30.04.2015
Aufstand, Bürgerkrieg, Islamischer Staat in Syrien? – Vier Jahre und die Revolution geht weiter
Demonstration in Aleppo im Rahmen der Kampagne „Halte die Flagge deiner Revolution hoch“, März 2015. Foto: al-Modon
Demonstration in Aleppo im Rahmen der Kampagne „Halte die Flagge deiner Revolution hoch“, März 2015. Foto: al-Modon

In Syrien wird jedes Jahr im März ein trauriges Jubiläum begangen: Vor vier Jahren begann - damals noch friedlich - der Aufstand gegen Diktator Bashar al-Assad. Wir stellen eine Kampagne zum Jahrestag und zwei Stimmen syrischer Aktivisten vor, die weiterhin in Syrien leben, an die Revolution glauben und durch die Arbeit in ihrer lokalen Gemeinschaft versuchen, ihre Werte zu vermitteln.

Mit der ersten kleinen Demonstration in der Stadt Damaskus am 15. März und den Massendemonstrationen im Gouvernerat Daraa am 18. März begann 2011 der Aufstand gegen das syrische Regime, der bald in einen blutigen Krieg mündete und seither schätzungsweise knapp 200 000 Menschen getötet und Millionen in die Flucht getrieben hat. Inzwischen wehen viele Flaggen in Syrien – und mit allen sind unterschiedliche Vorstellungen für die Zukunft des Landes verbunden: Die Zwei-Sterne Flagge des Regimes, das schwarze Banner des IS und der Nusra-Front sowie eine weiße, oft von salafistischen Gruppen getragene Flagge. Einzig die Fahne mit drei Sternen der zivilen Bewegung steht dabei immer noch für ein gemeinsames Syrien, wie eine Kampagne zum Jahrestag der Revolution zeigt, über die Aktivist_innen vor Ort berichten.

„Halte die Flagge deiner Revolution hoch“ ist eine Kampagne, die in ganz Syrien dazu aufrief, die bunte 3-Sterne Flagge zu hissen. Es ist der Versuch, mit dem Narrativ zu brechen, das einzig Assad oder IS hervorhebt. Gleichzeitig ist die Initiative ein Bekenntnis, das mit der vom 15. bis 18. März abgehaltenen Kampagne bestärkt werden sollte: Dass es immer noch eine Bewegung in ganz Syrien gibt, die für ein System einsteht, das allen Menschen Freiheit und Würde garantiert. Im Rahmen der Kampagne haben wir zusammen mit Adopt a Revolution daher Aktivist_innen in Syrien nach ihrer Position gefragt. Sie sind alle immer noch in Syrien aktiv. Aber wie hat sich ihre Sicht der Dinge geändert: Was ist vier Jahre später von dem Adrenalin übrig, das sie auf den ersten Demonstrationen gespürt haben? Und worauf richten sie ihre Arbeit stattdessen?

In den Antworten wird die Bedeutung des zivilen Widerstands deutlich. So sagt zum Beispiel Faris Jounieh (Name geändert), ein Aktivist aus Aleppo: „Nach den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Revolution hat die Nusra-Front gespürt, dass die Straße ihnen überhaupt nicht gehört und sie gar keine Unterstützer mehr haben. Deswegen haben sie selbst eine Demonstration hier in den befreiten Gebieten in Aleppo gemacht, um Revolutionäre und Säkulare einzuschüchtern. Die wollen sie dann vor Gericht stellen mit dem Vorwurf, dass sie den Islam falsch praktizieren. Außerdem haben sie eine andere Demonstrationen in einem der Stadtviertel angegriffen und die dort angebrachte Flagge der Revolution abgerissen und die Aktivisten angegriffen. Nach ein paar Tagen ist die Nusra-Front dann zurückgekommen und hat Riyan Riyan verhaftet, ihn gefoltert und wieder frei gelassen.“ Dennoch ist Faris überzeugt, weiterzumachen: „Wir Aktivisten sind auf zivilem Niveau stärker, sie aber militärisch. Das ist genau wie bei dem Regime: Militärische Kraft gibt dir noch lange nicht die komplette Kontrolle über das Volk“.

Wie die beiden folgenden Zeugnisse belegen, ist das Erinnern der syrischen Revolution somit in diesem Jahr vor allem eine Vergewisserung, dass immer noch Teile des syrischen Volkes für die Prinzipien einstehen, für die sie im März 2011 begannen, in Massen auf die Straßen zu gehen - gegen Assad und gegen die Islamisten von Nusra und IS.

