10.08.2017
1967 – Als der Zionismus in die eigene Falle ging
Betende an der Klagemauer im Jahr 1910. Die heiligen Stätten des Judentums waren schon lange ein Sehnsuchtsort, auch für nicht-religiöse Juden. Foto: G.E. Franklin/Wikicommons
Betende an der Klagemauer im Jahr 1910. Die heiligen Stätten des Judentums waren schon lange ein Sehnsuchtsort, auch für nicht-religiöse Juden. Foto: G.E. Franklin/Wikicommons

Mit dem Krieg von 1967 begann ein Prozess, der den Zionismus von einer säkular-pragmatischen zu einer religiös-messianischen Bewegung wandelte. Statt um einen Teil Palästinas zur Errichtung einer jüdischen Heimat innerhalb des internationalen Rechts ging es zunehmend um die Herrschaft über das gesamte Land.

Dieser Text ist Teil einer Serie zum Krieg von 1967. Alle Beiträge der Serie findet Ihr hier

Von Beginn an gab es in der zionistischen Bewegung eine innere Spannung zwischen ihrer Legitimation und ihren möglichen Zielen. Der Zionismus strebte nach einem sicheren Zufluchtsort für Juden, einem Ort, an dem sie sich zu Hause fühlen und ein Heimatland aufbauen konnten. Obwohl auch andere Länder vorgeschlagen worden waren, forderten die meisten Zionisten, dass dieses Heimatland im antiken Land der Vorväter entstehen sollte, nämlich in Zion. Dieses hebräische Wort ist ein Synonym für Jerusalem und das gesamte Land Israel, auch bekannt unter dem Namen Palästina.

Zu Beginn waren die Ziele der zionistischen Bewegung nicht besonders klar umrissen. Beim ersten Zionistenkongress im Jahr 1897 wurden die Absichten der zionistischen Bewegung im Basler Programm formuliert: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“ Dieses Ziel meinte nicht einen ausschließlich jüdischen Nationalstaat und beanspruchte auch nicht das gesamte Land für das jüdische Volk. Ein weiteres wesentliches Element war, dass internationale Zustimmung als notwendig galt, um die politischen Ziele zu erreichen. Der Pragmatismus des zionistischen Projekts kam auch dadurch zum Ausdruck, dass sich die frühen Siedler nicht in den dichter bevölkerten historisch-religiös bedeutsamen Gebieten von Judäa und Samarien niederließen, sondern vor allem an der weniger besiedelten Küste und in den Tälern der Jesreel-Ebene und des Nord-Jordantals.

Obwohl die meisten zionistischen Denker säkular oder gar atheistisch waren, bezogen sie sich in ihrer Rechtfertigung für die Rückkehr nach Zion auf einen religiösen Text: den Tanach, bei Christen das Alte Testament. Dabei schenkten sie dessen religiösen Inhalt keinerlei Beachtung, sondern benutzten die Bibel einzig als einen historischen Beweis für das Recht der Juden zur Rückkehr in ihr Land. Dieses inhärente Paradox innerhalb der säkular-zionistischen Ideologie von Israels Gründervätern beschreibt Amnon Raz-Krakotzkin, Professor für Jüdische Geschichte, folgendermaßen: „Es gibt keinen Gott, aber er hat uns das Land versprochen.“

Existenz über Vollständigkeit: der frühe Zionismus

Die Gründerväter des Zionismus waren sich der explosiven religiösen Komponenten bewusst, die in der Jüdischen Nationalbewegung eingebettet waren und versuchten von Anfang an, diese Komponenten zu entschärfen. Theodor Herzl hatte sich Jerusalem nicht als die Hauptstadt einer politischen jüdischen Einheit in Palästina vorgestellt. Er plädierte für eine Internationalisierung der Stadt, welche ein Zentrum für „Glaube, Liebe und Wissenschaft“ werden sollte (Golani 1992: 11). Chaim Weizmann sagte explizit, er „würde die Altstadt von Jerusalem nicht annehmen, selbst wenn sie ein Geschenk wäre“ (Shragai 1995: 19). Bis 1937 wollte David Ben-Gurion Jerusalem ebenfalls vollständig aufgeben und die Stadt internationalisieren.

