schulbücher zu untersuchen, ein weiteres Mal mehr als fragwürdig erscheinen. Stattdessen erlaubt ihm diese Auslassung, sein Image als alleiniger deutscher Aufklärer, der die ‚fremde Welt der Muslim*innen versteht und erklärt‘, weiter auszubauen.

Länderanalyse Afghanistan

Das Kapitel „Kinder Afghanistans“ beginnt der Autor mit einer lediglich einseitigen (!) ‚Kontextualisierung‘, der Schilderung der miserablen aktuellen (Bildungs-)Situation in Afghanistan. Übergangslos schließt er daran eine Passage über die Bedeutung des Islams aus dem afghanischen Religionsbuch an, wodurch er einen Wirkungszusammenhang zwischen der katastrophalen Situation sowie der religiösen Schulbildung und dem Islam in seiner Gänze vortäuscht. Die ausländischen Interventionen und Bürgerkriege seit 1979 unterschlägt Schreiber und damit Aspekte, die für Afghan*innen eine gewisse Ablehnung äußerer Einflussnahme durchaus plausibel erscheinen ließen. Dafür verallgemeinert er das fundamentalistische Religionsverständnis des Buches auf den Islam in seiner Gesamtheit in seiner rhetorischen Frage „Ist der muslimische Gott also per se zornig?“ (S.15).

Die von Schreiber angeführten übersetzten Schulbuchauszüge des afghanischen Schulbuches erscheinen tatsächlich dogmatisch, indoktrinierend und gefährlich, da sie deutliche Formen von Antisemitismus und ein sehr problematisches Frauenbild sowie ein fundamentalistisches Religionsverständnis enthalten. Schreibers Recherche ergibt, dass Deutschland neben Ländern wie den USA, Kanada oder Japan den Afghanistan Reconstruction Trust Fund (ARTF) mitfinanziert, der einen Teil des afghanischen Haushaltes stellt, aus dem laut Schreiber das Schulbuch finanziert wurde. Folglich sei es durch deutsche finanzielle Hilfe in Umlauf gebracht worden (S.49).

Dieser Aspekt von Schreibers Recherche erscheint tatsächlich bedeutsam und wichtig, da er nachweist, dass Kontrollmechanismen der internationalen Geberländer zumindest in diesem einen Fall nicht ausreichten und antisemitische Inhalte möglicherweise durch internationale Geberländer mitfinanziert wurden. Seine diesbezüglichen Vorschläge, wie stärkere Kontrollmechanismen oder die Zusammenarbeit in der Schulbucherstellung mit Expert*innen aus den Geberländern, sind durchaus sinnvoll.

Doch Schreiber polemisiert, vereinfacht und verallgemeinert diesen Befund und nutzt ihn um seine Behauptung, Deutschland leiste zu viel Entwicklungshilfe („manche Länder [werden] mit Fördermitteln geradezu geflutet“ (S.279f)), durch die Unterstellung einer Mitschuld an der „Indoktrination junger Menschen in anderen Ländern“ (S.278) zu ergänzen. Dabei ist die Sachlage noch nicht sicher geklärt; die Bundesregierung finanziert die Entwicklung und Produktion afghanischer Schulbücher nicht direkt und überprüft derzeit, aus welchen Mitteln das afghanische Schulbuch finanziert wurde, wie einer ausschließlich auf KdK gestützten Anfrage der AfD-Fraktion zu entnehmen ist.[6]

Deutschlands Unterstützung der afghanischen Lehrerausbildung verwirft Schreiber polemisch, da diese mit „finanzierten Missionierungsbüchern Schülern Angst vor Gott mach[t]en und verbreite[te]n, Ungläubige verdienten es, gequält zu werden“ (S.278). Er fordert, vorerst „alle Zahlungen an die Regierung in Kabul ein[zu]frieren“ (S.279), ohne auf die sozioökonomische Situation in Afghanistan und die Folgen einer Zahlungsaufkündigung einzugehen.

Er schlägt vor, nur den Ländern finanzielle Zuwendungen zukommen zu lassen, die ihre Bildungshoheit aufgeben und sich westlichen Wünschen und Werten anpassen (S.278-281), was jedoch die Tür für problematische westliche Einflussnahmen öffnen und die Schulbuchinhalte in der Bevölkerung diskreditieren würde. Zur Untermauerung seines Vorschlags behauptet Schreiber, die palästinensischen Behörden würden sich gegen die Beeinflussung ihres antisemitischen Curriculums wehren; so habe „das Hilfswerk UNRWA in Palästina schädliche Einflüsse durch antisemitische Schulbücher mittels eines neuen Curriculums und ergänzender Materialien abfedern woll[en]“ (S.280). Mit „abfedern“ spielt er auf den Fortbestand antisemitischer Inhalte auch nach einer Schulbuchreform an – doch spricht seine Quelle, ein Artikel der Times of Israel,[7] überhaupt nicht von antisemitischen, sondern von Israel-feindlichen Inhalten, was er als Nahostexperte differenziert betrachten müsste.

Länderanalyse Iran

KdKs Ländereinführung charakterisiert den Iran unzureichend als einen bis zur Revolution 1979 pro-westlichen Staat, der aber seitdem die USA und den Westen als Feinde betrachte (Vgl. S.51). Die Rolle westlicher Geheimdienste, die 1953 den demokratisch legitimierten Premierminister Mohammad Mossadegh stürzten, und ausländischer Regierungen, die bis 1979 das autokratische Pahlavi-Regime unterstützten, das die eigene Bevölkerung systematisch unterdrückte, erwähnt Schreiber beispielsweise mit keinem Wort. Die vielfältigen Ursachen der iranischen Revolution diskutiert er ebenso wenig wie die Komplexität des iranischen Alltags.

Im Falle Irans ist Schreibers Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft besonders problematisch, denn er schließt von den Schulbuchinhalten für die ein autokratisches Regime verantwortlich ist auf die Werte der Gesellschaft des Landes. So charakterisiert er die iranische Gesellschaft (wie auch die anderen untersuchten Gesellschaften) auf der Grundlage des untersuchten Schulbuches vornehmlich als ‚islamisch‘. Er framed das Land hingegen nicht als autoritären, unterdrückerischen Staat, der an seinem eigenen Machterhalt interessiert ist und Instrumente wie das Ethik-Buch nutzt, um seine Herrschaft durch religiöse Verweise zu legitimieren und zu erhalten – obwohl dies der iranischen Realität stärker entspräche.

Schreibers Analyse der zufolge ausschließlich die islamische Prägung des Staates für den iranischen Schulbuchinhalt verantwortlich sei ist entscheidend für sein Projekt, das eine Vergleichbarkeit sehr diverser Gesellschaften allein aufgrund einer imaginierten Einförmigkeit der islamischen Welt postuliert – und dafür jeweils entscheidende gesellschaftliche Kontexte, wie im Falle Irans das autokratische Staatssystem, als nachranging bewertet, verzerrt oder sogar auslässt.

Fehlende Wissenschaftlichkeit und falsche Schlussfolgerungen

Schreiber selbst ist kein ausgewiesener Kenner Irans und beherrscht die Landessprache Persisch nicht. Sein Kapitel über Iran kommt ohne wissenschaftliche oder journalistische Quellenverweise aus, eine Praxis, die er selbst am iranischen Schulbuch kritisiert (Vgl. S.55). Das Buch folgt der problematischen, eurozentrischen Annahme, dass allgemeingültige Aussagen über Phänomene in nichtwestlichen Gesellschaften ohne die Hinzuziehung jeglichen Kontexts möglich und berechtigt seien, da die europäischen Normen und Werturteile allgemeine Geltung beanspruchen könnten. So führt Schreiber die deutsche Pädagogin Susanne Lin-Klitzing als wissenschaftliche ‚Expertin‘ für das iranische Schulbuch an, obwohl sie bisher weder zu Iran noch einer der anderen untersuchten Gesellschaften veröffentlichte.

Aus dem im iranischen Schulbuch beschriebenen „Allianzgedanken zwischen Muslimen“ und fehlenden Verweisen auf innerkonfessionelle Freundschaft schließt sie beispielsweise darauf, dass dies dazu führen könne, „dass auch Zuwanderer bei uns Freundschaft und Zusammenhalt unter Muslimen als besonderen Wert begreifen“ (S.116). Wie sie zu dieser Schlussfolgerung kommt, ist unklar. Außerdem ist wohl davon auszugehen, dass nur wenige ideologisch gefestigte, regimetreue Iraner*innen überhaupt nach Deutschland einwandern – ihre verallgemeinernde Schlussfolgerung schürt in jedem Fall unnötig Ressentiments gegenüber allen Muslim*innen in Deutschland. In Europa gewinnen Diskurse und Parteien an Popularität, die Migration und Geflüchteten ausschließlich feindlich gegenüberstehen. Daher sollte wohl eher die Frage sein, wie viel Solidarität wir in Deutschland für die Anderen – ob anderen Glaubens, anderer Hautfarbe oder anderer Sprache – übrig haben, anstatt dass mangelnde Solidarität diskursiv ausschließlich bei den Anderen verortet wird.

