13.05.2021
Armenien und Aserbaidschan: „Es braucht einen Generationswechsel“
Kloster Dadivank in Bergkarabach. Seit dem Waffenstillstand vom Dezember 2020 steht es unter der Verwaltung Aserbaidschans. Bild: Julian Nyča for Wikimedia Commons
Kloster Dadivank in Bergkarabach. Seit dem Waffenstillstand vom Dezember 2020 steht es unter der Verwaltung Aserbaidschans. Bild: Julian Nyča for Wikimedia Commons

Im Interview spricht dis:orient mit Aktivistin Ani Tovmasyan darüber, wie der jüngste Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ihre Einstellung zur Friedensarbeit verändert hat.

 

Ani Tovmasian ist seit ihrer frühen Jugend Friedensaktivistin in Armenien. Sie arbeitet für EPF-Armenia (Eurasia Partnership Foundation) - einer lokalen Organisation, die sich über Projekte im Bereich der Erinnerungsarbeit zwischen Armenien, Aserbaidschan und der Türkei für eine gemeinsame friedliche Vision für alle drei Länder einsetzt.

Ani, warum hast du mit der Friedensarbeit begonnen?

 

Das hatte viel mit meinen politischen Ansichten und der Partei Armenischer Nationalkongress[1], die ich unterstützt habe, zu tun. Diese Partei hat sich für einen nachhaltigen Frieden engagiert und Kooperation mit allen Seiten. Bereits als Studentin war ich aktiv und habe an Dialog-Projekten teilgenommen. Das war 2007, damals war ich 18 Jahre alt und es gab freie Präsidentschaftswahlen in Armenien. Der Kandidat Lewon Ter-Petrosyan, den ich damals unterstützt habe und der von 1991-1998 Armeniens erster Präsident war, kandidierte 2008 überraschend als Präsident. Er stand für die Idee einer friedlichen Koexistenz und regionalen Kooperation mit Aserbaidschan und der Türkei. Das war ein historischer Moment. In dieser Zeit wurde ich politisch geprägt. Der jetzige Premierminister Nikol Paschinjan war quasi sein Ziehsohn und Teil einer politischen Bewegung, die zehn Jahr später, also 2018, auch zur „Samtene Revolution“ geführt hat.

 

Ich war sehr interessiert an alternativen Geschichtsdarstellungen und wollte andere Perspektiven kennenlernen. Armenische Schulen sind nicht so dogmatisch, dass man dort nur das Staatsnarrativ hören würde, aber es gibt eine Ablehnung, alternativen Perspektiven Gehör zu verschaffen. Auch die Medien stehen unter Staatskontrolle, dennoch, wenn man sich anstrengt, können auch alternative Nachrichten und Sichtweisen gehört werden. Hinzu kommt noch die Sozialisierung in den Familien, die unsere Narrative stark prägen. Meine Familie ist eher liberal und drückt uns keine nationalistischen Geschichtsnarrative auf.
 

Diese Bewegung von 2008 brachte viele weitere soziale und Umweltbewegungen hervor, die zur Aktivierung vieler Aktivist:innen führte und neue politische Akteure hervorbrachte, die in der politischen Sphäre bis dato nicht bekannt waren. Die alte politische Elite wurde dadurch also total umgewandelt. Die Bewegung war ein Auslöser für weitere politische Teilhabe.

Du hast deinen Aktivismus dann zum Beruf gemacht.

 

2014 habe ich begonnen auch professionell im Bereich Menschenrechtsarbeit und Friedenskonsolidierung zu arbeiten. Heute arbeite ich mit der EPF-Armenia zu Armenien, Aserbaidschan, und den Türkisch-Armenischen Beziehungen. Beispielsweise haben wir Projekte mit der Hrant Dink Stiftung[2] durchgeführt. Viele unserer Projekte drehen sich um grenzübergreifende Fragen, die nicht direkt mit Fragen von Frieden zu tun haben: Gesundheitssicherung, öffentliche Gesundheitsfragen oder Architektur. Wir haben viele Erfolgstories über die Kooperation zwischen Institutionen in den drei Ländern– auch wenn das nicht immer so öffentlichkeitswirksam ist.

