28.10.2020
Demokratie ohne Grenzen: Teilhabe für die tunesische Diaspora
Foto: Vanessa Barisch
Foto: Vanessa Barisch

Mit der Revolution 2011 hat Tunesien den Weg zur Demokratie eingeschlagen. Die tunesische Diaspora ist trotz physischer Distanz zum Herkunftsland ein wichtiger Teil davon und bringt sich vielfältig ein.

„Wir sind alle ein Teil der Gestaltung der Zukunft Tunesiens“, erklärte mir die in Kanada lebende Henda über ihre Beziehung zu ihrer alten Heimat Tunesien. Wie Henda leben zwölf Prozent der Tunesier*innen im Ausland. Seit der Revolution 2011, bei welcher der Arabische Frühling seinen Anfang nahm, haben tunesische Staatsbürger*innen innerhalb demokratischer Strukturen die Möglichkeit, über den Werdegang des Landes mitzubestimmen. Durch das Auslandswahlrecht[1] ist auch die tunesische Gemeinschaft im Ausland dazu angehalten, sich politisch einzumischen und mitzugestalten. Kann das aber über langwierige Passkontrollen am Flughafen, ermüdende Interkontinentalflüge und streikende Internetverbindungen hinweg wirklich funktionieren?

Wahlrecht für im Ausland lebende Tunesier*innen

Auf den ersten Blick erscheinen die weitreichenden Mitbestimmungsrechte seitens des tunesischen Staates für die Tunesier*innen im Ausland, tunsien*nes à l’étranger genannt, vielversprechend für die Umsetzung einer kosmopolitischen Demokratie. Besieht man sich dann aber die geringe Wahlbeteiligung von 23,5 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen 2019 unter Auslands-Tunesier*innen, stellt sich die Frage, ob das Konzept überhaupt irgendwie stimmig sein kann. Ein Grund für den spärlichen Gang zur Urne mag sein, dass das politische System auch nach der Revolution noch mit sehr viel Misstrauen betrachtet wird. Als Hauptgründe für die Skepsis gegenüber der politischen Riege werden Korruption und Klientelismus genannt.

Die niedrige Wahlbeteiligung im Ausland mag aber noch andere Ursachen haben: Gewählt werden kann nur in den tunesischen Konsulaten und Botschaften. In Deutschland beispielsweise haben die tunesischen Bürger*innen die Möglichkeit in München, Bonn, Hamburg oder Berlin zu wählen.  Menschen, welche weiter entfernt von diesen Städten leben, ist es den Aufwand, die Zeit und das Geld unter Umständen nicht wert. Deswegen werden mitunter die Einführung der Briefwahl oder elektronische Mechanismen für die Wahlen gefordert.

Trotz dieser Umsetzungsprobleme scheint die Einbeziehung der Diasporagesellschaft Tunesiens in die politischen Entscheidungen eine gute Idee, oder? An dieser Stelle teilen sich die Meinungen. Die einen halten es für eine wichtige Geste, um den im Ausland lebenden Tunesier*innen zu demonstrieren, dass sie ohne Einschränkung zur tunesischen Gesellschaft gehören; die anderen fragen sich, wie Yassin, der selbst im Ausland studiert hat: „Sind die tunisien*nes à l´étranger an die tunesischen Gesetze gebunden? Zahlen sie hier ihre Steuern oder dort, wo sie jetzt leben? Macht es Sinn, dass sie in Tunesien wählen dürfen, auch wenn sie nur einmal im Jahr nach Hause kommen?“

Zudem gibt es gerade im säkularen Lager in Tunesien die Befürchtung, dass die islamische Partei Ennahda, welche momentan die stärkste Fraktion im Parlament ist, besonders von den Stimmen im Ausland profitiert. Maryam, eine Studentin aus Sfax fragt dazu aufgebracht: „Was macht ihr da? Ihr lebt im Ausland und seid angeblich so aufgeschlossen und tolerant. Ehrlich gesagt habe ich mir gewünscht, dass Tunesier im Ausland nicht wählen dürften, als ich das Wahlergebnis gesehen habe.“

Grenzüberschreitendes zivilgesellschaftliches Engagement

Auf der anderen Seite ist allen klar, dass es wichtig ist, dass die tunisien*nes à l’étranger sich auch in ihrer Aufnahmegesellschaft einbringen und dort ihren Rechten und Pflichten nachkommen können. Doppelte Staatsbürgerschaft ist ein Punkt, der in der tunesischen Gesellschaft kaum Anstoß findet. Auch wenn das Wahlrecht für die Gemeinschaft im Ausland umstritten ist, lassen sowohl die in Tunesien lebenden Tunesier*innen als auch die Emigrant*innen keinen Zweifel an der Tatsache, dass die Auswander*innen zur tunesischen Gesellschaft gehören.

Dies zeigen die tunisien*nes à l’étranger auch durch ihr außerordentliches Engagement in der Zivilgesellschaft. Eine gute Ladung Hoffnung und Vertrauen schwingt mit, wenn Tunesier*innen über die Zivilgesellschaft reden, die das angeblich korrupte politische System überwachen und zudem die politischen Impulse geben soll, die die Legislative verschläft oder wie es viele unterstellen bewusst ignoriert. Die Zivilgesellschaft ist so wichtig, weil sie der Inbegriff der oft zitierten force du peuple ist. Diese besondere Kraft der Bürger*innen, die das Unmögliche möglich gemacht hat: den Sturz des autoritären Polizeistaats unter Zine el-Abidine Ben Ali. Auch damals hatte sich die Diaspora so weit wie möglich mit den Protesten in Tunesien solidarisiert, beispielsweise indem sie vor den tunesischen Konsulaten und Botschaften protestiert hat. Auch waren viele aus der Gemeinschaft im Ausland nach der Revolution nach Tunesien zurückgekehrt, um die Demokratie mitzugestalten.