Schreiber beruft sich auf Menschen wie den in Deutschland lebenden Iraner „Reza“ als einheimische Informant*innen, gestützt auf die Logik: ‚Wenn selbst der Iraner es sagt, muss es stimmen.‘ Allein ihre Herkunft soll sie in Schreibers Augen wohl dazu legitimieren, unhinterfragt allgemeingültige, umfassende Aussagen über die jeweiligen Länder zu treffen. So zitiert er Reza: „Für ihn stehen diese Bücher für das gesamte Bildungssystem im Iran, das keine säkularen oder nicht religiösen Inhalte kennt“ (S.112), oder: „Wir waren alle sehr gläubige Muslime – ausnahmslos.“ (S.117) Doch auch dieser Versuch, die Überzeugungskraft des ‚Authentischen‘ zu nutzen, kann nicht über die dünne, unzureichende Faktenbasis hinwegtäuschen.

Dieser nicht überprüfbaren oder repräsentativen, sehr subjektiven und zumeist anonymen Aussagen bedient sich Schreiber nicht nur für seine Länderanalyse Irans, sondern auch für Ägypten, Palästina und die Türkei. Diese Taktik Schreibers erweckt unweigerlich den Anschein, dass er seine eigenen Ansichten einheimischen Informant*innen in den Mund legt, um ihnen so Bestätigung zu verschaffen.

Geschickt nutzt Schreiber diese Aussagen einheimischer Informant*innen, die wir in einem westlichen Kontext niemals unhinterfragt hinnehmen würden. So setzt Schreiber ein Zitat Rezas bewusst an das Ende des Iran-Kapitels: „Keiner von uns [Schüler*innen im Iran] zweifelte an der Wahrhaftigkeit des Islams, den religiösen Regeln und an der Idee, die Welt solle muslimisch werden“ (S.117). Ohne sich auf die Schulbuchinhalte oder andere Veröffentlichungen stützen zu können, schürt Schreiber so die Angst seines Publikums vor einer muslimischen Weltübernahme.

Länderanalyse Ägypten

Moloch und demographische Zeitbombe

Obwohl Ägypten das Land ist, das Schreiber durch dortige Arbeitserfahrungen besser kennen sollte, fällt seine Kontextualisierung enttäuschend aus. Stellvertretend für ganz Ägypten beschreibt er Kairo als schmutzigen, chaotischen, lärmenden Moloch, und bemängelt, dass die Stadt bei ihm als westlichem Besucher – anders als andere „[e]xotische, chaotische Städte“ außerhalb des Westens, keine Faszination mehr erwecke (S.119). Etwas habe sich seit den 1990er-Jahren verändert, so Schreiber andeutungsreich. Kairo sei „irgendwie gekippt“ (S.119). Er scheint damit auf eine Islamisierung der Gesellschaft anzuspielen, da sich an das aufgeführte Zitat eine Schilderung der schlechten wirtschaftlichen Situation der Minderheit der koptischen Christ*innen und ihre Verfolgung – durch Islamist*innen – anschließt.

Schreiber setzt die Situation der Kopt*innen mit derjenigen der verfolgten Christ*innen Syriens und des Irak implizit gleich, da er – ohne Quellen oder weitere Angaben – behauptet, dass nur deshalb kein „Massenexodus“ der Kopt*innen stattgefunden habe, da ihre wirtschaftliche Situation schwächer als die der Christ*innen in Syrien und dem Irak sei (S.120). In die Schilderung eines armen christlichen Kairoer Viertels fügt er folgende Beschreibung einer vorgeblich dort erlebten Situation ein – um mit seinen eigenen Worten zu sprechen: „Pathetischer geht es kaum“ (S.228):

„An einer Hauswand an der Kreuzung türmen sich halb aufgerissene Müllsäcke, aus denen Hunde und Ratten hervorkriechen und in denen dreckige, zerlumpte Kinder nach Brauchbarem wühlen. Daneben hockt eine Frau, die nur schwer im dunklen Abendlicht und den Abgasen auszumachen ist. Sie bringt, mitten im Unrat, ein Kind zur Welt.“ (S.120)

Mit dieser Beschreibung versucht Schreiber seine Lesenden auf emotionale Weise davon zu überzeugen, dass das hohe Bevölkerungswachstum Ägyptens eine „demografische Zeitbombe“ darstelle und der „Versorgungskollaps“ drohe (S.122). „[E]ine stark wachsende Zahl an Ägyptern“ werde versuchen „ihre Heimat zu verlassen, um woanders ein besseres Leben zu suchen“ (S.122). Diese Äußerungen verdeutlichen, dass nicht das Bevölkerungswachstum und damit korrespondierende Entwicklungen in Ägypten Schreiber interessieren, sondern die möglichen Auswirkungen auf uns als Bewohner*innen des implizierten Ziels der von ihm prognostizierten, massenhaften Migration von Ägypter*innen. An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich, dass es Schreiber offenbar nicht darum zu gehen scheint, ein besseres Verständnis muslimischer Gesellschaften zu schaffen – sondern darum, die Ängste der deutschen Bevölkerung vor Migration zu befeuern.

Als Gegenfolie heutiger Zustände glorifiziert Schreiber das Ägypten des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Zeit einer „kulturellen Blüte“ die entstanden sei, weil Ägypten versuchte, „den Westen zu imitieren, etwa in Filmen und Theaterstücken, und den Werken dabei ein eigenes orientalisches Flair aufzuprägen“ (S.169). Implizit folgt er dem Modernisierungsnarrativ, dass nur die Übernahme einer spezifisch westlichen Moderne Länder erfolgreich mache. Damit mindert er außerdem den Wert der vielfältigen, durchaus eigenständigen ägyptischen Kulturproduktionen, die selbstredend mehr als ‚orientalische Kopien‘ darstellten.

Als Beweis damaliger Freiheit und (westlicher) Freizügigkeit verweist Schreiber auf spärlich bekleidete Frauen in Varieté-Bühnen, womit er den westlichen Topos bedient, dass die Kürze der Röcke von Frauen ihren Freiheitsgrad widerspiegele. Zu den Gründen für den Niedergang dieser Blüte zählt Schreiber das anschwellende Bevölkerungswachstum, den aufkeimenden Nationalismus und „wirtschaftliche […] Schwierigkeiten“ (S.169f), und lässt außer Acht, dass diese teilweise bereits in der Politik der Imperialmächte angelegt waren. Doch die Verantwortung westlicher Staaten, des Kolonialismus und Imperialismus sowie komplexe ökonomische Ursachen wiegelt Schreiber ab, indem er behauptet, die Wahrheit sei, „dass der Niedergang Ägyptens zu einem großen Teil eine Folge der eigenen Politik war“ (S.170).

Falsche Antisemitismus-Vorwürfe

Dem Autor zufolge enthält das ägyptische Schulbuch antisemitische Narrative (Vgl. S.123), denen sich das Buch in einer ausführlichen, in weiten Teilen aber verfälschenden Analyse widmet. So kritisiert die auch hier von Schreiber herangezogene Pädagogin Lin-Klitzing die „mangelnde Differenzierung zwischen Juden und Israelis“ des Schulbuches als „Vermischung von Religion, Staatszugehörigkeit und Ethnie“ und damit als „rassistisch“ (S.165). Auch nimmt sie Anstoß an der „Art der Darstellung der Zionisten als ‚Juden‘, die in arabisches Territorium ‚eindrangen‘“, da dabei „natürlich mit[schwinge], dass diese böse seien und die Muslime zurückdrängen beziehungsweise unterdrücken wollten. Das entspreche einem „klar antisemitischen Narrativ“ (S.165).

Die Vermischung der Begriffe „Jude“ und „Israeli“ ist tatsächlich problematisch, doch vermittelt Schreiber einen völlig falschen Eindruck von deren Ausmaß und damit vom Ausmaß antisemitischer Tendenzen im Schulbuch. Die Begriffsvermischung kommt im gesamten, 25 Seiten langen Schulbuchauszug lediglich in einem achtzeiligen Absatz viermal vor (S.125). Ferner nennen sowohl der ihm vorrausgehende Absatz als auch der kritisierte Absatz Israel als handelnden Akteur, sodass argumentiert werden kann, dass das Schulbuch in den wenigen Fällen, in denen es Juden als Akteure benennt, niemals ‚die Gesamtheit aller Juden‘ meint. Dies entlarvt den Vorwurf des Rassismus an dieser Stelle als absurd und konstruiert. Für diese Lesart spricht außerdem, dass an keiner weiteren Stelle des von ihm bewerteten Buches eine Vermischung von ‚Jude‘ und ‚Israeli‘ stattfindet.