 

Tatsächlich waren unsere Kooperationen sehr nachhaltig. So gibt es etwa ein Erasmus-Programm zwischen einer armenischen und türkischen Universität. Während unserer Arbeit hat das Universitätspersonal einen großen Wandel ihrer Sichtweisen durchlebt. Ein Perspektivenwechsel und somit eine Transformation in der Einstellung zueinander zu erreichen, ist eine der wertvollsten Dinge in unserer Arbeit.

Ihr wurdet ursprünglich von einer in den USA-ansässigen Organisation gegründet.

 

Die Geschichte unserer Organisation geht auf die post-sowjetische Zeit zurück, damals wurden wir gemeinsam mit vielen Schwesterorganisationen in 18 weiteren post-sowjetischen Ländern von der Eurasia Foundation in Washington gegründet. Wir haben aber keine Beziehung zur US-amerikanischen Regierung, um das klarzustellen! Wir sind selbstständige, lokale Organisationen mit unseren eigenen Ressourcen. Am Anfang hat sich die Arbeit viel um ökonomische Entwicklung und soziale Inklusion gedreht. Dies hat sich geändert nun geht es darum, freie Medienberichte zu unterstützen und Journalist:innen und Blogger:innen in Aserbaidschan und Armenien zu fördern, zivilen Journalismus zu betreiben. Wir glauben daran, dass gemeinsame Arbeit ein Weg ist, um wirklich nachhaltig Beziehungen und Kommunikation aufzubauen.

Es kommt immer wieder zu Krieg und somit auch Kriegsgefangenen, da war Friedensarbeit bestimmt nicht immer sicher?

 

Die post-sowjetische Zeit war auch eine Transformationszeit. Wenn wir mal an den ersten Krieg in Nagorno-Karabakh denken und den Waffenstillstand von 1994, dann war danach nur Kooperation auf der humanitären Basis möglich. Einige Organisationen setzen sich auch im Bereich des Gefang:innenaustauschs ein, wie das armenische Komitee der Helsinki Citizens' Assembly Armenian Committee. In den 2000er Jahren wurde es möglich, mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Jugend und Journalist:innen auf beiden Seite zu arbeiten. Damals war das Engagement wesentlich einfacher als jetzt. Es gab sogar Projekte, in denen man sich gegenseitig besuchte und nicht nach Georgien auswich.

 

Aber seit dem Machtwechsel von 2003 zwischen dem aserbeidschanischen Präsidenten Heydar Aliyev[3] und seinem Sohn Ilham Aliyev, der nun immer noch an der Macht ist, sind solche Kooperationen stark eingeschränkt. Selbst wenn dieser Austausch oft in Drittstaaten stattfand, war es nicht mehr sicher – für beide Seiten. Auch in Armenien gab es damals schon Druck gegen diese Aktivist:innen. Aber die aserbaidschanischen Aktivist:innen mussten mit Verfolgung rechnen, wenn sie an diesen Treffen teilnahmen. Das führte dazu, dass sie ihre Arbeit nicht publik machen konnten. Armenien hat ebenfalls keine perfekte Meinungsfreiheit, aber selbst vor der „Samtenen Revolution“ in Armenien 2018 waren wir nie unter so starkem Druck. Nach den Protesten kam es zu intensiven innenpolitischen Entwicklungen. So haben die anschließenden Wahlen die Macht des autoritären Regimes eingeschränkt und die Menschen in Armenien kritisierten offen innenpolitische und außenpolitische Themen.

Deine Arbeit konzentriert sich auf Erinnerung. Was ist ihre Bedeutung in der Friedensarbeit?

 

Wir haben mehrere Jahre an einem Projekt mit dem Titel „Fragments of Armenia’s Soviet Past: Tracing the Armenian-Azerbaijani Coexistence“ [Die Fragmente sowjetischer Vergangenheit in Armenien: Die armenisch-aserbaidschanische Koexistenz. Anm. d. Red.] gearbeitet. In dem Projekt haben wir uns auf kulturelles Erbe von Aserbaidschanier:innen in Armenien, sowjetische Monumente, Pilgerstätten sowie das aserbaidschanische Theater im sowjetischen Armenien sowie Formen von historischer Kooperation konzentriert. Es geht also darum, durch einen Blick auf die gemeinsame sowjetische Geschichte, Narrative von Koexistenz aufzuzeigen.

