20.05.2018
Auf Tauchgang
Mazen Alaa El-Din an Deck seines schwimmenden Hostels. Foto: Anna-Theresa Bachmann.
Mazen Alaa El-Din an Deck seines schwimmenden Hostels. Foto: Anna-Theresa Bachmann.

Das einstige Zuhause von Mazen Alaa El-Dins Familie ist vor 50 Jahren im Nil versunken. Aus politischer Überzeugung zog es den jungen Mann vor anderthalb Jahren aus Kairo zurück in den Süden Ägyptens. Zwischen Folklore und Kommerz sucht er, was von seiner Heimat in Nubien übrig geblieben ist – und seinen Platz darin.

Schreie durchbrechen die Stille der Insel. Mazen Alaa El-Din tritt ans Fenster und blickt zum Strand. Dort legen blauweiße Motorboote an. Im Chor erheben sich die Stimmen der Frauen am Ufer, ihre komplett in schwarz gekleideten Körper krümmen sich. „Das geht noch drei Tage so weiter“, stellt der 30-Jährige fest und zieht die Gardinen der Kajüte zu. Zusammen mit zwei Freunden betreibt Mazen ein schwimmendes Hostel auf dem Nil. Im Badezimmer wackelt er an dem Kasten herum, aber nichts regt sich. Die Spülung ist kaputt. Aus Respekt vor dem Greis, dessen Tod die Frauen aus den umliegenden Dörfern draußen beklagen, wird sich daran heute zumindest nichts ändern. Alle Arbeit ruht.

Erst vor anderthalb Jahren ist Mazen aus dem 850 Kilometer entfernten Kairo in den Süden Ägyptens zurückgekehrt. Er wohnt in Assuan, sein Hostel liegt vor einer nahegelegenen Insel auf Anker. Hiessa heißt sie: Ein gespaltener Ort zwischen vermeintlich traditionell bemalten Häusern und Selfiesticks. Wie viele Menschen in der geschichtsträchtigen Region mit seinen Pharaonentempeln, leben Mazen und die Bewohner*innen der Insel vom Tourismus. Aber anders als sie hat er studiert, wettert über Donald Trump und den Kapitalismus. Mazen trägt auch keine traditionelle Galabeyya, sondern Jogginghose. Das Hostelboot trägt den Namen ‚Saab‘, was auf Kenzi ‚Katze‘ bedeutet. Es ist die nubische Sprache, die auf Hiessa gesprochen wird. Alte und Kinder beherrschen meist kein Arabisch. Mazen versteht sie deswegen nicht. „In meinem Dorf wurde Fadija gesprochen“, sagt er und deutet in Richtung des Dammes. Bald möchte er dort leben, lernt die Sprache mithilfe einer App. Manchmal jedoch fragt er sich: „Macht es Sinn sich nach einem Ort zu sehnen, den man nie gesehen hat?“

1964: Die große Zäsur

Angespannt betrachtet er die schwarzweißen Fotografien im Nubischen Museum von Assuan. Mazen war zuletzt als Kind hier. Die Bilder zeigen die heute überfluteten Dörfer um 1900. Als er den Namen ‚Tumas‘ entdeckt, erhellt sich sein Blick. Es ist der Geburtsort seiner Mutter. 1964 mussten seine Lehmhäuser dem Assuan-Staudamm weichen und mit ihnen die indigene Bevölkerung an der heutigen Grenze zwischen Sudan und Ägypten. In der Antike und im Mittelalter besaßen sie eigene Königreiche, wurden erst im 16. Jahrhundert nach tausend Jahren Christentum vollständig islamisiert. Vorislamische Traditionen, wie die Totenklage auf Hiessa, werden aber zum Teil noch heute gepflegt. Genauso wie die verschiedenen nubischen Sprachen beiderseits der ägyptisch-sudanesischen Grenze.

Der Damm von 1964 war nicht das erste Infrastrukturprojekt seiner Art. Bereits unter britischer Herrschaft wurde der Versuch unternommen, die Wassermassen des Nils ganzjährig zu kontrollieren – mit weitreichenden Folgen für die indigene nubische Bevölkerung. Als Zeichen der Modernisierung des postkolonialen Ägyptens, stellt der Damm von 1964 jedoch den radikalsten Einschnitt in der modernen Geschichte der Nubier*innen dar. Die damit einhergehende Zwangsumsiedlung hat tiefe Spuren in ihrem kollektiven Gedächtnis hinterlassen.

Bis heute schlägt sich die Sehnsucht nach der alten Heimat in nubischer Folklore nieder Auch Mazen postet fast täglich auf Facebook über die Kultur und Geschichte seiner Vorfahren. Sein Coverfoto zeigt die Flagge Kataloniens, als Zeichen der Solidarität für nationale und kulturelle Selbstbestimmung „Ich bin zuerst Nubier, dann Ägypter“, sagt Mazen. „Meine Identität ist mit unserem Land verbunden.“

Rückkehr mit Hindernissen

Als Ersatz für die Zwangsumsiedlung lässt Präsident Gamal Abdel Nasser seinerzeit im 50 Kilometer entfernten Kom Oumbo sporadische Wohneinheiten bauen. Nicht alle der betroffenen 50.000 Nubier*innen finden darin Zuflucht. Viele gehen in den urbanen Norden, werden Bedienstete. Die nubischen Traditionen und Sprachen treten dort in den Hintergrund. Mazens Familie aber bleibt zunächst in Assuan, er wird hier geboren. Mit fünfzehn zieht er mit den Eltern nach Kairo.