So auch Mahdi, der nach seiner Entlassung als politischer Gefangener des Ben Ali-Regimes nach Frankreich ausgewandert war. Dort knüpfte er an seinen politischen Aktivismus im Bereich Migration, Diskriminierung und Menschenrechte an. Im Jahr 2011 kam er schließlich nach Tunesien zurück und erinnert die politische Elite hartnäckig an ihre Pflicht gegenüber Migrant*innen in Tunesien und den tunisien*nes à l’étranger. Das weitreichende Mitbestimmungsrecht in der tunesischen Gemeinschaft im Ausland und auch die Einrichtung eines dem Parlament unterstellten Beirates für Migrationsfragen sind politische Errungenschaften, die ihm und dem Engagement seiner Organisation Organisation de la Citoyenneté, Développement, Cultures et Migration des deux Rives maßgeblich zu verdanken sind.

Materielle Unterstützung aus dem Ausland

Abgesehen von der politischen Mission der tunesischen auslandsbasierten Zivilgesellschaft, gibt es einige materielle Unterstützungsmaßnahmen für Tunesien: Vor allem in Frankreich haben sich viele lokale Strukturen gebildet, in denen sich Tunesier*innen zusammentun und für Projekte in Tunesien Geld, Kleidung oder Bücher sammeln und Luxusprodukte, die für den tunesischen Geldbeutel andernfalls sehr teuer sind, gebraucht nach Tunesien schaffen. Die Association des Tunisiens des Amériques, in der sich im kanadischen Montreal lebende Tunesier*innen zusammengetan haben, hat mit ihrem neuen Projekt zum Ziel, nachhaltige und faire Wirtschaftsstrukturen zu schaffen. Wie? Indem die Organisation ein Unternehmen gründen will, das tunesisches Olivenöl als Marke etabliert, die Ölbäuer*innen fair entlohnt und letztere unabhängig von den großen Olivenölvertrieben in Europa macht. Letztere verkaufen tunesisches Olivenöl gerne als italienisches, profitieren aber von den niedrigen Löhnen in Tunesien.

Mitdiskutieren aus der Ferne

Auch der tunesische Diskurs wird von der Gemeinschaft im Ausland haargenau verfolgt und es wird auf Facebook kräftig mitdiskutiert. „Das größte Problem der Tunesier ist es, dass die immer vom Emigrieren träumen, aber sich dann nicht emotional von der Heimat lösen können. Wir konsumieren bewusst tunesische Nachrichten in den sozialen Medien. Als ich in Deutschland war, habe ich immer die Verbindung zu meinem Land gesucht“, erzählt Yassin über seine Studienzeit in München.

Facebook stellt ein sehr wichtiges Medium in Tunesien dar, das sehr viel Wohlwollen in der Bevölkerung genießt. Die Plattform wird als zivilgesellschaftliches Gegenmodell zu den klassischen Massenmedien gesehen, die wegen ihrer Verstrickung mit dem Ben Ali-Regime auch heute noch kritisch gesehen werden. Außerdem gilt auch hier wieder das Credo: Durch die sozialen Medien kann die zivilgesellschaftliche Macht gestärkt werden. Raouf ist mit Mitte 50 immer noch am Zahn der Zeit was Social Media-Plattformen angeht. Er ist federführend in der Initiative jounalisme citoyen, die einen kritischen und empowernden Umgang mit den sozialen Medien erreichen will. Mit Workshops, Konferenzen und Facebookgruppen wird das Konzept umgesetzt. Letztere haben auch dafür gesorgt, dass Raouf von der Olivenölinitiative erfahren und sich als Brücke zwischen den Bäuer*innen und den in Kanada sitzenden Investor*innen angeboten hat.

Letztendlich glänzen die tunsien*nes à l’étranger zwar nicht gerade durch eine hohe Wahlbeteiligung in der tunesischen Demokratie, aber ihr intensives zivilgesellschaftliches Engagement zeigt doch, wie Demokratie auch unter Einbezug von Migration funktionieren kann. Der mittlerweile wieder nach Tunesien zurückgekehrte Yassin spinnt dieses Modell noch ein bisschen weiter: „Letztendlich können wir doch alle Weltbürger werden.“ Wer weiß.

 

[1] Das Auslandswahlrecht für im Ausland lebende Tunesier*innen wurde bereits von Ben Ali 1989 eingeführt. Nach der Revolution wurde die Fortführung des Auslandswahlrechtes durch die Verfassungsgebende Versammlung entschieden, welche auch unter Mitbestimmung der tunesischen Emigrant*innen gewählt worden war. (Quelle: Thibaut Jaulin, Géographie du vote à distance: l’élection tunisienne de 2011 à l’étranger, L’Espace Politique, 23 | 2014-2, URL: http://journals.openedition.org/espacepolitique/3099)

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Henriette Raddatz, Eva Garcke