Das ist wichtig. Denn es gab zwischendurch einen Generationsbruch: 1994 kam es zum Waffenstillstandsabkommen. Die post-1994 Generation weiß nichts über die gemeinsamen Geschichte zwischen Aserbaidschan und Armenien oder über die Koexistenz, welche unsere Eltern und Großeltern während der Sowjetunion erlebt haben. Nach 1994 gab es keine gemeinsame Kommunikation. Die so entstandenen Narrative waren auch sehr entmenschlichend für die Menschen. In dem Projekt versuchten wir, diese menschliche Seite der „Anderen“ aufzuzeigen und Wissen zu vermitteln. Es ging nicht nur darum, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, sondern auch die Unterschiede, ohne dass diese zu gewaltvollen Antagonismen werden.

Gab es etwas Überraschendes für dich dabei?

 

Oh ja. Zum einen gibt es bestimmte Orte in Armenien, die traditionell von Aserbaidschaner:innen bewohnt waren. Dann gibt es noch religiöse Stätten, die sowohl von den muslimischen Aserbaidschaner:innen als auch von den christlichen Armenier:innen verehrt werden. Selbst Religion ist also kein Grund für Teilung. Während der Sowjetunion gab es zudem einen sehr bekannten armenischen Staatswanderzirkus (The Armenian State Turk Touring Theater), der überwiegend aus Aserbeidschaner:innen aus Armenien bestand und in Armenien tourte. Uns fehlt einfach das Wissen über diese Erinnerungen. Es geht uns nicht darum, spezifisch Wissen über die Geschichte des Konflikts zu generieren, sondern echtes ein Bewusstsein für die andere Seite zu schaffen.

Wie hast du als Friedensaktivistin den Ausbruch des Oktoberkrieges [4] von 2020 erlebt?

 

Das war auch ein innerer Konflikt. Es war schwierig für beide Seiten. Friedensarbeit ist für mich nicht nur ein Bürojob, sondern eine Lebensphilosophie. Der Krieg hat meinen inneren Frieden und Eckpfeiler verzerrt. Ich verstehe, dass es kein Konflikt zwischen verschiedenen Individuen ist, mit denen ich zusammenarbeite. Aber dennoch macht so ein Krieg die Kooperation schwieriger, sich gegenseitig in die Augen zu schauen…

Für mich war wichtig zu verstehen, wie sich die Friedensaktivist:innen der anderen Seite während des Krieges verhalten haben, einige sind in nationalistische Rhetorik abgerutscht. Das und nicht der Krieg selbst war für mich der herausforderndste Teil. Es war enttäuschend zu sehen, wie viele aserbaidschanische Aktivist:innen dem politischen Druck nachgegeben haben. Insbesondere von Aktivist:innen aus der Türkei gab es viel Unterstützung und sie drückten durchweg ihre Solidarität mit uns aus. Wir waren in ständigem Kontakt und teilten unsere Emotionen miteinander. Der Krieg hat für mich herausgefiltert, mit wem ich in Zukunft zusammenarbeiten möchte.

Geht es denn tatsächlich nur darum, unterschiedliche Sichtweisen zu kennen oder um mehr?

 

Die meisten Jugendlichen wissen heute nicht mal um die historischen Fakten des Nagorno-Karabakh Konflikts. Sie wissen nicht mal, welche Gebiete das umfasst, oder dass Armenien umliegende Gebiete Nagorno-Karabkhs als Pufferzonen besetzt hatte, um sie für spätere Verhandlungen zu nutzen. Diese Pufferzonen wurden von Armenien so dargestellt, als würden sie zur Kernregion gehören, dabei liegen sie außerhalb der autonomen Region Nagorno-Karabakh, und waren das auch während der Zeit der Sowjetunion. Die fehlende öffentliche Debatte zum Konflikt, das fehlende Wissen zur Region und die fehlende Diskussion über alternative Lösungen sind Gründe dafür, dass sich dieser Konflikt entwickelt konnte.

Was sind eure politischen Vorstellungungen zur Beendigung des Konflikts?