Nach Jahren des Stillstandes, nimmt im Zuge der Revolution 2011 der nubische Aktivismus neue Fahrt auf. Mazen und seine Mitstreiter*innen aus der jungen Generation fordern rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung. „Wir wollen keine Loslösung vom arabischen Ägypten, sondern ein Recht auf Rückkehr in das historische Nubien um den heutigen Nasser-Stausee“, sagt Mazen.

Diese Forderung besteht bereits seit Errichtung des Assuan-Staudammes 1964. Politischer Protest blieb in der Vergangenheit aber meist folgenlos und das Land weitestgehend unbewohnt. 2014 wird das Rückkehrrecht erstmals in der Verfassung verankert. Wer Nubier*innen wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe diskriminiert, soll bestraft werden.

„Das war ein großer Erfolg, jetzt müssen Taten folgen“, sagt Mazen. Doch Machthaber Abdel Fattah El-Sisi erklärt 2014 per Dekret Teile des geforderten Landes zur Militärzone. Auch gelten weitere nubische Gebiete seit 2016 zum Einzugsgebiet des Toshka Projektes, einem fragwürdigen Entwicklungsprojekt, das noch unter Hosni Mubarak angestoßen wurde.

Aus Protest gegen die Einverleibung des Landes, reisen Nubier*innen aus ganz Ägypten im November 2016 in ihre historische Heimat. Sicherheitskräfte setzen die Protestkarawane tagelang auf ihrem Weg dorthin fest. „Da hat es mir gereicht“, sagt Mazen über den Wendepunkt in seinem Leben. In Kairo nimmt er den ersten Zug Richtung Süden.

Seitdem ist er geblieben: „Ich muss vor Ort sein, um unser Land zu verteidigen“, sagt Mazen mit kämpferischer Stimme, als müsse er sich noch immer selbst von seinem Entschluss überzeugen. Er sei in ständiger Alarmbereitschaft und warte noch immer auf die Umsetzung des Rückkehrrechts. Sie würde ihm die Wideransiedlung in der Heimat seiner Vorfahren in der Nähe des überfluteten Ortes Tumas ermöglichen. In naher Zukunft scheint sich dieser Wunsch allerdings nicht zu erfüllen: Im September 2017 wurden erneut 24 Aktivist*innen festgenommen, als sie für ihre Rückkehr demonstrierten. Einer von ihnen starb in Haft.

Hiessa ist eine Insel in der Nähe von Assuan. Russland half Ägypten beim Bau des Staudammes. Das zackige Denkmal erinnert daran. Foto: Anna-Theresa Bachmann.

Aktivismus im Spannungsfeld zwischen Pommes und Einerlei

„Durch das Hostel habe ich viele praktische Dinge gelernt“, sagt Mazen während er ein paar Elektrokabel auf dem Markt kauft. Die Stände sind nur mäßig besucht, selbst am Donnerstagabend, dem Auftakt zum Wochenende. In Kairo wäre Mazen jetzt tanzen gegangen. Aber hier in Assuan gibt es keine Clubs, nur auf den vereinzelten Kreuzfahrtschiffen im Hafen blinken ein paar bunte Lichter.

Mazen nimmt in einem Café Platz, in dessen dunkelster Ecke Bier ausgeschenkt wird. Er bestellt eine Flasche. „Für meine Rückkehr nach Assuan habe ich ein großes Opfer gebracht“, sagt er lachend: „Die Langeweile.“ Nach der Flaute der letzten Jahre will die Regierung den Tourismus wiederbeleben und vermarktet das nubische Erbe mit seiner farbenfrohen Architektur. Es sind aber vor allem Ägypter*innen ohne ausländische Divisen, die derzeit hier Urlaub machen.

Mazen sieht darin eine Chance: „Ich möchte ihnen unsere Kultur näherbringen.“ Was genau zu dieser Kultur gehört und was nicht, davon hat Mazen eine klare Vorstellung. Die McDonald’s Filiale an der Hauptstraße gehört für ihn ganz klar nicht dazu, deswegen esse er dort nicht. Der kapitalistische Konzern passe nicht hier hin, auch wenn der kleine Kiosk an der Ecke dieselben Coca-Cola Produkte verkauft. Im weiteren feuchtfröhlichen Verlauf des Abends macht Mazen dann aber doch eine Ausnahme und bestellt sich einen Burger und Fritten.

Krächzend schallt die Stimme des Imams der pinken Moschee auf Hiessa am nächsten Morgen aus den Lautsprechern. Auf dem sonnigen Deck des Hostels liegend, erträgt Mazen die Predigt im schlechten Arabisch mit hämmernden Kopf. Es geht um die Bedeutung des Todes im Islam. Noch immer beweinen schwarz gekleidete Frauen den toten Greis, aber die Klospülung funktioniert jetzt. „Irgendwann werde ich eine Farm in Tumas haben“, beschreibt Mazen seine Zukunft. Wie man ein Feld bestellt, weiß er noch nicht.

Theresa ist freie Reporterin und Fotojournalistin mit Fokus Westasien und Nordafrika. Sie hat in Marbug, Kairo und Lund studiert, sowie eine Ausbildung an der Reportageschule Reutlingen absolviert. Seit November 2019 ist sie die Koordinatorin des dis:orient-Magazins.