Wie sehr Schreiber mit zweierlei Maß misst, zeigt seine wiederholte Kritik am ägyptischen Schulbuch für dessen Unterteilung in „Die“ und „Wir“. Dabei ziele das „Wir“ laut der Pädagogin Schwanewedel „immer auf den Zusammenschluss von Arabern beziehungsweise Muslimen“ (S.167). Doch an keiner Stelle des Schulbuchauszuges ist von einem muslimischen Zusammenschluss die Rede. Dies ist hingegen der Vermischung von arabisch und muslimisch seitens Schreibers und Schwanewedels geschuldet – eine Vermischung von Ethnie und Religion, die das Buch nur zwei Seiten zuvor in Bezug auf Israel und Juden als rassistisch und antisemitisch charakterisierte.

Falsche Zitate und Verzerrungen des Textes

Neben der Entkräftung der im obigen Zitat geäußerten Kritik Lin-Klitzings, erscheinen auch ihre weiteren Vorwürfe problematisch. Im Schulbuch schwingt nicht „natürlich mit“ (S.165), dass Juden böse seien – dieses antisemitische Narrativ findet sich nicht im Schulbuch, sie stülpt es ihm über. Hinsichtlich ihres Vorwurfes, das Schulbuch verwende eine aggressive Sprache – wie die „Juden ‚drangen ein‘ und ‚eroberten‘“ (S.166) – entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass diese Sprachkritik auf teilweise falschen Zitaten basiert.

Denn an keiner Stelle des ägyptischen Buches findet sich die von ihr zitierte Formulierung „Juden“ und „eindringen“ (S.165f) – die einzigen vier Verben, die mit ‚Juden‘ als Akteuren versehen sind, sind „einnehmen“, „schaffen“, „erobern“ und „vordringen“ – nicht eindringen, was deutlich pejorativer wirkt. Da in der Schilderung von Kriegshandlungen „erobern“ keine übermäßig aggressive Wortwahl ist und ‚eindringen‘ auf einem falschen Zitat beruht, ist ihre Sprachkritik fehlleitend.

Noch auf der gleichen Seite kritisiert Schreiber das ägyptische Schulbuch für dessen „Unterstellungen wie ‚der Zionismus hat rein expansive Pläne‘“ (S.166) – und verzerrt dabei absichtlich den Schulbuchinhalt. Tatsächlich heißt es im von Schreiber zitierten Schulbuchtext, der den Sechstagekrieg 1967 als ‚kolonialistische Bestrebung‘ darstellt, lediglich: „hat der Zionismus expansive Pläne“ (S.128). Das „rein“ hat Schreiber in seine verfälschende Textwiedergabe eingeschlichen; so werden die von ihm gewünschten Deutungen hervorgerufen, auch wenn dies der Schulbuchauszug selbst nicht hergibt. Ohne Belege anzugeben behauptet Schreiber weiter, im ägyptischen Schulbuch bleibe Israel der ‚Feind‘, „Frieden hin oder her“ (S.167). Damit gibt er den Originaltext falsch wieder, der Sätze enthält wie: Präsident Sadat habe zu einem „dauerhaften und gerechten Frieden im Nahen Osten [aufgerufen], um den kommenden Generationen den Schrecken des Krieges zu ersparen“ (S.146).

Auch führt Schreiber in diesem Kapitel erneut eine anonyme einheimische Informantin ein, die ihm zufolge für mehrere Ministerien in Kairo im Bildungsbereich gearbeitet habe, was diese scheinbar dazu befähigt, allgemeine (natürlich nicht nachprüfbare)‚Wahrheiten‘ zu präsentieren. Aus ihrem Mund erfahren die Lesenden, dass ägyptische Schulbücher weder klaren Zielsetzungen folgten noch modernisiert würden und dass kein einziges Schulbuch das ägyptische Bevölkerungswachstum problematisiere.

Außerdem seien zur Zeit der rund einjährigen Präsidentschaft Mohammed Mursis „die Religionsbücher voller Geschichten [gewesen], die zeigen sollten, wie sehr uns die Juden hassen“ (Vgl. S.172). Weiterhin behauptet sie, dass das Monitoring der Schulbuchqualität in Ländern, in denen internationale Organisationen Mittel für Schulbücher bereitstellten, nicht funktioniere (Vgl. S.170-176). Obwohl viele ihrer Behauptungen eindeutig nach Begründen oder Beweisen verlangen, hinterfragt Schreiber keine einzige ihrer Aussagen oder Behauptungen, sondern präsentiert sie entgegen jeder kritischen journalistischen Praxis als glaubhaft und repräsentativ.

Ägypten: lethargisch, verantwortungslos, nationalistisch

Weniger die autokratischen Strukturen als die Lethargie und Einstellung der ägyptischen Bevölkerung sind laut Schreiber schuld an den Problemen des Landes, die seiner Meinung nach Entwicklungshilfe noch verstärke. Der Verfall der Bausubstanz der Kairoer Innenstadt „kümmer[e] eigentlich niemanden“(S.176) – was durch die Arbeit diverser Initiativen widerlegt werden kann.[8] „Bildung, Innovation, funktionierende staatliche Systeme – all dies [werde] überhaupt nicht als Wert vermittelt oder wahrgenommen“ (S.176). Die Bevölkerung nehme die schlechte Infrastruktur, Lebensmittelversorgung, Bildung und den Wohnungsnotstand „achselzuckend hin […]“, in weiten Teilen dominiere ein „Sich-nicht-verantwortlich-Fühlen und der schwache Gemeinsinn der ägyptischen Gesellschaft“ (S.175).

Die Ereignisse, Ursachen und Folgen der ägyptischen Revolution für die Gesellschaft des Landes thematisiert Schreiber nicht. Stattdessen richtet er vielfältige Vorwürfe an eine Bevölkerung, von der Millionen mutig gegen autokratische Regime 2011 und in den darauffolgenden Jahren demonstrierten. Sie setzten dabei ihr Leben für eine Verbesserung der Zustände ein, wofür viele von ihnen mit Gefängnis, Folter oder ihrem Tod bezahlten. All dies auszulassen, um stattdessen das Bild einer verantwortungslosen, lethargischen Bevölkerung zu zeichnen, ist perfide und hochmütig.

Laut Schreiber würden vom durch eine „Alimentierungsmentalität“ verantwortungsscheu gewordenen ägyptischen Volk „Feindbilder gepflegt, plumper Nationalismus“ und der Westen für die Missstände verantwortlich gemacht (S.175f). Dies ‚beweist‘ Schreiber durch einen nicht zitierten Fernsehclip,[9] der den Einfluss westlicher Spione zeigen solle, mit der „Botschaft: Jeder Ausländer könnte unser Feind sein“ (S.176). Eine Kontextualisierung oder Hinterfragung des bereits seit 2012, einer Zeit politischen Aufruhrs, auf Youtube abrufbaren Clips (wer beauftragte und bezahlte ihn? Und vor welchem Hintergrund?) unterlässt Schreiber. Der Clip rundet ein Kapitel ab, welches die Ägypter*innen als nationalistisch, lethargisch, verantwortungslos und finanziell abhängig, aber dennoch undankbar darstellt und bei der deutschen Leserschaft vieles, aber sicher weder Empathie noch Verständnis auslöst.

Länderanalyse Palästina

Den Konflikt in Israel/Palästina charakterisiert Schreiber als zwei unterschiedliche Ansichten, die er vorgibt jeweils aus der Sicht beider Seiten kurz darzustellen, um sich als neutralen Vermittler zu präsentieren. Doch während er behauptet das palästinensische Narrativ zu repräsentieren, verzerrt er es bewusst an entscheidenden Punkten durch seine Darstellung, „[n]ach zwei verheerenden Weltkriegen“ seien „jüdische Einwanderer, Flüchtlinge, in immer größerer Zahl an die Küste der Levante“ (S.178) gekommen. Tatsächlich immigrierten viele Tausende bereits vor und zwischen den Weltkriegen; längst nicht alle Einwanderer*innen waren, wie Schreiber insinuiert, automatisch Flüchtlinge und sie siedelten nicht an der Levante, sondern spezifischer, im historischen Palästina. Bewusst und präzise formuliert Schreiber, seit 1948 „wurden viele palästinensische Familien […] vertrieben“; die Staatsgründung „machte rund 800.000 Araber zu Flüchtlingen“ (S.178). Nicht nur verzichtet er darauf, die Verantwortlichen für Vertreibungen klar zu benennen, er bezeichnet die 800.000 Vertriebenen auch geschickt als ‚Araber‘ und nicht als ‚Palästinenser‘, und spricht ihnen so ihre Zugehörigkeit zum palästinensischen Volk ab.