 

Vor dem letzten Krieg haben wir Friedensaktivist:innen uns eine Lösung so vorgestellt: Die Pufferzonen um die Region Nagorno-Karabakh hätten an Aserbaidschan übergeben werden sollen. Es hätte Verhandlungen über den rechtlichen Status der Region geben sollen, um einen Status für die vor allem armenischen Bewohner:innen von Nagorno-Karabakh zu finden. Einige führen hier die Madrider Prinzipien an [5], die aus meiner Sicht aber auch viel zu vage waren und in denen die armenische Seite klar gemacht hat, dass es keinen Meter Land an Aserbaidschan abgeben wird. Die Prinzipien dienten eher dazu, eine politische Lösung zu finden und in Stufen die Pufferzonen abzugeben, um im Gegenzug internationale und aserbaidschanische Garantien zu bekommen: Das Versprechen, dass es nach Rückgabe dieser zu keiner Anwendung von Gewalt gegen Nagorno-Karabakh kommen darf. Dann sollten internationale Friedenskräfte zum Einsatz kommen, die aserbaidschanischen Geflüchteten aus der Region zurückkehren können und das Referendum zum endgültigen Status von Nagorno-Karabakh vorbereitet werden.

 

Ich weiß nicht, wie wir mit dieser neuen Situation umgehen sollen[6]. Aserbaidschan ist nicht bereit, in irgendeiner Weise zu verhandeln. Die Nagorno-Karabakh Region und die Pufferzone wurden von Aserbaidschan besetzt. Eine Lösung ist gerade nicht in Sicht. Aktuell zeigt sich, dass wir innerarmenisch mehr Kraft brauchen und starke Institutionen, die ihre Arbeit machen – richtig und ausreichend, so können dann auch Lösungen für außenpolitische Themen gefunden werden.

 

Ich meine damit ganz konkret: Wir müssen direkte Verhandlungen mit Aserbaidschan und der Türkei aufnehmen ohne die Einmischung von Drittparteien wie Russland. Denn diese dritten Parteien handeln nur in ihrem eigenen Interesse und nicht im Interesse Armeniens. Die direkte Kommunikation muss nicht über formale diplomatische Beziehungen gehen. Die Akteur:innen zeigen keine Lösungen auf, sondern betonen eher einen ideologischen Ansatz basierend auf der Idee, dass wir nun unser Land zurückholen müssen.

Wie sieht der Kontakt zu Aktivist:innen aus Aserbadischan aus und unterscheiden sich die Visionen für Frieden von einander?

 

Ich glaube, dass es in beiden Ländern kritischen Stimmen gibt. Aber es ist wesentlich schwieriger für Aktivist:innen in Aserbaidschan, diese nach außen zu transportieren. Somit wirkt es nur scheinbar so, als wären wir hier lautstärker. Die Aktivist:innen dort haben sowohl den Druck vom Staat, als auch von der Gesellschaft und den Medien. Denn nach dem Krieg von 1994 gab es eine gesamte Gesellschaft, die nach einer entmenschlichenden Ideologie erzogen wurde.

 

Hier in Armenien wurde der Konflikt ebenfalls von der Armee immer als Ausrede genommen, keine Reformen umsetzen zu müssen. Es gab während des Krieges aserbaidschanische Aktivist:innen, insbesondere Linke, die zu Frieden aufgerufen haben. Allerdings ist ihre Zahl gering und viele leben im Exil. Da aber auch viel Propaganda von Aserbaidschaner:innen außerhalb des Landes kam, sollten wir das Problem nicht nur auf den politischen Druck reduzieren. Es hat auch etwas mit gesellschaftlicher Erziehung zu tun!

In Aserbaidschan sind viele Friedensaktivist:innen im Exil oder im Gefängnis. Wie ist das in Armenien?

 

Von den Autoritäten oder der politischen Elite hier gab es nicht so einen Druck, aber es gab eine Art sozialen Druck gegen Einzelpersonen. Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 9. November 2020 kam es zu Übergriffen nationalistischer Gruppen auf das Radio der Freiheit und die Open Society Foundation. Einige waren wohl der Meinung, dass diese Organisationen der Grund dafür seien, dass wir den Krieg verloren haben. Die Demonstrationen, die im Dezember 2020 stattfanden, waren vor allem von ultra-nationalistischen Gruppen organisiert. Sie vertreten die Ansicht, dass „kein Millimeter Land an die andere Seite“ gehen darf. Sie haben Menschen und Institutionen, die eine andere Haltung vertreten, physisch bedroht. Ich persönlich fühlte mich sehr unsicher, nachdem der Waffenstillstand unterschrieben wurde.

