08.08.2018
Berichten gegen die brutalen Besatzer: Raqqa is Being Slaughtered Silently
Der syrische Aktivist Abdelaziz Alhamza lebt in Berlin im Exil
Der syrische Aktivist Abdelaziz Alhamza lebt in Berlin im Exil

Der syrische Aktivist Abdalaziz Alhamza, Sprecher und Mitbegründer der Website „Raqqa is Being Slaughtered Silently“ im Portrtät.

Abdalaziz Alhamza ist Pragmatiker. Der syrische Aktivist möchte überleben. Nach Berlin zu ziehen war nie sein Traum – sondern schlicht seine Rettung. Der Mitbegründer von „Raqqa is Being Slaughtered Silently“  (RBSS) hat die Grauen in der selbsternannten Hauptstadt des IS-Kalifats miterlebt und unter Gefahr seines Lebens dokumentiert. Er sagt: „Wenn man in Raqqa gelebt hat, kann man überall leben.“

Alhamza, Mitte 20, ist Sprecher und das Gesicht des Bürgerjournalistenkollektivs RBSS. Er und seine Mitstreiter*innen berichteten über die Gräueltaten der Dschihadisten angesichts derer der Rest der Welt verstummt ist. „Raqqa is Being Slaughtered Silently“ – der martialische Name symbolisiert die noch martialischere Terrorherrschaft des IS. Bis heute – inzwischen regiert die YPG die Stadt im Norden des Landes – filmen und fotografieren junge Leute heimlich das Leben unter der Besatzung und schleusen das Material ins Ausland, wo Exil-Syrer*innen es dann ins Netz stellen.

Lebensgefahr für alle Aktivist*innen

Einer von ihnen ist Alhamza. An einem Donnerstag im vergangenen Winter steht er, blau-weiß-kariertes Hemd, grauer Pulli darüber und auf dem Kopf eine graue Mütze mit der Aufschrift „City of Ghosts“, in einem Kino-Foyer. Einige hundert Zuschauer sehen sich hier die Vorpremiere von Matthew Heinemans gleichnamiger Dokumentation an. Sie zeigt, wie die Journalist*innen im Untergrund arbeiten und leben. Wegen ihrer Berichterstattung wurden und werden sie bedroht. Mehrere Aktivist*innen mussten dafür ihr Leben lassen.

Einige Zuschauer*innen verlassen den schockierenden Streifen imBerlinerUnion Film“-Saal vorzeitig. Der Rest des Publikums wird Zeuge davon, wie der Angehörige des sogenannten IS den Vater von Aktivist Hamoud al-Mousa hinrichtet. Das IS-Video war eine von vielen Warnungen der religiösen Fanatiker an die jungen Medienschaffenden.

„Wir mussten einfach weitermachen“, erklärt Abdalaziz Alhamza nüchtern die Reaktion der RBSS-Leute auf die bestialischen Racheakte des IS. Seine braunen Augen, umrandet von einer breiten, schwarzen Brille, bohren sich tief in die des Gegenübers, während er seine und die Geschichte des syrischen Journalist*innen-Kollektivs erzählt.

Arabischer Frühling: „Beste Zeit meines Lebens“

Alhamza studiert Biologie an der Universität von Raqqa, als sich sein Leben und das vieler Syrer*innen für immer verändert. Er ist Muslim, aber nicht fromm, wie er sagt. Politik habe ihn damals nicht interessiert. „Wir wussten, dass Assad überall Spione hatte und dass alle, die das Regime kritisieren, sofort verschwanden“, erinnert sich der junge Mann, während er ausladend gestikuliert. Als Assads Schergen im Ort Daraa Schuljungen wegen Regime-kritischer Graffiti foltern, beginnen landesweit Demonstrationen gegen die alawitische Führung.

Abdalaziz Alhamza und sein Bruder beschließen, bei den Protesten in ihrer Stadt mitzumarschieren. Der Student lädt bald Handyvideos der Protestzüge bei Facebook hoch, dokumentiert zusammen mit Freunden unter Pseudonym die neuen politischen Ereignisse in dem Land, in dem neutrale Berichterstattung immer unerwünscht war. „Wir hatten plötzlich etwas, das wir nie zuvor hatten: Die Freiheit das zu sagen, was wir wirklich denken“, schwärmt Alhamza heute über diese „beste Zeit meines Lebens“.

