26.12.2017
Aus Syrien in die Türkei, Teil 1: Wer sich nicht auskennt, zahlt drauf
Flucht über Stacheldraht, die Kinder im Arm: Wie diese Familie auf der Suche nach Rettung in der Türkei sind Hunderttausende vor dem Krieg in Syrien geflohen. Das Bild entstand 2012. Foto: Andreas H. Landl/Flickr (https://flic.kr/p/qxAEF3), Lizenz: CC BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)
Flucht über Stacheldraht, die Kinder im Arm: Wie diese Familie auf der Suche nach Rettung in der Türkei sind Hunderttausende vor dem Krieg in Syrien geflohen. Das Bild entstand 2012. Foto: Andreas H. Landl/Flickr (https://flic.kr/p/qxAEF3), Lizenz: CC BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)

Millionen Menschen sind während des Kriegs von Syrien in die Türkei geflohen. Doch die Wege gestalten sich zunehmend gefährlich, seit die Türkei an der Grenze eine Mauer errichtet hat. Ein schwer durchschaubares Netzwerk an Schleusern und Mittelsmännern hat sich im Grenzgebiet etabliert, das den Fliehenden hilft – oder sie ausbeutet. Ein Erfahrungsbericht.

Dieser Text erschien zuerst auf unserer Partnerseite Ayn al-Medina. Wer mehr zu Ayn al-Medina wissen will: Hier haben wir das Projekt vorgestellt

Für die Schleuser und ihre Mittelsmänner sind wir nur Kunden oder Passagiere – wir, die wir die Grenze illegal zur Türkei überqueren wollen. Sie sagen, dass sie uns aus Mitleid helfen würden, aber sie handeln ohne jedes Mitgefühl und sehen in uns nichts weiter als Leute, die bereit sind, für die Fluchthilfe viel Geld zu zahlen.

Seit Jahren ist die Provinzhauptstadt Idlib im Nordwesten Syriens das Ziel vieler Syrer, die in die Türkei fliehen wollen. Sie kommen aus allen Teilen des Landes, doch aus Deir el-Zor, Rakka und Aleppo sind es besonders viele. Lange Zeit versuchte die türkische Regierung nur in Ausnahmefällen, syrische Flüchtlinge daran zu hindern, die Grenze zu überqueren. Doch letztes Jahr machte die Türkei ihre Grenze zu Syrien dicht und errichtete eine Betonmauer, um die beiden Länder endgültig voneinander zu trennen.

Es kommt bei der Fluchthilfe immer wieder zu Betrügereien, wenn sich zum Beispiel der Passagier weigert zu zahlen, nachdem er sicher in der Türkei ankommt, oder wenn sich der Schmuggler einfach aus dem Staub macht, nachdem er vom Passagier das Geld erhalten hat. Manchmal setzen Schleuser ihre Kunden nach einem gescheiterten Fluchtversuch auch unter Druck, noch einmal zu versuchen, die Grenze mit ihnen zu überqueren.

Naturgemäß stammen die Schleuser aus den Grenzgebieten. Doch weil das meist ländlich geprägte Regionen sind, kommen die Kunden nicht direkt dorthin. Weder kennen sie die an den Grenzen agierenden Schleuser, noch gibt es dort ausreichend Unterkünfte, Verkehrsmittel, Waren und Telekommunikationsmittel. Im Gegensatz zu den Schleusern kommen die Kunden für gewöhnlich aus urbanen Zentren.

Die Sache mit den Mittelsmännern

So traten mit der Zeit Mittelsmänner auf, die zwischen Schleusern und Passagieren vermitteln. Den Passagieren garantieren sie die Dienste des Schleusers. Den Schleusern versichern sie, dass die Passagiere den vereinbarten Betrag auch wirklich zahlen. All das führte dazu, dass sich der Markt für Menschenschmuggel ausdehnte. In ihm agieren neben Schleusern auch Kunden, Mittelsmänner, Fahrer und Immobilienbesitzer oder einfach jeder, der in Idlib wohnt und einen Schleuser kennt.

Normalerweise nimmt ein Mittelsmann zwischen 50 und 150 US-Dollar, um den Kontakt zwischen Fluchthelfer und Kunden herzustellen. Schleuser und Wegführer, der übrigens ebenfalls zwischen 50 und 150 US-Dollar nimmt, erpressen von den Passagieren den größtmöglichen Geldbetrag, bevor sie sie mit einer Gruppe von Passagieren zusammenführen, um dann gemeinsam die Grenze zu überqueren.