 

Die Autoritäten fühlten sich schwach, viele Polizist:innen waren an der Front und fehlten nun für die Sicherheit in Armenien selbst. Somit konnte es dazu kommen, dass in der Nacht nach der Vereinbarung des Waffenstillstands einige Gruppen Regierungsgebäude und auch die Nationalversammlung stürmten[7]. Sie randalierten, konnten aber keine Regierungsrepräsentanten finden. Nur der Sprecher der Nationalversammlung war vor Ort und wurde zusammengeschlagen. Er musste mehrmals operiert werden. Ich fühlte mich bedroht und hatte Angst um Verwandte, die ebenfalls aktivistisch aktiv sind. Wir hatten uns beide 2018 bei der Revolution gegen eben jene Gruppen, die nun durch die Straßen zogen, engagiert.

Viele armenische Aktivist:innen in der Diaspora vertreten ein nationalistisches Narrativ, wonach es eine Kontinuität von genozidialer Gewalt gegen Armenier:innen gäbe, die sich vom armenischen Genozid über die Pogrome 1993 in Baku über den Krieg 1994, 2016 und 2018 bis zum Oktoberkrieg 2020 ziehen. Wie relevant sind diese Narrative aus deiner Sicht und in Armenien? Du arbeitest mit Erinnerungen, gibt es etwas Produktives daran?

 

Ich glaube, die Realität ist wesentlich komplizierter als so ein geschichtliches Narrativ. Ich würde den Genozid an den Armenier:innen nicht mit dem Nagrono-Karabakh Krieg verbinden. Der Krieg steht für mich viel stärker im Kontext einer post-sowjetischen Dynamik von Unabhängigkeitsbewegungen. Als Armenien und Aserbaidschan ihre Unabhängigkeit erreichen wollten, forderten die Menschen in Nagorno-Karabakh 1988 ebenfalls Unabhängigkeit und wollten sich dann Armenien angliedern- das führte zunächst zu Pogromen gegen Armenier:innen in Baku und dann später zum Krieg 1994. Das Gebiet hätte ursprünglich Teil von Armenien werden sollen, Stalin entschied 1921 dann aber, dass es Aserbaidschan zugeschlagen wird. Das Nagorno-Karabakh-Problem war der Auslöser, dass Armenien ganz offiziell seine Unabhängigkeit beantragte. Armenien hat einen 4-jährigen rechtlichen Prozess durchlaufen, um die Unabhängigkeit im August 1991 zu erreichen. Damit ist es das einzige Land der Sowjetunion, welches auf legalem Wege unabhängig geworden ist.

 

Das Nagorno-Karabakh Thema war also erst der Auslöser der Unabhängigkeitsbestrebungen und wurde später dann als Ausrede des ersten Präsidenten der neuen Republik genutzt, um an die Macht zu kommen. Auch die zwei nachfolgenden Präsidenten instrumentalisierten die Frage innenpolitisch, um ihre Politik durchzusetzen und gleichzeitig leisteten sie nationalistischer Rhetorik Vorschub. Das hat eine friedliche Einigung verhindert. 1988 hätte niemand daran gedacht, den Genozid als Auslöser für den Nagorno-Karabakh Konflikt darzustellen, dieses Narrativ kam erst später.

… und wie hat es sich dann entwickelt?

 

Die armenischen Autoritäten haben während des jetzigen Krieges 2020 Aserbaidschaner:innen mit Türk:innen verglichen und genau diese Linie gezeichnet, dass die Türkei heute ihre genozidiale Arbeit fortsetzen und die Armenier:innen ethnisch säubern würde. Dieses Narrativ hat auch eine gewisse Legitimität. Aber ich persönlich unterstütze diese Vergleiche zwischen Aserbaidschan und der Türkei nicht. Das ist für mich ein oberflächlicher Vergleich und eine surreale Philosophie, die die Armenier:innen vereinen soll. Wir sollten auch nicht vergessen, dass gerade vom türkischen Staat die gleiche Rhetorik genutzt wurde: durch die Darstellung von Aserbaidschaner:innen als Türk:innen sollte Unterstützung in Aserbaidschan generiert werden.

