31.01.2021
Alevilerin Çarpısı – Zwischen Ausgrenzung und Repression
Yalova. Quelle: Georgios Karabelas, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
Yalova. Quelle: Georgios Karabelas, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons

In der Türkei ist der Umgang mit Minderheiten seit Republiksgründung von Gewalt und Assimilationsdruck geprägt. Über historische und aktuelle Repression gegen Alevit:innen berichtet Mahir Türkmen.

Gebrandmarkt zu werden ist nicht nur Teil der alevitischen Geschichte in der Türkei, sondern auch Teil ihrer Gegenwart: Am 25. Januar diesen Jahres markierten Unbekannte in der westtürkischen Provinz Yalova Wohnhäuser von Alevit:innen mit einem roten X, einer sogenannten çarpı. Auch in Pendik, einem Istanbuler Stadtteil, wurden im Oktober 2020 solche Markierungen an Wohnungen und alevitischen Versammlungshäusern entdeckt.

Geschichte der Repression

Die alevitische Community kennt das Verfahren der çarpı leider nur allzu gut. Dass Wohnungen und Häuser mit einem roten X gekennzeichnet werden, ist eine gängige Methode der Ausgrenzung, die oft mit Gewalt einhergeht. Das Pogrom von Maraş im Dezember 1978 markiert dabei einen traurigen Höhepunkt in der Geschichte der Repression gegen die kurdisch-alevitische Bevölkerung in der Türkei. Vom 19. bis 26. Dezember 1978 dringen Rechtsradikale in das alevitische Viertel der südanatolischen Stadt Kahramanmaras (kurz Maraş) ein. Sie ermorden nach offiziellen Angaben 111 Alevit:innen, viele weitere wurden geschlagen und gefoltert, Frauen vergewaltigt. Der türkische Staat griff erst spät ein. Die Täter wussten in welchen Häuser Alevit:innen wohnten, da Unbekannte im Vorfeld der Ereignisse eben dieses X auf die Häuser gemalt hatten.

Bis heute wurden die Mörder nicht zur Rechenschaft gezogen. Für die Minderheit in der Türkei besteht dadurch eine konstante Bedrohung, zumal auch die Strafverfolgungsbehörden kaum Interesse an den Vorfällen zeigen. Auch fehlt eine staatliche Erinnerungskultur an das Pogrom. Weitere Massaker an Alevit:innen, wie das in Çorum 1980 oder das von Sivas 1993 sind hingegen Teil der eigenen, alevitischen Erinnerungskultur.

Lücke in der Statistik

In Deutschland ist die rechtliche Lage von Alevit:innen zwar besser, aber auch hier kommt es zu (rassistischer) Diskriminierung. Stichhaltig Daten fehlen aber. So wurden der Großen Anfrage „Antimuslimischer Rassismus und Diskriminierung von Muslimen in Deutschland“ der Linksfraktion von 2020 zufolge, im Jahr 2019 184 Fälle islamfeindlich motivierter Angriffe auf Moscheen, muslimische Einrichtungen und dessen Vertreter:innen registriert. Die Sicherheitsbehörden erfassen jedoch weder Drohungen, noch differenzieren sie zwischen verschiedenen Glaubensgemeinschaften oder ethnischen Gruppen. Die Polizeistatistiken bilden also keine dezidiert anti-alevitische Hassverbrechen ab und können daher keine Angaben zur Bedrohung von Alevit:innen machen.

Diese Lücke zu füllen und den polizeilichen Straftatbestand zu erweitern wäre ein wichtiger Schritt für den Minderheitenschutz in Deutschland.

Als Minderheit in Deutschland

In der Türkei werden bis heute die Gebetshäuser der alevitischen Minderheit nur als Kulturzentren anerkannt und Assimilierungsversuche sind an öffentlichen Institutionen, wie beispielsweise Schulen, allgegenwärtig. Alevit:innen mussten erst aus der Türkei nach Deutschland migrieren, um heute das sein zu dürfen, was sie sind: Alevit:innen.

Spätestens seit den 1990er Jahren gibt es unter dem Dach der Alevitischen Gemeinde Deutschland AABF (Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu) sehr aktive Verbandsstrukturen, die die alevitische Kultur und ihren Glauben ausleben und fördern. Nicht zuletzt sind der alevitische Glaubensunterricht an öffentlichen Schulen und die Anerkennung der AABF als Körperschaft des Öffentlichen Rechts in Nordrhein-Westfalen ein großer Erfolg für die Etablierung der Alevit:innen in Deutschland.

Transnationale Verantwortung

Unsere Emanzipation als Minderheit in Deutschland bedeutet aber auch, Verantwortung zu übernehmen und transnational auf die Sorgen unserer Brüder und Schwestern in unserem Herkunftsland hinzuweisen.

Die Geschichte hat zu oft gezeigt, wie fragil die Minderheitenrechte in der Türkei sind. Das kollektive Gedächtnis der Alevit:innen kennt die çarpı beziehungsweise Markierungen als Vorhut für gewaltvollere Handlungen zu genüge. Um die aktuellen Probleme der Alevit:innen in der Türkei ernst zu nehmen, müssen sie auch in Deutschland sichtbar gemacht werden. Bevor aus roter Farbe wieder Gewalt wird.

 

 

Mahir Türkmen studiert derzeit seinen MA Sozialwissenschaften in Berlin. Seine Schwerpunkte liegen in der Rassismus- und Migrationsforschung, womit er sich auch beruflich auseinandersetzt. Neben der Tätigkeit in der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit ist er vor allem als Community Builder beim BDAS Berlin (Bund der alevitischen...
Redigiert von Clara Taxis, Eva Hochreuther