23.11.2012
Analyse zum Gaza-Konflikt - Der Sieger sitzt in Kairo

Es ist wie immer in Nahost: Raketen fliegen, Zivilisten sterben und am Ende ernennen sich beide Parteien zum Sieger. Doch der eigentliche Gewinner des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas heißt Mohammed Mursi.

Vielen in Israel und den Palästinensischen Gebieten mag das am Mittwoch durch Ägypten vermittelte Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung Netanjahu und der Hamas wie ein Déjà-vu erscheinen: Ein Déjà-vu, weil die Äußerungen der israelischen und palästinensischen Politiker und Militärs fast im Wortlaut den Erklärungen nach der israelischen Gaza-Offensive „Gegossenes Blei“ von 2009 ähneln.

Alt bekanntes neu aufgelegt

Es ist alles schon einmal beschlossen worden, alles auch schon einmal eingehalten und alles auch schon einmal gebrochen worden. Einzig die politischen Rahmenbedingungen haben sich verändert: Benjamin Netanjahu ist mittlerweile israelischer Ministerpräsident, nicht mehr Ehud Olmert. Außerdem hat Ägypten einen Regimewechsel erlebt, 2011 haben die Muslimbrüder - demokratisch gewählt - die Regierung übernommen.

Die Erklärung der  Feuerpause, die am Mittwochabend beschlossen wurde, basiert auf eher losen Zugeständnissen, die nun von beiden Seiten implementiert werden müssen. Beide Seiten müssen sich jetzt an Absprachen halten, die sie nicht miteinander, sondern jeweils einzeln mit Ägypten ausgehandelt haben.

Israel wird in der Vereinbarung dazu verpflichtet, alle Angriffe von Land, Luft und Wasser auf den Gaza-Streifen einzustellen. Gezielte Tötungen müssen unmittelbar beendet werden. Gleichzeitig müssen alle palästinensischen Gruppierungen ihre Angriffe aus dem Gaza-Streifen auf Israel einstellen. Weiter sollen „Checkpoints geöffnet sowie der Personen- und Warenverkehr ermöglicht werden“.

Vereinbarungen so einfach wie lose

Diese Vereinbarungen klingen so simpel, wie sie kompliziert und vor allem weit auslegbar sind. Sie sind so verfasst, dass beide Seiten den Waffenstillstand als ihren eigenen Erfolg feiern und die acht Tage Feuergefecht zu ihrem Sieg erklären können.

Besonders vage erscheint die Formulierung zur Öffnung der Checkpoints: Welche Übergänge nach Gaza wird Israel öffnen, für wen und wie lange? Wird es zu einer längerfristigen und spürbaren Erleichterung des Personen- und Warenverkehrs zwischen dem Gaza-Streifen, dem Westjordanland und Israel kommen? Wäre dem so, würde dies einen immensen Erfolg für die Hamas bedeuten. Seit 2007 ist der Gaza-Streifen sowohl politisch als auch ökonomisch umfassend von Israel und dem Westjordanland separiert. Die Ein- und Ausfuhr von Waren wird komplett von Israel reguliert und gesteuert, der Personenverkehr ist fast komplett zum Erliegen gekommen.

Ein weiterer interessanter Punkt ist die Formulierung, die „alle palästinensische Gruppierungen“ (Englisch: factions) zu einem Ende der Angriffe aus dem Gaza-Streifen verpflichtet.  Die Hamas in ihrer Rolle als dominante Regierungsmacht im Gaza-Streifen wird nicht explizit genannt. Implizit wird sie damit von der Verantwortung entbunden, die Waffenruhe im Gaza-Streifen pro-aktiv durchzusetzen. Was das für einen anhaltenden Waffenstillstand und darauf folgende Vereinbarungen bedeutet, bleibt abzuwarten.