Für mich sind sie aber nicht gleich! Ich verstehe auf einer emotionalen Ebene, warum Menschen in Armenien den Genozid mit der Situation heute verbinden, aber nicht politisch.

Ein Großteil der armenischen Bevölkerung sind Nachkommen von oder Überlebende des Genozids.

 

Genau. Meine Familie kommt aus dem sogenannten Westarmenien bzw. den östlichen Teilen der Türkei und Istanbul. Dennoch will ich nicht einfach so eine lineare Beziehung herstellen. Aber dieses Thema hat eben auch unabhängig von der nationalistischen Rhetorik eine emotionale Ebene. Es ist sehr schwierig, das zu durchbrechen.

Du hattest bereits gesagt, dass Friedensarbeit schwer ist, wenn ausländische Staaten intervenieren. Wie viel Handlungsraum habt ihr also trotz dieser Interventionen?

 

Für ein kleines Land wie Armenien sollte es nicht unmöglich sein, seine Politik selbst zu gestalten. Zu Beginn unserer Unabhängigkeit waren wir autark. Wir standen sowohl im Austausch mit Russland, westlichen Staaten, als auch mit Aserbaidschan und der Türkei. Ich denke, dass eine Grundvoraussetzung, um wieder diesen Zustand zu erreichen, die Legitimität der Autoritäten in Armenien ist– das heißt, wir brauchen eine umfassendere Demokratisierung.

 

Es ist zu idealistisch gedacht, zu hoffen, dass wir derzeit von Russland unabhängig sein könnten. Es bestünde nämlich sonst die Gefahr, dass wir von der Türkei abhängig werden würden, und das ist überhaupt nicht im Interesse Armeniens. Wir müssen einen Weg finden, unseren eigenen politischen Interessen zu folgen und somit unsere eigene Außenpolitik zu gestalten. Ein erster Schritt wäre die direkte Kommunikation mit der Türkei und Aserbaidschan – ohne Russland. Der Aufbau direkter Beziehungen und diplomatischer Verbindungen in die Türkei würde automatisch zu einer Reduktion des Drucks von Russland führen. Wir haben formell unsere Unabhängigkeit, aber intern und auch militärisch sind wir auf Russland angewiesen.                                          

Wie siehst du die Reaktion der EU und Deutschlands während der jüngsten Auseinandersetzungen?

 

Also die allgemeine Stimmung hier ist, dass die EU und andere westliche Staaten uns allein gelassen und nichts unternommen haben, um den Krieg zu stoppen. Ich denke, es ist eher die Unfähigkeit der EU eine Rolle zu spielen – sie war beschäftigt mit der Bekämpfung des Corona-Virus. Die US-Wahlen hatten ebenfalls einen negativen Effekt, weil sie die öffentliche Aufmerksamkeit monopolisiert und somit vom Konflikt abgelenkt haben. Denn EU-Außenpolitik ist ohne den Rückhalt der USA schwach. Somit war Russland der einzige Akteur, der bereit war zu intervenieren und als Mediator zwischen Armenien und Aserbaidschan zu agieren. Die westlichen Staaten hielten sich zurück, wenn es darum ging, den Krieg zu stoppen und einen Waffenstillstand zu erreichen.

 

Ich denke aber, dass die EU immer noch eine positive Rolle spielen sollte, denn nur das würde Armenien Raum geben, eine flexible Außenpolitik zu gestalten und mit der anderen Seite zu kooperieren. Wir haben in diesem Krieg ganz deutlich gesehen, dass es nicht zielführend ist, nur Russland als Mediator zu haben, auch wenn Russland nicht mehr tat, als zum Waffenstillstand aufzurufen – und das bedeutete den Rückzug Armeniens. Russland prahlte damit, dass es eine Militärabmachung mit Armenien hat, aber als es dann eine tatsächliche Gefahr für armenisches Territorium gab, tat es nichts. Russlands Argumentation war, dass die Gebiete Nagorno-Karabakh eben nicht armenisches Gebiet seien. Dennoch sollten wir die Idee stärker unterstützen, dass die EU eine passende Partnerin ist, denn sie hat in der Vergangenheit Freiheit und Demokratisierung von Institutionen unterstützt. Das gibt doch Hoffnung, eine stabile Regierung und Demokratisierung zu erreichen.