Der Topos der Angst vor hohen Geburtenraten nicht-westlicher Bevölkerungen taucht als palästinensischer „Krieg der Gebärmütter“ auf, deren Idee sei, „so viele palästinensische Kinder in die Welt zu setzen, dass die Juden demografisch abgehängt würden“ (S.180). Israels Versuche, seit seiner Staatsgründung den Anteil der jüdischen Bevölkerung zu erhöhen (beispielsweise durch seine Geburtenpolitik oder eine vereinfachte Immigration für Menschen jüdischen Glaubens),[10] erwähnt er nicht. Weiter argumentiert Schreiber, die hohe palästinensische Geburtenrate in Gaza bedeute für den Lebensstandard der Menschen dort „natürlich nichts Gutes“ (S.180). Damit zeichnet er die Palästinenser*innen im Gazastreifen als für ihre Lage allein verantwortlich, sie sollten eben weniger Kinder bekommen.

Die einen lieben Frieden - Die anderen preisen Hitler

Schreibers Darstellung der Situation in Israel/Palästina ist zutiefst unausgewogen und verzerrend. Palästina charakterisiert er als geografisch weit voneinander abgelegen, eine Fahrt von Ramallah im Westjordanland nach Gaza-Stadt bedeute „gut 200 Kilometer“ (S.177). Der zentrale Grund für die lange Fahrtdauer zwischen den nur 85 Kilometer voneinander entfernten Orten – die israelische Besatzung und Kontrolle – bleibt unerwähnt. Tendenziös behauptet Schreiber, Palästinenser*innen reisten fast nie von einem ins andere Gebiet, „weil sie nicht dürfen oder auch nicht wollen“ (S.177). Damit unterschlägt er die Verantwortung der israelischen Behörden in der massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen und weist sie stattdessen zumindest teilweise diesen selbst zu, da diese „auch nicht wollen“ (S.177).

Sprachlich werden die beiden Gruppen extrem ungleich beschrieben; „Israelis ist es per Gesetz verboten, sich in Palästinensergebieten aufzuhalten – Siedler ausgenommen“, wohingegen Palästinenser*innen mit den „entsprechenden Papieren“ nach Jerusalem reisen „dürfen“ (S.177, eigene Hervorhebungen) – obwohl in beiden Fällen der israelische Staat über Reiseerlaubnisse beider Bevölkerungsgruppen entscheidet. Israelische Bombardements von Gaza werden zu: „wenn gerade wieder eine Militäroperation durchgeführt wird“ (S.178); jüdische, fundamentalistische Siedler*innen, die ihr Recht zur Besiedlung der Westbank aus dem Alten Testament ableiten, sind für Schreiber wohlklingend „von einer tiefen Überzeugung erfüllt“ (S.179). Handlungen des israelischen Militär setzt Schreiber selten in den Aktiv; stattdessen schreibt er, dass „Dorfbewohner getötet wurden“, oder „[das palästinensische Dorf] Tantura wurde schließlich weitestgehend planiert“ (S.184f). Hier unterschlägt Schreiber wer tötete und wer aus welchen Gründen zerstörte und abriss.

Während Schreiber dem palästinensischen Schulbuch vorwirft, „zwei drastische Zeitzeugenberichte als unzweifelhafte Tatsachen hin[zustellen]“ (S.185), greift er selbst auf dieses Mittel zurück und lässt seine sprachliche und textgestalterische Ungleichbehandlung in einer absurden Gegenüberstellung kulminieren. Einen „altgediente[n] israelische[n] Politikberater“, charakterisiert er als friedensliebend: „Nie sei die Chance auf Frieden so zum Greifen nah gewesen [wie bei Sadats Besuch in Tel Aviv 1977]“ (S.179). Wenige Zeilen später lässt Schreiber zum ersten Mal einen Palästinenser sprechen, mit den Worten: „Hitler war ein guter Mann“, „[w]eil er die Juden ermorden ließ“ (S.179). Der Aussage des jungen Mannes gibt Schreiber zusätzlich Gewicht durch die Behauptung, solch antisemitische Kommentare höre man „überall in der muslimischen Welt hin und wieder“ (S.179). Diese pseudo-neutrale, aber tatsächlich bewusst komponierte Gegenüberstellung, verdeutlicht die schwarz-weiße, dichotome Sichtweise auf Israel/Palästina, die Schreiber versucht, seiner Leserschaft zu vermitteln: Die jüdischen Israelis wollen den Frieden, die Palästinenser*innen preisen Hitler.

Schreibers fehlerreiche Analyse des Palästinensischen Textbuches

Da das untersuchte palästinensische Arabisch-Lehrbuch online abrufbar ist, lassen sich Schreibers Behauptungen und Schlussfolgerungen in diesem Fall detailliert überprüfen und mehrere als falsch zurückweisen. „Der Name ‚Israel‘ fällt im gesamten Buch nicht ein einziges Mal“ (S.183), so Schreiber – diese Aussage ist falsch, tatsächlich fällt er mehrfach (Schulbuch, S.69, 111, 114) und sogar im von Schreiber zitierten Auszug (S.208: „die israelischen Behörden“). „[Die Schulbuchautoren] erwähnen den Großmufti Amin al-Husseini als nationalen Helden – in Israel gilt er mit gutem Grund als Unterstützer des Holocaust“ (S.185) – das Schulbuch erwähnt allerdings nur seinen Besuch im Dorf Tantura, stellt ihn aber an keiner Stelle als nationalen Helden dar.

Schreiber charakterisiert die Texte des Buches als „sehr politisch“ (S.182), seine Aussage „[e]in letzter Aufgabenbereich bezieht sich schließlich auf die Sprache“ (S.184) vermittelt den falschen Eindruck, der Sprachunterricht käme aufgrund der Politisierung des Buches zu kurz. Die sprachliche Ausbildung ist zentraler Bestandteil des Buches; auf die mit sprachlichen Erklärungen versehenen Lesestücke folgen jeweils ebenso Textseiten, die implizit und explizit die sprachliche Entwicklung der Schüler*innen fördern.

Die Überprüfung des gesamten Schulbuches zeigt, wie problematisch und verzerrend Schreibers Auslassungen in der Wiedergabe der Schulbuchausschnitte sind. ‚Moderne‘ Unterrichtseinheiten über Facebook und den Einsatz einer Palästinenserin für die Bildung von Frauen und Kindern erwähnt Schreiber nicht. Die Lernziele des Schulbuches (wie die „Verankerung von Werten, die das Verständnis der Staatsbürgerschaft und der Teilhabe im Aufbau des Rechtsstaates verstärken“ (Schulbuch S.3) übernimmt er ebenfalls nicht.

Die von Schreiber ausgewählten Textauszüge bieten nur in geringem Maße Anhaltspunkte für tatsächlich zutreffende Kritik. So genügt Schreiber die Formulierung des Schulbuches, dass die israelische Armee ein Dorf angriff, „weil es das schwächste Glied [war]“, als Beleg dafür, Israel werde als „feige“ (S.183) dargestellt. Ein durch palästinensische Zeugenberichte gestützter Auszug behandelt das Massaker von Tantura, das umstritten sei, da „die Aussagen der israelischen Veteranen gegen die der arabischen Zeitzeugen“ stünden (S.185). Schreiber wirft dem Schulbuch vor, dass es das „Ringen um die Wahrheit“ nicht darstelle (S.185). Eine notwendige Kontextualisierung und Hinweise auf die Bedeutung der kollektiven palästinensischen Erinnerung an Vertreibung und Zerstörung als ‚Gegenerinnerung‘ gegen israelisches Schweigen oder die anhaltende Nichtbeachtung palästinensischer Zeugenschaft bleiben aus.

Verallgemeinernd und ohne Belege behauptet der Autor, dass Toleranz, Verständnis, Gemeinsamkeiten, eine konstruktive Auseinandersetzung mit der politischen Lage und der Geschichte in palästinensischen Schulbüchern fehlten. Sie seien „keine Basis für Frieden, sie schüren Hass und Dämonisieren den jüdischen Staat“ (S.189). An anderer Stelle behauptet er: „‚Unsere Feinde sind all diejenigen, die nicht Muslime sind‘“ sei die „sinngemäß[e] […] Botschaft eines palästinensischen Schulbuches“ (S.9), ohne das Buch namentlich zu nennen. Dies sind Behauptungen, für die Schreiber keine Belege, Quellen oder auch nur Anhaltspunkte anführt.

Länderanalyse Türkei

Zu Beginn des Abschnitts zur Türkei umreißt Schreiber die Entwicklung der Türkei in den letzten hundert Jahren. Aus dem „gesellschaftliche[n] Stillstand des Osmanischen Reiches“ gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, habe „Mustafa Kemal Atatürk sein Land befreien und in die Moderne führen [wollen]“ (S.220). Unter anderem die Umstellung der Schrift von arabischen auf lateinische Buchstaben habe „die Gesellschaft der heutigen Türkei in kürzester Zeit verändert […] und ins 20. Jahrhundert [geführt]“ (S.219). „Aber heute veränder[e] sich etwas“ (S.220) durch Erdogan, der das Erbe Atatürks ablehne. Erdogans Islamisierung des Landes sieht Schreiber in der Aufhebung von Kopftuchverboten, den Großinvestitionen in Moscheebauten sowie der Abwendung von Europa.