 

Faris, 25 Jahre alt, ursprünglich aus Damaskus, nun aber aktiv in einem Gebiet, das außerhalb der Kontrolle des Regime steht. Er ist sich sicher, dass der Aufstand gegen das Regime ein richtiger Schritt war - dennoch ist nach vier Jahren Zerstörung der Jahrestag der Revolution ein trauriger Tag wie jeder andere.

Was bedeutet dir der vierte Jahrestag der Revolution?

Dieser Anlass erinnert mich daran, dass Syrien schon eine lange Zeit hinter sich hat und die Lage bis jetzt schlecht ist. Wir erinnern uns tatsächlich nicht mehr daran, wie das Leben vor dem März 2011 war. Es kommt uns so vor, als ob unser Leben schon seit Ewigkeiten so ist wie jetzt. Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass vier Jahre ausreichen, um ein ganzes Land zu zerstören. Aber Syrien wurde in sogar noch kürzerer Zeit zerstört, eingehüllt in unheimliches internationales Schweigen. Der Jahrestag ist ein Anlass, daran zu erinnern, dass alle Slogans vom Humanismus nur Worthülsen sind. Ich glaube, dass alle Organsationen, angefangen mit der UNO, verschwinden müssen, denn bisher führt ihre Existenz zu Schlechtem: zu Lügen, Opportunismus und Diebstahl.

Was macht ihr an diesem Tag – feiert ihr oder seid ihr traurig?

Das ist eine schwierige Frage. Der Jahrestag der Revolution ist an sich nicht unbedingt traurig, da ohnehin die meisten unserer Tage hier traurig geworden sind – da ist dieser Anlass keine Besonderheit. In meinem Inneren fühle ich Anerkennung für die Revolution, da sie uns und unser Leben sehr verändert hat; dies ist nicht auslöschbar. Ich weiß nicht, ob die Veränderung zum Schlechteren oder zum Besseren war. Aber eine Veränderung hat stattgefunden und unser Leben ist nicht mehr bedeutungslos wie vorher. Wenn es aber ums Feiern geht, so ist das unmöglich für jemanden, der in Damaskus lebt. Aber ich empfinde Freude, wenn ich die Flagge der Revolution im Internet sehe. Wir haben immer noch etwas, an das wir glauben und von dessen Verwirklichung – eines Tages – wir träumen.

Siehst du diesen Tag als Ausgangspunkt einer Freiheitsbewegung oder als Anfang der Zerstörung Syriens?

Dieser Tag ist ganz sicher der Anfang der mutigsten Revolution, die die Geschichte gesehen hat. Wer nicht in Syrien gelebt hat, der kennt nicht das Ausmaß der Angst, des Schweigens und der Isolation, in der wir gelebt haben. Ich persönlich bin der Meinung, dass ich vor März 2011 kein Mensch, sondern lediglich ein Werkzeug war oder irgendetwas, das gerade so am Leben ist. Ganz sicher gab es schöne Dinge in meinem Leben, von Freunden bis zur Liebe. Aber durch die Revolution habe ich mich erst als Mensch gefühlt und Würde erfahren. Das Regime hat das Land zerstört, nicht die Revolution.

Wie sieht eure Vision für eine Lösung in Syrien aus?

Aus meiner Sicht, das sage ich ganz offen, ist die einzige Lösung der Sturz des Regimes. Es ist ganz sicher nicht die Zauberlösung und das Problem in Syrien wird nicht einfach mit dem Sturz des Regimes enden, aber es ist das größte Hindernis auf dem Weg zu einer Lösung. Das Regime ist der Grund für die Situation, in der wir uns befinden, und es ist der Grund für den Terrorismus. Ein Mensch, der unter Beschuss lebt, seine Familie vor seinen Augen verliert oder Verhaftung und Folter erlebt – ich kann verstehen, wie so ein Mensch zum Terroristen wird. Es geht mir nicht nur um das Verschwinden von radikalen Gruppierungen oder ISIS/Daesh – auf die sich ja der Westen konzentriert. Damit unserer jetziger Zustand endet, muss dessen größte Ursache enden, und die ist das syrische Regime, zu allererst und zum Schluss! Danach, denke ich, wird sich vieles zum Besseren wenden.