Wie geht es für dich weiter?

 

Innerlich glaube ich, dass dieser Krieg es sehr schwierig gemacht hat, an Friedensarbeit zu denken. Ich hoffe, dass wir in ein oder zwei Jahren wieder die Voraussetzungen schaffen werden, um unsere Kooperationen fortzusetzen. Nach 30 Jahren negativem Frieden ist das die Situation. Es braucht wahrscheinlich einen Generationenwandel in beiden Ländern. Dann muss eine komplette Änderung des Bildungssystems stattfinden und Unterstützung für Bildungsinitiativen geben. So kann ein Wandel in Richtung nachhaltiger Frieden erreicht werden, aber es muss in beiden Ländern passieren! Jede:r ist hierbei für ihr:sein Land verantwortlich – es ist nicht meine Aufgabe, die andere Seite zu kritisieren. Egal, wie viel Zeit vergeht, ich komme immer wieder zum gleichen Schluss: nur Bildung kann einen Wandel bringen.

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[1] Der Armenische Nationalkongress wurde 2008 als Koalitions-Zusammenschluss von verschiedenne armenischen Oppositionsparteien gegründet und vom ersten armenischen Präsidenten Levon Ter-Petrosyan geleitet. 2013 wurde der Parteienzusammenschluss in eine Partei umgewandelt.
 

[2] Die in der Türkei-ansässige Stiftung ist nach dem 2007 von einem türkischen Nationalisten in Istanbul erschossenen armenischen Journalisten und Redakteur Hrant Dink benannt.
 

[3] Präsident Aserbaidschans von Oktober 1993 bis Oktober 2003.
 

[4] In Armenien werden die kriegerischen Auseinandersetzungen vom 27. September bis zum 10. November 2020 als „Oktoberkrieg“ bezeichnet.

[5] Die Minsker OSZE-Gruppe hat sich bei einem Treffen in Madrid 2007 auf Grundprinzipien für Verhandlungen geeinigt. Siehe auch https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S02_hlb_smk.pdf, S. 28.

[6] Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens vom 10. November 2020 begannen am Vorabend Demonstrationen, die hauptsächlich von den kleptokratischen, antidemokratischen und nationalistischen Gruppen des ehemaligen Regimes angeführt wurden, welche mit dem zweiten und dritten Präsidenten Armeniens verbunden waren. Zwischen November und März 2021 bildeten diese Gruppen eine nicht-formale Oppositionskoalition (eine Koalition von mehr als 16 politischen Parteien), die auf die Straßen ging und den Rücktritt des derzeitigen Premierministers Nikol Paschinjan sowie die Bildung einer Übergangsregierung forderte. Sie sollte sich mit der aktuellen Krise befassen und Neuwahlen vorbereiten. Dieser Verstoß erhielten jedoch nicht viel öffentliche Unterstützung und nach den Gesprächen zwischen den drei parlamentarischen Fraktionen erklärte die regierende politische Koalition My Step Ende März 2021, die vorgezogenen Neuwahlen Ende Juni 2021 abzuhalten. Nach diesen Entwicklungen wurden die Demonstrationen im Stadtzentrum von Eriwan eingestellt und die meisten politischen Parteien, einschließlich derjenigen, die an der 16+ Koalition beteiligt sind, kündigten ihre Absicht an, an den vorgezogenen Wahlen teilzunehmen.

[7] Vor allem Gruppen, die die Lösung des Bergkarabach-Konflikts nicht in Verhandlungen mit Aserbaidschan gesehen haben. Dazu gehören auch die Gruppen, die auf antidemokratische Tendenzen in Armenien hinarbeiten und den Nationalen Kongress-Konflikt immer für ihre persönlichen Vorteile (sowohl finanzielle Mittel als auch politische Unterdrückung in Armenien) genutzt haben.