Schreibers historische Einführung ist oberflächlich, unkritisch und undifferenziert. Der Topos des gesellschaftlichen Stillstandes des Osmanischen Reiches ist eine orientalistische, längst überholte Annahme, und wird von Schreiber in keiner Weise belegt; tatsächlich prägten vielfältige gesellschaftliche Veränderungen die Zeit um die Jahrhundertwende.[11] Zu Atatürks Erbe gehört auch die teilweise gewaltsame Durchsetzung des Kopftuchverbotes, die Schreiber nicht erwähnt. Seinem Publikum präsentiert er die Abwendung der Türkei von Europa als religiös begründete Einzelhandlung Erdogans und unterlässt notwendige (geo-)politische Kontextualisierungen.

Die Aussage, erst eine Modernisierung nach westlichen Maßstäben habe die Türkei ins 20. Jahrhundert geführt, offenbart Schreibers eurozentrische Konzeption der Moderne. Dieser zufolge können westlich-europäische Normen, Entwicklungen, Traditionen oder Phänomene eine universale Gültigkeit für sich beanspruchen. Sie tritt in KdK deutlich hervor, als Schreiber das türkische Schulbuch dafür kritisiert, dass es in der Diskussion um verschiedene Staatsformen nicht die in Europa typischen Beispiele wählt. „Warum wählen die Autoren des [türkischen] Buches bei den ersten drei Staatsformen Beispiele, die für mich nicht gerade naheliegend gewesen wären?“ (S.227). Eine kritische Selbstreflektion, warum nun gerade er der Maßstab der Dinge sein soll, bleibt vollständig aus und implizit schwingt in seiner Kritik mit, alle Staaten müssten sich am Westen orientieren.

Unreflektierte Voreingenommenheit, erfundene Überschriften, Verdrehung der Quellen

Voreingenommen erwartet Schreiber im türkischen Auszug eines Sozialkundebuches „eindeutig problematische nationalistische und religiöse Inhalte“ (S.223) und scheint selbst erstaunt, dass seine ‚Stichprobe‘ diese nicht bestätigt. „Offensichtlich ausgrenzende und extreme islamische Inhalte werden vermieden“ (S.224) – wobei ‚vermieden‘ impliziert, diese Inhalte bestünden trotzdem und würden nur nicht ‚offen‘ gezeigt, wofür er jedoch keine Beweise anführt. Die letzten beiden Seiten des Schulbuchauszugs glorifizieren die Niederschlagung des Putsches 2016, womit sie sich vom Rest des Buches eklatant unterscheiden.

Wenngleich er nicht deutschen Schulbuchstandards entspricht, so bietet ihm der Sozialkunde-Band ansonsten aber keine ‚offensichtlichen‘ Möglichkeiten für Kritik. Deshalb bemängelt er eine Ausschließlichkeit des Islams in einem anderen türkischen Religionsbuch sowie eine Fokussierung auf Homogenität in einigen Büchern – doch da er für diese Beispiele keine Verweise, Buchtitel oder Belege angibt, können seine Aussagen nicht überprüft werden.

Stattdessen erfindet Schreiber einfach eine Überschrift, die eine thematische Nähe zwischen dem türkischen Schulbuch und einem Führer/Hitler vortäuscht: Ausführlich kritisiert er den Abschnitt des Schulbuches „Unsere Führer und wir“ für seine Wortwahl, da ‚Führer‘ „historisch für uns eine eindeutige Konnotation […] und eine sehr starke Wertung [beinhalte, denn] Führung implizier[e] Stärke“ (S.225f), ohne zu reflektieren, dass ‚Führer‘ nahezu ausschließlich im deutschen Sprachraum negativ konnotiert ist. Ein Abschnitt mit diesem Titel existiert im Schulbuch jedoch überhaupt nicht! Der Abschnitt, auf den sich Schreiber bezieht, trägt die Überschrift: „Unsere Regierenden und wir“ (S.245) – da er selbst kein Türkisch spricht und nach eigener Aussage mit Muttersprachler*innen zusammenarbeitete, erscheint ein Übersetzungsfehler unwahrscheinlich. Das Wort ‚Führer‘ fällt in diesem Abschnitt nur einmal, als es dezidiert um die Führung politischer Parteien geht, sodass Schreibers Vorschlag „eher das Wort ‚Politiker‘ [zu] verwenden“ in diesem Kontext (Politiker*innen der politischen Parteien) keinen Sinn ergibt (S.245).

 Jan Altaner

Aus einem Artikel des österreichischen Der Standard von 2005, der berichtete, dass türkische Schulbücher Europa als Feind darstellten,[12] übernimmt Schreiber viele Passagen und ganze Sätze wortgetreu mit nur wenigen Einfügungen, ohne dies ausreichend kenntlich zu machen. Er stützt sich auf diesen Artikel als Beleg dafür, in seiner Kritik an türkischen Schulbüchern nicht allein zu sein. Die folgenden Sätze stellen nur einige der angeeigneten Passagen dar, Schreibers eigene Ergänzung ist in eckige Klammern gesetzt: „Viel mehr als über Europa erfahren türkische Schüler [demnach] über die für die Außenpolitik ihres Landes weitgehend bedeutungslosen Turk-Republiken Zentralasiens.“, oder: „Die Schulbücher geben eine klare Antwort auf diese angeblichen Bedrohungen: Die türkische Nation muss zusammenhalten - und sie braucht eine schlagkräftige Armee“ (S.220f).

Neben dieser Aneignung verfälscht er ferner die Aussage der Quelle, was guter journalistischer Arbeit widerspricht und verdeutlicht, wie unsauber er arbeitet. Im Original schwächt der Zeitungsartikel die Bedeutung der Feinddarstellung Europas in türkischen Schulbüchern ab und erwähnt vielfach Reformbestrebungen, die Schreiber aber auslässt, wie: „Da ist was im Gange“; „ist selbst den Behörden in Ankara klar, dass sich etwas ändern muss“, oder: „Zudem wird in der Öffentlichkeit über den Inhalt der Schulbücher [kritisch] diskutiert.“ Im Standard zeigen sich weder ein westlicher Diplomat noch der in Istanbul lehrende deutsche Historiker Christoph Neumann von den unfreundlichen Europa-Passagen beunruhigt. Der Diplomat weist auf größere Probleme im Schulsystem hin und Neumann bezweifelt ohnehin „dass das merkwürdige Europa-Bild in den Schulbüchern großen Einfluss auf die Haltung der Türken zur EU [habe].“ Die Schlagrichtung des Artikels, dass sich etwas ins Positive verändere, es schlichtweg andere Prioritäten gebe und trotz negativer Darstellungen große Sympathien gegenüber der EU bestünden, wie zitierte Meinungsumfragen zeigen, lässt Schreiber aus, fokussiert sich ausschließlich auf die negativen Schlagzeilen und verfälscht damit seine Quelle.

Keine kritikwürdigen Punkte gefunden? Lies das Buch einfach gegen den Strich

Das türkische Sozialkundebuch vermittelt Grundkenntnisse der Demokratie wie demokratische Werte oder politische Institutionen durchaus überzeugend, wie auch Schreiber zähneknirschend eingestehen muss („Letztlich ist die Darstellung demokratischer Grundsätze im Schulbuch nicht falsch“, S.263). Doch da die Zustände in der Türkei aktuell andere sind, widerspricht und gefährdet es KdKs Grundannahme, dass Schulbücher ein Spiegel der gesellschaftlichen Realität seien und ihre nahezu kontextlose Analyse ein Verständnis der Werte einer Gesellschaft ermögliche.

Daraufhin revidiert Schreiber seine Grundannahme aber nicht, sondern er verdreht sich argumentativ einfach so lange, bis er diese trotzdem rechtfertigen kann. Denn da im Schulbuch eine kritische Auseinandersetzung mit und „jegliche Verbindung zur Realität in der Türkei“ fehle (S.263), vermittele es den Eindruck, die Zustände in der Türkei entsprächen tatsächlich denen einer gut funktionierenden Demokratie. Damit stelle das Buch „ein Beispiel für besonders fortschrittliche Ideologisierung [dar], weil es vordergründig harmlos erscheint aber unhinterfragt eine irreführende Wahrnehmung des eigenen staatlichen Systems vermittelt“ (S.260).