In Israel wird der Waffenstillstand zwar mit Dankbarkeit als Moment des Aufatmens aufgenommen, gleichzeitig aber kontrovers diskutiert: Vor allem nach dem Terroranschlag auf einen Bus in Tel Aviv am Mittwoch sind wieder vermehrt Stimmen laut geworden, die eine baldige Bodenoffensive, zunächst aber einen weiteren Beschuss des Gaza-Streifens fordern. Im Süden des Landes protestieren Israelis gegen die Einstellung des Beschusses:

"Die Wahl zwischen Krieg und Schande"

In Anlehnung an den Slogan der Sommerproteste des letzten Jahres „Das Volk will soziale Gerechtigkeit“ versammeln sich Demonstrierende mit Schildern in Beer Sheva, Ashdod und Sderot und fordern: „Das Volk will Sicherheit“. Sie warnen: „Bibi: Du hast die Wahl zwischen Krieg und Schande gehabt. Du hast die Schande gewählt und Du wirst Krieg haben.“

Manche Israelis fragen: Wenn das eigene Militär schon außer Stande ist, die Hamas vor der eigenen Haustür auszuschalten, wie soll sie dann einen Krieg mit dem Iran gewinnen?

Deshalb ist es wahrscheinlich, dass Netanjahu seinen Ruf als unnachgiebiger Vertreter zionistischer Ideale auf andere Weise festigen wird. Mittelfristig dürfte seine Regierung den Siedlungsbau im Westjordanland weiter forcieren. Ein schärferer Kurs gegenüber den Palästinensern ist in Israel populär und stärkt zugleich seinen Rückhalt im rechten Lager.

Vorerst darf sich die Hamas nach der jüngsten Offensive gestärkt fühlen. Sie verkauft den Ausgang des Konflikts als Erfolg: Es gab deutlich weniger zivile Opfer als im letzten Gaza-Krieg; erstmals erreichten Raketen aus Gaza Tel Aviv und Jerusalem. Mit der möglichen Öffnung der Grenzübergänge fährt die Bewegung auch eine politische Dividende ein. Und ihre politische Isolation hat die Hamas durchbrochen: Israel und die USA haben unter ägyptischer Vermittlung mit der Hamas verhandelt und die Partei damit als politischen Akteur im Nahost-Konflikt anerkannt.

Der zweite große Erfolg für die Hamas

Die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland, die von der Fatah dominiert wird, kann bei dieser Entwicklung nur zuschauen. Präsident Mahmud Abbas gratuliert der Hamas zähneknirschend zu ihrem Erfolg, während seiner Initiative für eine Anerkennung Palästinas als unabhängiger Staat von den USA und weiten Teilen der EU weiterhin die kalte Schulter gezeigt wird. Die Hamas hingegen kann - nach dem Gefangenenaustausch gegen den von ihr entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit - den zweiten großen Erfolg verbuchen, den sie letztlich mit gewaltsamen Mitteln erzielt hat. Das stärkt zugleich die Position der Hamas bei den für das kommende Jahr geplanten Wahlen für die Nachfolge von Abbas. Die Chancen für die Hamas, demnächst den palästinensischen Präsidenten zu stellen, stehen besser denn je. Israel und den Westen würde das vor neue Herausforderungen stellen.

Kurzfristig ist jedoch Ägyptens Präsident Mursi der große Gewinner des Abkommens. Saudi-Arabien oder Katar, das sich in den vergangenen Jahren als Vermittler bei Konflikten in der Region ins Spiel gebracht hatte, waren diesmal völlig außen vor. Noch vor 14 Tagen erschien es völlig undenkbar, dass Israels Außenminister Avigdor Lieberman dem ägyptischen Präsidenten - einem Muslimbruder - für seine Vermittlung danken würde. Und Mursi zeigt, dass er machtpolitisch von seinem Vorgänger gelernt hat. Kaum, dass er sein außenpolitisches Prestige vermehrt hatte, zog er innenpolitisch die Zügel an. Keine 24 Stunden nach dem Vermittlungserfolg verlieh er sich mit der Verkündung einiger Verfassungszusätze quasi diktatorische Vollmachten. Es ist wie so oft im Nahen Osten - irgendwie hängt alles mit allem zusammen.

Mitarbeit: Christoph Dinkelaker und Christoph Sydow

Amina ist seit 2010 bei dis:orient, war lange im Vorstand aktiv und konzentriert sich mittlerweile auf die Bildungsarbeit des Vereins in Deutschland. Sie promoviert an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Fach Soziologie im Bereich kritische Sicherheitsforschung und arbeitet in Berlin als Bildungsreferentin bei der Kreuzberger Initiative...