Doch die Freiheit ist nur von kurzer Dauer. Assads Truppen gehen bald brutal gegen die Demonstrierenden vor. Alhamza muss dreimal ins Gefängnis, einmal 45 Tage am Stück. Wie alle festgenommenen Regime-Kritiker*innen wird er gefoltert, mit Elektroschocks und Peitschenhieben drangsaliert. Tagelang muss er in Isolationshaft ausharren. Doch da hatte er das Schlimmste noch vor sich.

Medialer Erfolg

„Aziz schläft sehr wenig“, sagt eine Freundin von ihm, die anonym bleiben möchte. In der Küche ihrer Wohnung sitzt der junge Mann und lässt wie so oft in den vergangenen Jahren seine Erlebnisse des Bürgerkrieges für ausländische Journaliste*innen Revue passieren. Die Mitglieder von RBSS möchten die mediale Aufmerksamkeit, um das Schicksal ihrer Stadt publik zu machen. Andererseits ist der Hype um sie auch ermüdend. „In den vergangenen zwei Jahren war ich sicher in 40 Ländern“, erzählt Alhamza, während er abwesend an seinem vollen Bart zupft. Sein Haaransatz hingegen lichtet sich bereits, weshalb er meist eine Mütze trägt. Auch im Gesicht sieht Alhamza ein bisschen älter aus, als er eigentlich ist.

In Matthew Heinemans Dokumentation gibt es eine starke Szene, die das Dilemma mit den westlichen Medienvertretern auf den Punkt bringt: Fotografen rücken die jungen Männer aus Raqqa und ihr Engagement ins perfekte Licht. Die Zuschauer*innen betrachten versteinerte Minen, in denen auf Ansage Mundwinkel hochgezogen werden. Es besteht kein Zweifel, die jungen Syrer*innen sind durch die Hölle gegangen. Es bleibt die Frage: Wie kann man das greifbar werden lassen, ohne sie zu tragischen Figuren zu degradieren?

Das Ende von Heinemans Doku zeigt Alhamza, zitternd und leidend in einer kahlen Wohnung. „Ich bin nicht glücklich. Wie könnte ich?”, bekennt er in E-Mails an den amerikanischen Journalisten David Remnick, die dieser im Oktober 2017 im „New Yorker“ abgedruckt hat. Vielleicht um den Eindruck abzuschwächen, zeigt sich das Gesicht von RBSS in der anschließenden Debatte nach der Dokumentation im „Berliner Union Film“-Saal kämpferisch. „Geht wählen! Das hat Auswirkungen auf die Welt, auch auf Syrien. Seid euch eurer Verantwortung bewusst“, appelliert er an die Zuschauer*innen, während seine Stimme, sonst eher monoton, geradezu Wellen schlägt. Alhamza spricht nasal, seine Betonungen im Englischen klingen ein wenig schief. Wenn er spricht, scheint seine Luft für viel mehr Worte zu reichen, als bei anderen Sprechern. Ganz so, als wolle er der Welt zeigen, dass er den längeren Atem hat.

Und den braucht er auch im Kampf gegen den IS. Die Mitglieder von RBSS haben ihr Leben einer höheren Sache verschrieben: Dem Kampf um die Deutungshoheit des Syrien-Krieges im Internet. Mit jedem weiteren Tod, den Menschen um sie herum für dieses hehre Ziel gestorben sind, ist das Schicksal der RBSS-Mitglieder zementiert worden. Denn wäre der Verlust ihres Lebens nicht umsonst, würde man im Kampf um die erzählerische Überlegenheit im Netz gegen die Propagandamaschinerie des IS kapitulieren?