Gibt es Wut darüber, dass Unterstützung von außerhalb ausbleibt?

Selbstverständlich ist die Wut groß, denn die Zivilisten in Syrien brauchen so vieles. Am meisten macht uns wütend, dass der Westen weiterhin das Regime unterstützt. Wir wollen kein Geld oder Unterstützung, ganz im Gegenteil: Wir wollen, dass der Krieg aufhört und wir ein neues Leben beginnen können. Wir wollen nicht, dass internationale Organisationen Bildung, humanitäre Hilfe und ähnliches unterstützen und gleichzeitig doppelt so viel Geld für Waffen und Zerstörung ausgegeben wird. Wir wollen, dass der Krieg aufhört und die Menschen, die vertrieben wurden, zurückkommen. Aber derzeit nimmt die ganze Welt an der Zerstörung Syriens teil – nicht nur das Regime. Leider ist Syrien ein Ort geworden, an dem die Waffen und Jihadisten des Westens abgesetzt werden. Er sollte damit aufhören, uns diese Jihadisten zu schicken und uns umzubringen, oder Geld für Waffen zu schicken, um den Krieg zu stoppen. Der Westen muss wissen, dass die Mehrheit der Syrer heute einfach will, dass der Krieg entdet. Sie wollen, dass das Regime verschwindet, und in Frieden leben.

 

18. März- „Ein neuer Mensch wurde geboren“, Tseel. Quelle: privat.

Sohep Alslamat ist Aktivist der ersten Stunde aus Daraa und unter anderem im lokalen Basiskomitee in seiner Heimatstadt Tseel aktiv. Er feiert die Revolution für ihre „edlen Ziele“ und versteht sie als Wegbereiter einer „historischen Umwälzung“, die Meinungsverschiedenheiten über den Volksaufstand gehen aber bis in seine Familie hinein. Für Alsharq schreibt er seine Gedanken zum Jahrestag auf:

Trotz des Todes, der Zerstörung und Vertreibung, die uns die syrische Revolution gebracht hat, vier Jahre nach ihrem Ausbruch, ist der 18. März immer noch der Tag, an dem die Fesseln gebrochen sind und die erste Säule des Throns des Tyrannen gefallen ist. Dieses Datum sollte als Ende einer „Zeit des Erstickens“ in die Geschichte eingehen.

Viele Menschen – auch ich – feiern die Revolution, trotz allem, was passiert ist. Die Hauptsache ist, dass sich diese Revolution für sehr edle Ziele erhoben hat. Was nun passiert, sind Nebenerscheinungen. Die Forderungen, für welche das Volk auf die Straße gegangen ist, sind gerechfertigt, wer auf dem Weg dahin stirbt, stirbt für diese Ziele und ist somit ehrenswert.

Gleichzeitig gibt es Menschen, darunter auch meine Ehefrau, die den Jahrestag der Revolution nur noch als Jahrestag des Elends betrachten. Für sie hat die Revolution hunderttausende Menschen umgebracht, Millionen von Menschen obdachlos gemacht; für diese Leute hat die Revolution uns Skut-Raketen gebracht, die unsere Häuser zerstörten. Für diese Menschen hat die Revolution „mehr zerstört, als sie aufgebaut hat“.

Für die Zukunft Syriens kann ich nicht sagen, wohin wir steuern. Die Sicht ist einfach nicht mehr deutlich aufgrund der vielen unterschiedlichen Kämpfer auf syrischem Boden. Aber ich glaube daran, dass das, was in Syrien passiert, ein historischer Anspruch ist, der in jedem Land oder jeder Nation stattfindet. Die Geschichte hat das bewiesen. Von diesen historischen Umwälzungen gibt es kein Abweichen – sie sind immer sehr gewaltvoll und es kann sein, dass ihnen Millionen Menschen und hunderte Städte zum Opfer fallen. Zwischen all diesen geschichtlichen Phasen gibt es sehr schmerzhafte Perioden, die ein Staat oder eine Nation durchmacht und welche die geografische und politische Struktur neu ordnen, sodass eine neue geschichtliche Entwicklung stattfinden kann. Wir hoffen, dass diese Entwicklung für Syrien zu einem Aufschwung führt, wie wir ihn gewollt hatten – damals, als wir die Revolution begonnen haben.