Anders als in allen anderen Länderanalysen bezieht Schreiber für die Türkei den Kontext einer zunehmend autoritär geführten Gesellschaft hinzu und fragt sich nun, was in den Schulen wirklich unterrichtet werde, wofür er eine anonyme türkische Lehrerin befragt. Die einheimische Informantin versichert ihm, dass „[s]elbst in den Büchern, die sich auf den ersten Blick nicht für Propagandazwecke eignen dürften, […] in den Lesetexten entsprechende Themen behandelt [werden]“ (S.225). Anders gesagt: Selbst wenn der Schulbuchinhalt nicht nach Propaganda aussieht, ist es dennoch Propaganda. Diese geschickte Argumentation erlaubt es Schreiber im Folgenden, das Schulbuch ‚gegen den Strich‘ zu lesen und viele eigentlich positiv zu bewertende Schulbuchinhalte negativ zu re-framen und als ‚perfide‘ und ‚täuschend‘ darzustellen, da sie nicht der gesellschaftlichen Realität entsprächen. So etwa bei einem längeren Absatz über den vorsichtigen Umgang mit Medien, in dem es unter Anderem heißt: „Auch wenn ein Teil der Medien ihren Einfluss auf positive Weise nutzt, kann ihn ein anderer Teil mit bösen Absichten nutzen [… und] etwa[13] versuchen, die Menschen mit falschen Nachrichten zu manipulieren“ (S.248).

Angesichts weltweiter Diskussionen über die Gefahr von Fake-News scheint dieser Absatz die Medienkompetenz zu schulen, besonders da es weiter heißt: „Als Nutzer von Medien sollte man in der Lage sein, ihre Botschaften zu bewerten und zu analysieren, sie also kritisch zu hinterfragen“ (S.249). Schreiber aber verzerrt diesen Absatz, indem er ihn als durch „Misstrauen gegenüber Medien“ geprägt und „nach Verschwörungstheorie [klingend]“ (S.227) darstellt.

Widerlegung von Schreibers Behauptungen

Im Resümee behauptet Schreiber fälschlicherweise, ein problematischer „roter Faden“, die Trias „Islambild, Frauenbild, Antisemitismus“, ziehe sich durch die von ihm analysierten Schulbücher (S.267). Doch keines der drei Elemente ist in den untersuchten Büchern so präsent, wie er es behauptet, weshalb er einzelne Befunde willkürlich ausgewählter Schulbücher auf alle untersuchten Schulbücher und dadurch auf alle Muslim*innen verallgemeinert.

Der Antisemitismus-Vorwurf trifft nur auf das afghanische Schulbuch tatsächlich zu; für das ägyptische Buch konstruiert Schreiber diesen Vorwurf und dem palästinensischen Schulbuch kann er an keiner Stelle seiner Analyse nachweisen, antisemitisch zu sein (auch wenn er dies im Fazit behauptet, S.268). In der Analyse des türkischen und des iranischen Schulbuches verzichtet er gänzlich darauf, Antisemitismus überhaupt anzusprechen. Nicht Belege für Antisemitismus sind es, die sich als roter Faden durch KdK ziehen – dafür aber Schreibers Agenda, Muslim*innen allgemein als antisemitisch darzustellen, auch wenn sich dies aus den untersuchten Schulbüchern nicht ableiten lässt.

Während das Islambild im ausgewählten afghanischen und iranischen Schulbuch tatsächlich kritikwürdig und indoktrinierend erscheint, enthalten die drei Schulbücher aus Ägypten, Palästina und der Türkei kein ‚problematisches‘ Islambild, auch wenn Schreiber durch Unterstellungen und falsche Schlussfolgerungen versucht, es so aussehen zu lassen. Im palästinensischen Schulbuch ist der islamische Glaube nur als kultureller, nicht als politischer Bezugspunkt vorhanden, im türkischen kommt der Islam gar nicht vor und das ägyptische Schulbuch erwähnt einmal Ägyptens ‚heiligen Krieg‘, nimmt ansonsten aber eine kritisch-ablehnende Haltung zum politischen Islam und den Muslimbrüdern ein.

Julia Schwanewedels Behauptung, die „Bücher teilten die Welt auf in Gut und Böse – gut der Islam, böse alle Islamfeinde“ (S.269) ist falsch und verallgemeinernd, legt die Mehrheit der Bücher eine solche Unterteilung nicht einmal nahe. Ebenso verhält es sich mit der Behauptung des Autors, „die Religion des Islam [stelle in allen Büchern] eine Art Bindeglied dar“ (S.267). Nur in zwei der fünf ausgewählten Büchern erscheint das Islambild problematisch; zwei weitere erwähnen den Islam kaum oder gar nicht – folglich ist Schreibers Behauptung der allgemeinen Präsenz eines problematischen Islambildes falsch.

Auch hinsichtlich des vermittelten Frauenbildes sind das willkürlich ausgewählte iranische und afghanische Schulbuch stark zu kritisieren. Die Mehrheit von Schreibers ‚Fallstudien‘ – die untersuchten Schulbücher aus Ägypten, der Türkei und Palästina – enthalten jedoch keine Anhaltspunkte für ein problematisches Frauenbild. Um diesen Eindruck dennoch zu vermitteln, führt er einige wenige, nicht belegte, vorgeblich aus anderen Schulbüchern stammende Stellen als Beweise an. Positive Frauenbilder kürzt er beispielsweise aus dem palästinensischen Schulbuch heraus. Da die Mehrheit der untersuchten Schulbücher keinen Anlass dafür gibt, von einem problematischen Frauenbild zu sprechen, ist Schreibers generalisierende Behauptung zu einem problematischen Frauenbild in muslimischen Schulbüchern ebenfalls zurückzuweisen.

In seinem Fazit beansprucht Schreiber die allgemeine Gültigkeit seiner nicht wissenschaftlich-repräsentativen, journalistischen Analyse, die letztendlich längst bekanntes ‚Allgemeinwissen‘ über ‚die Muslime‘ nur bestätige. Keines der untersuchten Bücher sei ihm positiv aufgefallen, es gebe bereits Berichte über problematische Schulbuchinhalte einiger muslimisch geprägter Länder und „auch wenn es unbestreitbar tolerante, säkulare und moderne Muslime im Nahen Osten“ gebe, so sei der „gesellschaftliche Mainstream“ dort ein anderer – wer das abstreite, betreibe „Realitätsverweigerung“ (S.284). Dass die Realität in der muslimischen Welt „rassistisch, antisemitisch, gewaltverherrlichend“ (S.284) sei, wisse jeder, der „selbst einen entsprechenden Hintergrund hat“, „sich in dem Themenbereich auskennt“ oder „einmal [!] vor Ort war“ (S.284) – wo genau man dafür „vor Ort“ sein sollte, spezifiziert Schreiber nicht, ein Badeurlaub am Roten Meer scheint auszureichen. Kennste ein muslimisches Land, kennste alle.

Scheinbare Emotionalität als Rassismusvorlage

Gesellschaftliche Probleme verortet der Autor ausschließlich beim imaginierten Kollektiv der Muslim*innen, denen er eine Kollektivschuld anlastet und die in Deutschland hinsichtlich ihrer Werte umerzogen werden müssten. Passagen wie „[Schulen] sind der biografisch letzte Ort, an dem wir muslimische Jugendliche zuverlässig erreichen“ (S.273) ähneln einer Gleichsetzung von Muslim*innen mit Straftäter*innen. Das Buch thematisiert, spezifisch Muslim*innen in Deutschland zu Besuchen in KZ-Gedenkstätten zu verpflichten (S.274) und Bildungswissenschaftlerin Julia Schwanewedel „hält es für denkbar, muslimische Schüler speziell zu unterrichten“, „[z]umindest punktuell“, um auf eine Veränderung ihrer Wertvorstellungen hinzuwirken und ihnen beizubringen: „Heterogenität müsst ihr aushalten“ (S.275f). Ihr absurder Vorschlag, Muslim*innen auszugrenzen und speziell auf ihre Werte einzuwirken, um sie integrieren zu können zeigt, dass sie – wie auch die Teile der Mehrheitsgesellschaft, die Muslim*innen die Zugehörigkeit zu Deutschland absprechen – wohl nicht in der Lage ist, Deutschlands Heterogenität auszuhalten.

Schreiber behauptet, dass sich ein problematisches Frauen- und Religionsverständnis sowie Antisemitismus bei Muslim*innen durch eine emotionalisierte Bildung festsetze, wodurch er Muslim*innen als Andere konstruiert, ohne auf offensichtlich rassistische Argumentationsmuster zurückgreifen zu müssen. Mithilfe der Pädagogin Julia Schwanewedel wirft KdK den untersuchten Schulbüchern vor, Bildung zu emotionalisieren und Schüler*innen „auf emotionaler Ebene zu beeinflussen“ (S.270) und zu indoktrinieren – ein Vorwurf, der, wie diese Rezension gezeigt hat, viel eher auf Schreibers Werk selbst passt.