Die Fluchtwege heißen „das Kriechen”, „die Baumwolle” oder „der Traktor”

Ohne es geplant zu haben, fand ich mich mit anderen Passagieren mitten auf diesem Markt für Menschenschmuggel wieder. Erst später erfuhr ich, dass es schon damals ein jeder von uns ahnte: Wir alle sind Opfer dieser Schmuggler, die riesige Profite aus uns schlagen. Mittlerweile weiß ich das. Denn nach mehreren gescheiterten Versuchen, die Grenze zu überqueren, nachdem ich (infolgedessen) in türkischen Gefängnissen Schleuser und Wegführer kennenlernte und in Städten der Provinz Idlib Beziehungen zu Mittelsmännern aufbaute, kenne ich den Markt ziemlich gut.

Die Fluchtwege sind entweder nach den Gebieten benannt, wo die Passagiere die Grenze überqueren, oder nach der Art der Fortbewegung. So gibt es zum Beispiel die Routen al-Harim (nach einer kleinen syrischen Grenzstadt), al-Asi (nach dem Namen eines Flusses), al-Kotton („die Baumwolle“), al-Jidar („die Mauer“), al-Zahf („das Kriechen”), al-Rakd („das Laufen“), al-Mashi („das Wandern“), al-Mashi al-Taweel („das lange Wandern“), al-Traktor („der Traktor“), al-Izn („die Erlaubnis“) und al-bawaba („das Tor“).

Der Preis der Fluchtstrecke hängt dabei davon ab, wie beschwerlich die Reise für die Passagiere ist und wie groß die Erfolgschancen sind. Der Weg al-Harim, der sehr streng kontrolliert wird, hat mit 300 US-Dollar pro Passagier den niedrigsten Preis. Al-Bawaba gilt als der teuerste und kostet 3.000 US-Dollar pro Passagier. Für die Fluchtwege, die weniger als 1.000 US-Dollar kosten, erhält der Mittelsmann 250 US-Dollar vom Schleuser. Der Preis, den der Kunde zahlt, hängt aber auch davon ab, wie dringend er in die Türkei fliehen will, wie gut er sich informiert hat und über welche finanziellen Mittel er verfügt. Ebenso wird der Preis davon beeinflusst, in welchem Grade die Gruppe betreut wird und wie groß sie ist.

Der Erfolg eines Schleusers beim Überqueren der Grenze erhöht den Preis des Weges. Sein Erfolg bringt dem Schleuser dann zunächst mehr Kundschaft, doch dann dauert es nur einige Tage bis sie entdecken, dass die erfolgreiche Grenzüberquerung reiner Zufall war. Dann könnte die Sternstunde eines anderen Schleusers gekommen sein.

Handel mit Passagieren

Es ist allgemein bekannt, dass Passagiere auch weiterverkauft werden, sogar ich war einmal Opfer. Einmal nahm der Mittelsmann von jedem Passagier 500 US-Dollar, und tat so, als würde er uns für diesen Preis an einen Schleuser übergeben. Erst später erfuhren wir, dass das gar kein Schleuser, sondern ein weiterer Mittelsmann war, der uns für 400 US-Dollar pro Person abgekauft hatte. An seinen Schleuser bezahlte er davon gerade mal 250 US-Dollar. Zwei Tage lang brachte er uns in einem kleinen Grenzdorf unter, um sicherzustellen, dass wir keinen Kontakt zu anderen Mittelsmännern oder Schleusern aufnehmen.

Es wird immer üblicher, Passagiere weiterzuverkaufen. Alle Mittelsmänner und Schleuser vertrauen darauf, dass niemand den Passagieren den wahren Preis nennt. Stattdessen erzählen sie, dass ihr Gewinn nicht mehr als 50 US-Dollar pro Passagier betrage, und dass sie von diesem Betrag noch Essen, Wohnung und die Kosten der Fluchtreise zahlen müssten.

Witzigerweise schimpfen sie dann noch über andere Mittelmänner und Schleuser, die  die Flüchtlinge ausbeuten würden!

 

Dieser Text ist der Auftakt einer dreiteiligen Artikelserie zur Flucht aus Syrien in die Türkei. Lesen Sie in Kürze Teil 2: Vom Plan zur Realität sowie Teil 3: Das Grenzregime der Gendarmen.

Hinweis: Die Artikelserie erschien bei unserem Partner Ayn al-Medina Ende September, also noch vor dem erneuten Einmarsch der türkischen Truppen in die Region Idlib. Wie sich seither die Lage vor Ort entwickelt hat, ist für uns gerade nicht nachzuvollziehen. Aber zumindest für die Zeit zuvor stellte die hier beschriebene Situation einen Ausschnitt der Realität dar.

Artikel von Samhar al-Khaled
Redigiert von Maximilian Ellebrecht
Übersetzt von Sara Osman (aus dem Arabischen)