Ein Jahrzehnt später akzeptierte die Jewish Agency den UN-Teilungsplan für Palästina (Resolution 181), wenn auch mit Vorbehalten gegenüber dem internationalen Status Jerusalems. Auch Ben-Gurion räumte nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg (1948-1949) ein, dass ein jüdischer Staat ohne Jerusalem einem Widerspruch gleichkomme. Nichtsdestotrotz war er bereit, die Stadt so aufzuteilen, dass die Heiligen Stätten unter jordanischer Herrschaft stünden. Er blieb der Meinung, dass, sollten die Heiligen Stätten unter israelischer Kontrolle stehen, der Zionismus religiös gefärbt und die Hauptstadt folglich nicht nach Ben-Gurions progressiver Weltanschauung aufgebaut werden würde (Persico 2017: 106). Er macht dies deutlich, als er 1949 sagte: „Die IDF (A.d.R.: Israeli Defence Forces) könnten das ganze Land zwischen dem Fluss Jordan und dem Meer erobern. Aber welch einen Staat hätten wir dann? Angenommen es gäbe Wahlen und Deir Yassin (A.d.R: ein 1948 von zionistisch-extremistischen Milizionären in einem palästinensischen Dorf verübtes Massaker) ist nicht unsere Politik, dann haben wir eine Knesset mit einer arabischen Mehrheit. Bei der Wahl zwischen der Integrität des Landes und einem jüdischen Staat haben wir uns für einen jüdischen Staat entschieden.“

Der israelische Sieg 1967 als „Beginn der Erlösung“: Erstarken nationalistisch-messianischer Siedler-Bewegungen

Israel existierte also innerhalb der Waffenstillstands-Grenzen von 1949 unter ständiger Bedrohung von seinen Nachbarn. Diese Spannung erreichte den Siedepunkt im Jahr 1967, als Gamal Abdel Nasser seine Kräfte in der Sinai-Halbinsel mobilisierte, die UN-Soldaten auswies und die Meerenge von Tiran für israelische Schiffe schloss (mehr zur Vorgeschichte des Kriegs unter diesem Link). Die arabischen Führer wiederholten ihre Absichten, Israel zu vernichten und seine Bevölkerung abzuschlachten. Hafez Al-Assad, damals noch syrischer Verteidigungsminister, verkündete: „Zerschlagt die Siedlungen der Feinde, verwandelt sie zu Staub, pflastert die arabischen Straßen mit den Schädeln der Juden“. Der irakische Präsident, Abdul Rahman Arif, erklärte: „Unser Ziel ist es, Israel von der Landkarte zu streichen“. PLO-Führer Ahmad Shukeiri bestimmte: „Diejenigen der alten jüdischen Population Palästinas, die überleben, dürfen bleiben. Aber ich habe den Eindruck, dass niemand von ihnen überleben wird.“

Die Anspannung in Israel war enorm. Die Israelis gruben Massengräber und bereiteten sich auf das Schlimmste vor. Yizhak Rabin, damals noch Stabschef, schätzte im Vorhinein die Zahl israelischer Todesopfer auf 50.000 ein. Israel bemühte sich, den Krieg auf diplomatische Weise zu umgehen. Als dies scheiterte, führte Israel präventive Luftangriffe gegen Ägypten und schaffte es, den Sinai und den Gazastreifen zu erobern. Diese Ereignisse, gemeinsam mit dem darauf folgenden Angriff der jordanischen und syrischen Armee gegen Israel, gingen in die Geschichte ein als der so genannte „Sechs-Tage-Krieg“, an dessen Ende neben Gazastreifen und Sinai auch Ost-Jerusalem, Westjordanland und die Golan-Höhen unter israelischer Kontrolle standen (mehr zum Kriegsverlauf unter diesem Link).

Der plötzliche und unerwartete Sieg und die dadurch mögliche Rückkehr zu den heiligen Stätten, nach welchen sich viele Israelis zwei Jahrzehnte lang gesehnt hatten und die nun zum ersten Mal seit der Zeit der Makkabäer (167-37 v.Chr.) unter direkter jüdischer Kontrolle standen – all dies erweckte in vielen den Glauben an göttliche Einmischung. Viele religiöse und auch nicht-religiöse Menschen nahmen den Sieg auf messianische Weise als den „Beginn der Erlösung“ wahr.  