Gründung und Steuerung der Plattform aus dem Ausland

Die Aktivist*innen von RBSS scheinen in die Rolle der mutigen Held*innen, in der sie die Welt gerne sehen möchte, eher hineingerutscht zu sein. „Wir mussten den Menschen einfach die Wahrheit über den IS zeigen“, erklärt Abdalaziz Alhamza ohne Umschweife. Im April 2013 beobachtet der Student die erste öffentliche Exekution in Raqqa durch die Islamisten. „Dass wir uns mit der Berichterstattung selbst in Lebensgefahr begeben, war mir nicht bewusst“, so der Journalist. Von der Freien Syrischen Armee hatte er zuvor eine Film-Erlaubnis bekommen.

Im Januar 2014 verliert die heterogene FSA, die sich gegründet hatte, um Demonstranten vor den Übergriffen der Assad-Truppen zu schützen, ihre Vorherrschaft in der Kleinstadt östlich von Aleppo. Die professionell ausgebildeten Kämpfer des IS füllen schnell das Macht-Vakuum und übernehmen die Kontrolle über Raqqas Straßen. „Daesh“, wie viele Menschen in Nordafrika und Westasien den IS abschätzig nennen, malt die Häuser der Stadt schwarz an und „verstößt gegen Menschenrechte“, wie Alhamza es diplomatisch ausdrückt.

Einige Anwohner*innen schließen sich den radikalen Islamisten an: „Ein Freund von mir hat Kinder und brauchte dringend Geld, das er vom IS bekommen hat“, berichtet Alhamza vorwurfslos. Er selbst verlässt wenige Tage später die Stadt, flüchtet in die Türkei: „IS-Leute haben mich zu Hause aufgesucht, da ich an einer Anti-IS-Demonstration teilgenommen und über ihre Zusammenstöße mit anderen Rebellengruppen berichtet habe. Zum Glück war ich da gerade unterwegs, als sie vor der Tür standen.“

Im türkischen Exil beschließen er und einige Freund*innen, eine Plattform mit dem Namen „Raqqa is Being Slaughtered Silently“ ins Leben zu rufen. Quellen in Raqqa liefern den Stoff, mit dem die Exil-Journalist*innen im - wie sie damals noch annahmen - sicheren Ausland Facebook und Twitter füttern. Sie versorgen auch ausländische Medien, die nicht mehr ins Land dürfen, mit Informationen über die Terrorherrschaft des IS. So erfährt die Welt, dass Frauen nicht mehr alleine und nur völlig verschleiert auf die Straße gehen dürfen. Christen, Schiiten und Andersdenkende werden vertrieben, gekreuzigt, geköpft. Zunächst sind es vor allem syrische IS-Leute, die in Raqqa regieren. Bald aber kommen mehr und mehr ausländische Terroristen in die „Hauptstadt“ des selbsternannten Kalifats.

„Sie haben Kinder mit Handys und Süßigkeiten gelockt, von ihrer Sache überzeugt und sie dann als Selbstmordattentäter missbraucht“, berichtet der junge Syrer, während er immer wieder grimmig die Augenbrauen und seine Oberlippe nach oben schnellen lässt und dabei seine spitzen Zähne zeigt.

Wut auf die USA und die YPG

Mehrere RBSS-Aktivist*innen werden in türkischen Städten umgebracht, darunter Fares Hammadi und Ibrahim Abd al-Qader. „Wir hatten schon die Formulare besorgt, um sie herzuholen“, berichtet ein mit dem syrischen Kollektiv befreundeter Journalist aus Deutschland. Er und seine Kollegin haben auch ihren Freund Aziz, der als regulärer Flüchtling nach Deutschland gekommen ist, aufgespürt und ihn nach Berlin geholt. „Anfangs war er total schüchtern und hat sich fast nur von Burgern ernährt“, erinnert sich der Reporter aus Berlin schmunzelnd. Viele seiner Erinnerungen sind aber weniger fröhlich: „Besonders schlimm war es, als sein jüngerer Bruder auf der Überfahrt nach Italien ertrunken ist. Da stand Aziz wirklich neben sich.“