Eine emotionale Indoktrinierung scheint zwar in der Tat auf das afghanische und iranische Schulbuch zuzutreffen, doch verallgemeinert Schreiber dies auf alle untersuchten Schulbücher und dann direkt auf alle Muslim*innen. Die angeblich emotionale Beeinflussung der Schulbildung setzt er darüber hinaus mit einer „Gehirnwäsche“ gleich, da diese Werte festgesetzt sowie kaum zu beeinflussen seien und „Menschen ihr Leben lang prägen“ könnten, wobei er dies besonders auf die „jungen Menschen, die […] nach Deutschland kommen“ (S.271f) bezieht.

Schreibers Buch enthält eine Form kulturellen Rassismus‘, indem er sich nicht auf Rasse, Ethnie oder Gene stützt, sondern auf Kultur – in diesem Fall das konstruierte, emotional fest verankerte ‚allgemeine, muslimische Weltverständnis‘ – um Muslim*innen als Kollektiv herabzusetzen. „Aber spiegeln die Inhalte der Schulbücher darüber hinaus sogar ein allgemeines muslimisches Weltverständnis wider, das sich unabhängig davon in den Köpfen und Herzen hält, wann jemand nach Deutschland gezogen ist und in welcher Generation er hier lebt? Ein vermeintlich allgemeingültiges muslimisches Weltverständnis, das emotional fest eingeprägt ist?“ (S.272) Mit dieser rhetorischen Frage suggeriert Schreiber verallgemeinernd, dass alle Muslim*innen ein spezifisches, antisemitisches, frauenverachtendes und fundamentalistisches Weltbild teilten, wobei egal sei, ob sie in einem muslimischen Land oder in Deutschland geboren und sozialisiert wurden.

 Jan Altaner

Denn das muslimische Weltbild sei „emotional fest eingeprägt“ (S.272) und kaum zu verändern, sodass es über die Generationen weitergegeben – quasi vererbt – werde. Demnach seien alle Muslim*innen anders als und gefährlich für die deutsche Mehrheitsgesellschaft und würden dies auch in kommenden Generationen aufgrund ihres ‚problematischen Weltverständnisses‘ bleiben. Seine rassistische rhetorische Frage nach einem allgemeinen muslimischen Werteverständnis lässt Schreiber unbeantwortet. Allerdings lässt er übergangslos eine umstrittene Studie von Ruud Koopmans über die Werte von Muslim*innen folgen,[14] deren Ergebnisse den Inhalt seiner rhetorischen Frage bejahen, wodurch er sie sich aneignet (S.272).

Diskursive Nähe zur AfD

Eine genaue Analyse von KdK verdeutlicht Schreibers Nähe zu teilweise rechtsextremen und islamophoben Positionen sowie zu Argumentationen der AfD. So schürt Schreiber – ohne dass die untersuchten Schulbücher dies, wie vorliegend nachgewiesen, rechtfertigen würden – mehrfach die Angst vor einer muslimischen Übernahme der Welt (S.14, 117), sowie der sehr hohen Geburtenraten in muslimischen Ländern (S.120, 180) und damit verbundenen Migrationsströmen (S.122). Vielfach spielt er darauf an, westliche Entwicklungshilfe an muslimisch geprägte Länder sei zu hoch und die Länder an ihrer Lage selbst Schuld (Vgl. beispielsweise S.176, 180).

Ein weiteres Beispiel für Schreibers einseitige Positionen ist seine Kritik an der regelmäßig rassistischer Hetze ausgesetzten palästinensisch-muslimischen Politikerin Sawsan Chebli,[15] der Schreiber mangelndes Engagement gegen Antisemitismus vorwirft (Vgl. S.274). Auffallend ist, dass er im gesamten Buch keine weiteren Politiker*innen erwähnt oder kritisiert, sodass Antisemitismus erneut als ein ausschließlich muslimisches Problem erscheint – wenngleich Chebli gerade erst einen Preis für Toleranz und Zivilcourage von einem Rabbiner übergeben bekam.[16] Insbesondere mit seinem einförmigen, ausschließlich negativen und verallgemeinernden Bild von Muslim*innen als antisemitisch, frauenfeindlich und fanatisch nähert sich Schreiber Positionen der AfD an.

So stützt sich Schreiber auf eine Schriftliche Frage der AfD-Fraktion an die Bundesregierung[17] in einer Diskussion um Deutschlands gestiegene Entwicklungshilfe-Zahlungen an das UNRWA-Hilfswerk für palästinensische Geflüchtete (S.180) – doch unterschlägt er die Urheberin der Anfrage, Beatrix von Storch (S.296). Er zitiert noch eine weitere Kleine Anfrage der AfD an die Bundesregierung zu diesem Thema, erneut ohne die AfD zu nennen, in der die Bundesregierung die komplexen Gründe für die gestiegenen Entwicklungshilfe-Zahlungen an UNRWA darstellt.[18]

Doch Schreiber ignoriert die genannten Gründe und behauptet entgegen besseren Wissens, der Grund dafür „liegt vor allem in der enorm gestiegenen Zahl der [palästinensischen] Flüchtlinge“ (S.180), obwohl die Antwort der Bundesregierung diesen Punkt nicht erwähnt. Diese vollkommen unbelegte Behauptung Schreibers, der vorgibt, sich gegen ‚Lügenpresse-Vorwürfe‘ zu engagieren,[19] zeigt, dass seine eigene journalistische Arbeit nicht wahrheitsgetreu ist.

Die Kleine Anfrage der AfD versucht unter anderem, der Bundesregierung nachzuweisen, dass deutsche Steuergelder über die UNRWA antisemitische Schulbuchinhalte finanzierten,[20] wovon Schreiber sich augenscheinlich inspirieren ließ. Das Ziel der AfD ist dabei klar: Der Versuch, sich die Bekämpfung von Antisemitismus diskursiv anzueignen, um sich verallgemeinernd gegen – vermeintlich antisemitische – Menschen muslimischen Glaubens und arabischer Herkunft in Deutschland in Stellung zu bringen. Schreibers falsche Analyse dient als Bestätigung und Legitimierung dieser xeno- und islamophoben Bestrebungen, die er so salonfähig macht.

Fans hat Schreiber aber gerade auch am rechten Rand: Die AfD stellte ausschließlich auf der Basis von seinem Buch eine weitere Kleine Anfrage zur Schulbuch-Thematik, woraufhin die Bundesregierung klar macht, dass sie in keinem der von Schreiber untersuchten Länder Schulbücher direkt finanziert.[21] Dies verdeutlicht zunächst noch einmal, dass Schreiber unzutreffend verallgemeinert, wenn er von den „geförderten Bücher für Afghanistan, Palästina und andere muslimische Länder“ (S.280) spricht. Doch viel entscheidender ist so ein fruchtbarer Zirkel zwischen der AfD und Schreiber entstanden, der bisher jedoch nicht öffentlich thematisiert wurde, sodass Schreiber weiterhin vorgeben kann, sich für Toleranz und gegen ‚Lügenpresse-Vorwürfe‘ zu engagieren.

Auch das Ex-NPD Mitglied Carsten Jahn[22] nimmt bei einer Buchbesprechung KdKs auf seinem Youtube-Kanal Schreibers falsche, verallgemeinernde und verzerrende Analyse und die Überschrift seines WELT-Interviews „[eine] Ganze Generation soll mit Hass auf den Westen aufwachsen“[23] dankend entgegen. Er wirft der Regierung vor, bewusst Antisemitismus und Hass auf den Westen in muslimischen Ländern zu finanzieren, um später diese Menschen nach Deutschland zu holen. Mit dieser Rhetorik erreicht der Rechtsextreme über 10.000 Videoaufrufe, während die Kommentarspalten vor antisemitischen Verschwörungstheorien nur so überquellen.[24]

Die Verantwortung Constantin Schreibers

In der Öffentlichkeit pflegt Constantin Schreiber das Image eines kritischen, toleranten Journalisten und Experten für ‚den Islam‘, Muslim*innen und den arabischen Raum. Vor kurzem rief er die Deutsche Toleranzstiftung ins Leben, die er nach eigenen Angaben aus den Einnahmen seiner Bücher finanziert.[25] Die Stiftung habe er gegründet, um gegen Vorurteile und ‚Lügenpresse-Vorwürfe‘ vorzugehen, doch sei es für viele „ein langer Prozess, wieder Vertrauen zu gewinnen“[26] – doch ist er es selbst, der Vorurteile und Unwahrheiten in KdK verbreitet. Wie diese ausführliche Buchbesprechung zeigen konnte, gibt Schreiber selbst keinen Anlass, seiner journalistischen Arbeit weiterhin zu vertrauen. Das Image Schreibers als integer, kompetent und wahrheitsliebend dürfte nach intensiver Lektüre schwer beschädigt sein.