Dennoch, die Reaktion der Gründergeneration war recht reserviert. „Wofür brauche ich all diesen Vatikan?“, bemerkte Moshe Dayan und drücke damit die klassische zionistische Meinung in Bezug auf den Tempelberg aus (Shargai 1995: 18). Ben-Gurion, zu jener Zeit in der Opposition, sagte kurz nach dem Krieg, er würde alle eroberten Gebiete zurückgeben, außer Jerusalem und Gaza, vorausgesetzt die arabischen Staaten stimmten einem Friedensabkommen und der Gründung eines autonomen Staates für die Palästinenser im Westjordanland zu.

Als die Zeit verging, ohne dass ein Friedensabkommen in Sicht war, gewann die nationalistisch-messianische Bewegung an Stärke und Einfluss. Gestützt auf angebliche „Sicherheits“-Erwägungen, überzeugte sie die Awoda-Regierung (A.d.R. Arbeiterpartei), ihre Siedlungsbestrebungen im Westjordanland und Gaza zu unterstützen. Nachdem die konservative Likud-Partei 1977 zum ersten Mal die Wahlen gewonnen hatte, verbarg die Siedlerbewegung nicht mehr ihre wirklichen messianisch-religiösen Beweggründe für die Besiedlung des Landes hinter Sicherheits-Vorwänden – und die rechte Regierung unterstützte sie beim Erreichen ihrer Ziele.

Gegner der Siedlerbewegung sehen in den Siedlungen nichts als ein Hindernis für eine spätere Teilung des Landes in zwei Staaten. Die Siedler wiederum bekunden, sie seien die wahren Nachfolger der zionistischen Pioniere, welche sich zwischen 1882 und 1947 ebenfalls als Siedler niederließen. Durch ihre fortgeführte Besiedlung der besetzten Gebiete, so die Argumentation, führen sie das zionistische Projekt fort und sichern die Existenz Israels. Sie ignorieren dabei völlig die Tatsache, dass Herzl und die Zionisten vor 1948 aus praktischen Gründen einen Staat für das heimatlose Volk gemäß dem Völkerrecht anstrebten. Die Siedlerbewegung nach 1967 begnügt sich nicht mehr mit der bloßen Existenz Israels: Angetrieben durch einen messianischen Glauben, strebt sie danach, immer mehr Land zu besiedeln – auf Kosten eines anderen staatenlosen Volkes und der internationalen Ablehnung zum Trotz.

Der pragmatische Zionismus ist im Netz der eigenen Errungenschaften gefangen“

Ihr Beharren auf der Besiedlung der besetzten Gebiete hat die zionistische Bewegung in eine Zwickmühle manövriert. Den religiösen Zionisten zufolge lässt sich das Recht auf Land aus der jüdischen Geschichte in Jerusalem, Hebron, Bethel oder Shilo ableiten. Aus diesen Gründen unterminiere die Forderung, sich aus diesen Orten zurückzuziehen, die gesamte zionistische Rechtfertigung für ein Heimatland, und die Trennung von den jüdischen Vorfahren gefährdet den jüdischen Charakter des Staats.

Die Worte des israelischen Literaturkritikers Baruch Kurzweil aus dem Jahr 1970 haben bis heute eine starke Resonanz: „Der Zionismus und sein Nachkomme, der Staat Israel, welche die Klagemauer über den Weg der militärischen Eroberung erreicht haben und dies als die Erfüllung eines irdischen Messianismus ansehen, werden niemals in der Lage sein, die Mauer und die besetzten Teile des Landes Israel zu verlassen, ohne dabei ihr historiosophisches Konzept des Judentums zu verleugnen. Der pragmatische Zionismus ist im Netz der eigenen Errungenschaften gefangen. Diese aufzugeben würde bedeuten, das eigene Scheitern als Stimme und ausführende Macht der historischen Kontinuität des Judentums zuzugeben.“ (Ohana 2003: 374-375).

Die Ereignisse von 1967 haben also die, stets vorhandene jedoch zuvor weitgehend unterbundene, religiös-messianische Grundlage des Zionismus zu Tage treten lassen. Der israelische Intellektuelle Tomer Persico formuliert dies folgendermaßen: „Ödipus entdeckte seine königliche Abstammung in eben dem Moment, als er realisierte, dass er seinen Vater getötet und Verkehr mit seiner Mutter gehabt hatte. Der Zionismus entdeckte seine religiöse Abstammung in eben dem Augenblick, da er Judäa, Samaria und den Tempelberg erobert hatte. Der Messianismus als die zugrundeliegende treibende Kraft ist aufgedeckt, die imaginierte Grundlage des westlichen Liberalismus ist erschüttert.“ (Persico 2017: 114).