Abdalaziz Alhamza möchte nicht über seine Familie sprechen. Stattdessen möchte er die Informationen zum aktuellen Schicksal des „Raqqa is Being Slaughtered Silently“-Kollektivs teilen. Kurdische Einheiten haben den IS im Herbst aus der Stadt vertrieben. „Aber Raqqa wurde nicht befreit. Den Menschen geht es nach wie vor schlecht“, betont Alhamza, „mit der YPG an der Macht hat sich kaum etwas verbessert, einiges sogar verschlechtert.“ So zwängen die „Volksverteidigungseinheiten“, die als syrische Fraktion der verbotenentürkischen Arbeiterpartei PKK gelten und im Syrien-Krieg von den USA unterstützt werden, Menschen zum Militärdienst. Sogar Kinder. „Unsere 17 Aktivist*innen in Raqqa müssen weiterhin um ihr Leben fürchten und im Untergrund agieren“, so der junge Mann, der trotz soeben geleerter Tasse Kaffee immer noch müde aussieht.

Für die Strategie des Westens in dem zum Stellvertreterkrieg ausgeweiteten Konflikt in seiner Heimat findet er harsche Worte: „Die USA und ihre Alliierten interessieren sich nicht im Geringsten für die syrischen Zivilist*innen. Sie wissen, dass die mit ihnen verbündeten, regionalen Gruppen Menschenrechte verletzen und verhindern es nicht.“ Auch die Bombenangriffe auf Ziele des IS sind in seinen Augen zu unorganisiert und deshalb wenig wirksam.

Immer wieder blickt Alhamza während des Gesprächs auf das leuchtende Display seines Smartphones. Mehrere Kommunikationsapps zeigen ihm an, dass er neue Nachrichten erhalten hat. „So geht das jeden Tag, aber ich muss mich überzeugen, dass es allen gut geht“, entschuldigt er die Ablenkung.

Alhamza lässt sich von niemandem einschüchtern

Abdalaziz Alhamza ist das einzige Mitglied des Kollektivs, das regelmäßig in der Öffentlichkeit auftritt. Während er darauf besteht, dass seine Freund*innen anonym und die Wohnorte seiner Kolleg*innen geheim bleiben, ist Alhamza selbst nicht immer so vorsichtig. „Ich habe ihm eine Wohnung in Berlin besorgt und er hat das Wohnhaus fotografiert und ins Netz gestellt“, berichtet der Berliner Journalist und Freund Alhamzas noch immer ein bisschen fassungslos. Inzwischen hat er aber nicht einmal mehr ein Klingelschild am Briefkasten. Personenschutz im Alltag lehnt der junge Syrer aber nach wie vor ab. Zur Vorpremiere von „City of Ghosts“ durfte ihn das LKA dann allerdings ausnahmsweise mal begleiten.

In Deutschland geht die Bedrohung für den jungen Mann indes längst nicht mehr nur von religiösen Fundamentalisten aus. Seitdem Pegida tausende Anhänger*innen mobilisiert hat und die AfD ins Parlament eingezogen ist, zeichnet sich auch die Gefahr eines nach rechts rückenden Europas immer stärker ab. „Ich habe mich mit Leuten von Pegida unterhalten, weil ich wissen wollte, wie sie ticken. Es gibt eine Ähnlichkeit zum IS: auch in der rechten Szene in Europa ist freies Denken nicht gewollt und es machen nur ausgewählte Informationen die Runde“, fasst Alhamza seine Erfahrungen zusammen.

Ob er langfristig in Berlin bleiben wird, weiß der junge Mann noch nicht. Was er an der Stadt mag, sind seine Freund*innen. Und die Limonade Club Mate. „Am liebsten möchte ich nach Hause, nach Raqqa“, sagt er mit festem Blick und einer ausladenden Handbewegung, die ein Armband freilegt. Neben der Flagge seines Heimatlandes ist darauf zu lesen: „Free Syria“. Die Aktivist*innen von RBSS wollen weiterkämpfen, weiter veröffentlichen, „bis wir ein freies und demokratisches Syrien bekommen“. Er holt tief Luft. Alhamza weiß: Sein Atem wird noch sehr lang sein müssen.

Artikel von Cindy Riechau
Redigiert von Andreas Vogl, Julia Nowecki