Schreiber erklärt, es ginge ihm nicht darum „mit dem Finger auf jemanden [die muslimischen Gesellschaften/Muslim*innen] zu zeigen“ (S.284) – doch sein gesamtes Buch; Titel, Klappentext, von Einführung bis Fazit, tut genau das und mehr: Es zeigt nicht nur auf Muslim*innen, sondern konstruiert sie verzerrend und verallgemeinernd als Andere und als Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft. Seine Behauptungen, es ginge ihm bloß um ein „Aufdecken von Missständen“, damit „ein Umdenken stattfinde“ und „sich etwas zum Besseren ändert“ (S.284), sind scheinheilig. Anders als er behauptet sind nicht die untersuchten Bücher ein „Symptom, dass sich Gräben zwischen dem Westen und der islamischen Welt […] vergrößern“ (S.8) – im Gegenteil, durch seine Verallgemeinerungen, Unterstellungen und Unwahrheiten über „die Muslime“ ist er es, der Gräben gräbt und vertieft. Sein Vorgehen beschert ihm hohe Verkaufszahlen seiner Bücher und rechten, konservativen und islamophoben Meinungen eine Grundlage. Er kann noch so oft behaupten, ein Brückenbauer mit kritischem Blick zu sein – der kritische Blick auf KdK entblößt, dass Schreiber nicht Brücken, sondern Feindbilder in der deutschen Gesellschaft baut.    

Doch das beste Fazit über Schreibers Buch zieht Professorin Lin-Klitzing, als sie eigentlich über das ägyptische Schulbuch spricht, welches sie – passenderweise – als am ideologischsten einschätzt. „Denn hier sehe ich eine eindeutig einseitige politische Ausrichtung. […] Hier wird – dem Anspruch nach – so etwas wie Faktenwissen vermittelt, dem man recht schnell auf den Leim gehen kann, also es glaubt, weil die anderen Möglichkeiten der reflektierten Auseinandersetzung kaum möglich und sehr mühselig zu besorgen sind. Man müsste die Fakten überprüfen und schauen, was davon stimmt eigentlich.“ (S.165) In Constantin Schreibers Kinder des Koran stimmt sehr vieles nicht – und seine politische Agenda in der Konstruktion eines einheitlichen Bildes der Muslim*innen als antisemitisch, frauenverachtend und fundamentalistisch ist nicht zu übersehen.

 

[1] Vgl. beispielsweise die Kritik der Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Johanna Pink an Schreibers „Moscheereport“. www.tagesspiegel.de/politik/kritik-am-moscheereport-muslime-stehen-immer...

[2]Selbstcharakterisierung Constantin Schreibers im Interview mit Karriereführer. www.karrierefuehrer.de/recht/constantin-schreiber-im-gespraech.html

[3] Constantin Schreiber über sein Buch "Kinder des Koran" // 3nach9 Talkshow, Minute 9:40. www.youtube.com/watch?v=jNtYsodHZDg

[4] „Ganze Generation soll mit Hass auf den Westen aufwachsen“, Die Welt, 30.04.2019. www.welt.de/politik/deutschland/plus192700855/Kinder-des-Koran-Constanti...

[5] Georg-Eckert-Institut über Schulbuchforschung in der MENA-Region. www.gei.de/abteilungen/wissen-im-umbruch/schulbuecher-in-der-mena-region...

[6] Deutscher Bundestag (2019): Fundamentalistische Schulbücher im Kontext deutscher Entwicklungspolitik. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der AfD, Bundestags-Drucksache 19/10528.
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/109/1910902.pdf

[7]“PA suspends ties with UNRWA over planned curriculum reform”, The Times of Israel, 13.04.2017.
www.timesofisrael.com/pa-suspends-ties-with-unwra-over-planned-curriculum-reform/

[8]“Downtown Cairo battles to keep cosmopolitan heritage alive.” Arab News, 02.04.2019. www.arabnews.com/node/1476321/art-culture ;
“Egypt’s private sector to revamp 150 historic buildings in Cairo.” Al-Monitor, 13.05.2019. www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/05/heritage-buildings-historic-cairo-egypt-private-sector-.html ;

„Saving Cairo: Engineers, archaeologists protest 'ugly' Old Cairo buildings.” Al-Ahram, 20.06.2013. http://english.ahram.org.eg/NewsContent/9/43/74493/Heritage/Islamic/Saving-Cairo-Engineers,-archaeologists-protest-ugl.aspx

[9] "2012 Ad Warning Egyptians Foreigners Might Be Spies.” www.youtube.com/watch?v=GucIyK94RwI

[10] “Forget Iran. Is the Fertility Rate the Real Threat to Israel's Existence?” Haaretz, 16.04.2017. www.haaretz.com/israel-news/forget-iran-is-the-fertility-rate-the-real-threat-to-israel-s-existence-1.5461149

[11] Zu gesellschaftlichen Wandlungsprozession im Osmanischen Reich, Vgl: Gelvin, James L. The Modern Middle East: A History. Third ed. New York: Oxford University Press, 2011, p. 150–157.

[12] „Türkische Schulbücher sehen europäische Staaten als Feinde.“ Der Standart, 17.08.2005. https://derstandard.at/1879723/Tuerkische-Schulbuecher-sehen-europaeisch...

[13] Schreiber zitiert fälschlicherweise „beispielsweise“, S.227.

[14] „Studie zu Fundamentalismus. Fundamental anders“, Deutschlandfunk Nova, 12.01.2015. www.deutschlandfunknova.de/beitrag/studie-zu-fundamentalismus-von-deutsc...

[15] „Online-Hass: Staatssekretärin Chebli stellt bis zu 30 Anzeigen pro Woche.“ Heise Online, 14.06.2019. www.heise.de/newsticker/meldung/Online-Hass-Staatssekretaerin-Chebli-ste...

[16] Chebli, Sawsan (SawsanChebli). “Heute war ein besonderer Tag für mich. Ich wurde für den Einsatz gegen Antisemitismus mit dem Steh-auf-Preis für Toleranz und Zivilcourage geehrt. Der Preis ist Ansporn, alles zu tun, damit jüdisches Leben angstfrei wachsen kann. Rabbiner Nachama hielt eine bewegende Laudatio.“ 30.08.2019, 12:23 Uhr, Tweet. https://twitter.com/SawsanChebli/status/1167186042300116992

[17] Deutscher Bundestag (2018): Schriftliche Fragen an die Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 19/1126, Frage 22 von Beatrix von Storch, S. 15. https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/011/1901126.pdf

[18] Deutscher Bundestag (2018): Geldmittel an UNRWA und die Kontrolle durch die Bundesregierung. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der AfD, Bundestags-Drucksache 19/2545.
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/025/1902545

[19] Schreiber, Constantin (ConstSchreiber). „Photo Text.” 20.08.2019, 10:58 Uhr, Tweet. https://twitter.com/ConstSchreiber/status/1163721933634113536/photo/2

[20] Deutscher Bundestag (2018): Geldmittel an UNRWA und die Kontrolle durch die Bundesregierung. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der AfD, Bundestags-Drucksache 19/2545, Frage 10, S. 5. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/025/1902545

[21] Deutscher Bundestag (2019): Fundamentalistische Schulbücher im Kontext deutscher Entwicklungspolitik. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der AfD, Bundestags-Drucksache 19/10528. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/109/1910902.pdf

[22] „Demo: Dem Rechten Aufmarsch entgegentreten“. Köln gegen Rechts. http://gegenrechts.koeln/tag/carsten-jahn/

[23] „Ganze Generation soll mit Hass auf den Westen aufwachsen“, Die Welt, 30.04.2019. www.welt.de/politik/deutschland/plus192700855/Kinder-des-Koran-Constanti...

[24] „Kinder des Zorns - Eine Generation mit falschem Weltbild kommt auf uns zu!“ Carsten Jahn, 01.05.2019. www.youtube.com/watch?v=wbZjNDNulC8&t=121s

[25] Schreiber, Constantin (ConstSchreiber). „Warum ich meine Bucheinnahmen für einen gemeinnützigen Zweck stifte #deutschetoleranzstiftung.” 20.08.2019, 10:58 Uhr, Tweet. https://twitter.com/ConstSchreiber/status/1163721933634113536/photo/1

[26] "Triff mich!": Constantin Schreiber gründet Toleranz-Stiftung.“ Tagesspiegel, 20.08.2019, Zitat Schreiber. www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/gegen-vorurteile-und-luegenpresse-theorien-triff-mich-constantin-schreiber-gruendet-toleranz-stiftung/24922746.html

Jan promoviert derzeit zur urbanen, sozialen und ökonomischen Geschichte Libanons im 20. Jahrhundert an der University of Cambridge. Zuvor studierte er Nahost-, Geschichts-, und Islamwissenschaft in Beirut und Freiburg. Zwischen 2016 und 2020 war er bei dis:orient im Redaktionsteam sowie als Autor aktiv. Neben der Forschung schreibt er...
Redigiert von Charlie Wiemann, Adrian Paukstat, Daniel Walter