Rückbesinnung auf das säkular-pragmatische Erbe

Wenn es um eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts geht, konzentriert sich der internationale Diskurs normalerweise auf die israelischen Siedlungen als ein Hindernis zu irgendeinem Friedensabkommen und ignoriert den gesellschaftlichen Umbruch in Israel, welcher ein großes Hindernis zu jedem Kompromiss darstellt. Die Veränderungen innerhalb der israelischen Gesellschaft sind entscheidend. Zwei Generationen nach dem Krieg von 1967 erinnern sich nur noch wenige Menschen an ein Israel in den alten Grenzen, für junge Israelis ist es gar unvorstellbar, dass die Grenzen anders liegen könnten als heute. Ein weiterer Wandel, der sich innerhalb der israelischen Gesellschaft vollzogen hat, ist die wachsende religiöse und ethnische Orientierung vieler Israelis. Und klar ist: Je religiöser Israel wird, desto schwieriger ist es für die Regierung, Zugeständnisse zu machen im Konflikt um religiös bedeutsames Land im Westjordanland und Jerusalem.

Aktuellen Friedens-Index Meinungsumfragen zufolge betrachten 62 Prozent der jüdischen Israelis die israelische Kontrolle des Westjordanlands nicht als Besetzung. 65 Prozent der jüdischen Israelis lehnen die Meinung ab, dass die israelischen Führer direkt nach Kriegsende Friedensverhandlungen mit den arabischen Staaten hätten führen und, im Austausch gegen ein umfassendes Friedensabkommen, die Gebiete hätten zurückgeben sollen, welche sie im Krieg erobert hatten. Wäre diese Frage im Jahr 1967 gestellt worden, wäre das Ergebnis das absolute Gegenteil gewesen.

Aus diesem Grund ist es vor allem die israelische Gesellschaft, auf die man schauen muss, wenn man von Zeitdruck spricht, denn diese wird immer mehr ethno-nationalistisch und religiös und immer weniger tolerant und demokratisch. Es ist nicht klar, ob es in der israelischen Bevölkerung überhaupt noch den Willen gibt, sich aus dem Westjordanland zurückzuziehen und auf die heiligen Stätten zu verzichten, denn genau diese Orte sind Teil der jüdischen Identität der Menschen und die raison d'être des Staates geworden. Für das Friedenslager in Israel ist es eine extrem schwierige Herausforderung, eine Alternative zur andauernden Besatzung des Westjordanlands und Ost-Jerusalems zu bieten, insbesondere mit Hinblick auf Identität und Ideologie, ohne sich selbst zu widersprechen.

Ich glaube, um gegen die Vergangenheits-orientierten ethnisch-religiös-nationalistischen Allianzen des rechten Flügels ankommen zu können, müssen die demokratischen Kräfte zu den Grundlagen des Zionismus zurückkehren und eine Zukunfts-orientierte, säkulare und zivil-israelische Identität bieten. Wie Herzl in seinem Utopia Altneuland schrieb: „Darum sage ich euch, daß ihr daran festhalten sollt, was uns großgemacht hat, am Freisinn, an der Duldung, an der Menschenliebe. Zion ist nur dann Zion!“

 

Quellen:  

Golani, Motti. 1992. Zion in Zionism. [In Hebrew.] Tel Aviv: Ministry of Defense.

Ohana, David. 2003. Messianism and Statism: Ben-Gurion and the Intellectuals between Political Vision and Political Theology. [In Hebrew.] Jerusalem: Ben-Gurion University Press.

Persico, Tomer. 2017. The End Point of Zionism: Ethnocentrism and the Temple Mount. Israel Studies Review, Volume 32, Issue 1, Summer 2017: 104–122

Shragai, Nadav. 1995. The Mountain of Strife: Following the Temple Mount, Jews and Muslims, Religion and Politics since 1967. [In Hebrew.] Jerusalem: Keter.

 

Ebenfalls in dieser Serie erschienen:

Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.

Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam

Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte

Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall

Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es

Die Folgen des Juni-Kriegs 1967,in Israel

1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabischi

Die Folgen von 1967 in Ägypten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Nasser und der Krieg 1967: Zwischen politischem Kalkül und Improvisation

Wenn über Erinnerungen Gras wächst – palästinensische Ruinen im Ayalon Canada Park

Israel und die Golan-Drusen: 50 Jahre Provisorium 

Artikel von Doron Gilad
Übersetzt von Laura Overmeyer