07.05.2017
Der "Alternative Gedenktag" - Umstritten in Israel, hoffnungsvoll in Kreuzberg
Mehr als 4000 Menschen kamen zum Alternativen Gedenktag in Tel Aviv. Foto: Tatjana Gitlis/CfP
Mehr als 4000 Menschen kamen zum Alternativen Gedenktag in Tel Aviv. Foto: Tatjana Gitlis/CfP

Die israelisch-palästinensische Friedensbewegung Combatants for Peace veranstaltet einen Alternativen Gedenktag für die Opfer des Nahostkonflikts. In Tel Aviv erntet sie dafür blanken Hass, in Berlin zeigte ein Film, wie es auch gehen kann.


Tel Aviv: Draußen Sprechchöre, drinnen Gesang

Von Raphael Nabholz

Es ist für viele, vor allem säkulare Israelis, einer der emotionalsten Feiertage des Jahres, der „Remembrance Day for the Fallen of Israel’s Wars and for Terror Victims“. Kaum ein Israeli hat seit der Staatsgründung vor knapp 70 Jahren nicht einen Angehörigen oder Freund im Nahostkonflikt verloren. Gedenkzeremonien finden im ganzen Land statt und gehen nicht ohne Grund in die Feierlichkeiten zum israelischen Unabhängigkeitstag über, der am Folgetag zelebriert wird.

Die Initiativen Combatants for Peace und Parents Circle haben bewusst den Vorabend gewählt, um ihren bi-nationalen Gedenktag für die Opfer beider Seiten zu begehen. Wie in den offiziellen Gedenkzeremonien auch, erzählen Hinterbliebene die ganz persönlichen Geschichten. „Blut hat dieselbe Farbe, in Israel und in Palästina – deswegen wollen wir gemeinsam derjenigen gedenken, die in der sinnlosen Gewaltspirale ihr Leben lassen mussten, und zusammen Hoffnung schenken, dass es auch anders geht“, so das Credo der Friedenskämpfer.

Es ist 8 Uhr morgens, zusammen mit einigen Combatants und dem Sicherheitsmanager der „Shlomo Basketball Arena Tel Aviv“ rücke ich Sperrzäune, die später einmal rechte Demonstranten von Trauernden trennen sollen. Die Stimmung ist angespannt – dass die „Alternative Gedenkzeremonie“ der Combatants for Peace nicht überall auf Gegenliebe stößt, ist man mittlerweile gewohnt. Dieses Jahr jedoch hat die Veranstaltung besondere Aufmerksamkeit erhalten. Zum einen hat das israelische Verteidigungsministerium zum ersten Mal in der zwölfjährigen Geschichte der Veranstaltung beschlossen, keinem einzigen der rund 500 palästinensischen Mitglieder der Combatants und dem Parents Circle eine Einreisegenehmigung zur Teilnahme an der Gedenkveranstaltung in Tel Aviv auszustellen. Alle politischen und juristischen Interventionen der Combatants blieben erfolglos. Daher wurde spontan umdisponiert, die Israelis versammeln sich in Tel Aviv, die Palästinenser in Beit Jalah und sind per aufwändiger Videotechnik miteinander verbunden.

 Tatjana Gitlis/CfP Die Palästinensischen Gäste wurden per Live-Video zugeschaltet. Foto: Tatjana Gitlis/CfP

 

Die Nachricht über den Einreisebann verbreitete sich in Windeseile und ausgerechnet Verteidigungsminister Liebermann war es, der mit seinem Einreiseverbot die Veranstaltung in die großen, wichtigen israelischen Medien brachte und damit landesweit bekannt machte. Daraufhin rief der für seine extrem-radikale zionistische Haltung berüchtigte israelischen Rapper Yoav Eliasi alias „The Shadow“ dazu auf, die Veranstaltung zu attackieren. Tausende folgten seinem Aufruf in den sozialen Medien, dementsprechend nervös sind die Organisatoren der Veranstaltung, wie der Abend wohl verlaufen würde.

Bereits zwei Stunden vor Veranstaltungsbeginn kommen die ersten Gäste. In Beit Jalah sind es gut 500 Besucher und in Tel Aviv füllt sich die 4000 Menschen fassende Halle ebenfalls rasant. Dort haben sich nun auch die Gegendemonstranten so positioniert, dass jeder Besucher an ihnen vorbei muss. Ein Großaufgebot an Polizei und Sicherheitskräften versucht, die Demonstranten von den Trauernden fernzuhalten, doch immer wieder gelingt es ihnen, Besucher mit Sand und Steinen zu bewerfen, zu bespucken und durch Lautsprecher den Tod zu wünschen. An einem Tag, an dem Toten gedacht wird, klingt dies besonders zynisch.

Um 20 Uhr, die Einlasskontrollen sind in vollem Gange, wird es plötzlich still. Sirenen ertönen in ganz Tel Aviv. Es beginnt eine nationale Schweigeminute, die den Beginn des offiziellen, nationalen Gedenktages signalisiert. Menschen vor und in der Halle liegen sich weinend in den Armen. Jeder Besucher des Gedenktages hat seine eigene Geschichte von Schmerz und Verlust, von Trauer und Verzweiflung. Sie kommen zum alternativen Gedenktag, um gemeinsam um ihre Familienmitglieder zu trauern, die in diesem Konflikt ihr Leben verloren haben – und dabei nicht vergessen können, dass die Trauer auf der anderen Seite dieselbe ist. „When I cry, I cry for both of us – because my pain has no name“ werden die israelische Starmusikerin Achinoam Nini („Noa“) und die durch den Eurovision Song Contest berühmt gewordene palästinensische Liedermacherin Mira Awad später mit den 4500 Besuchern in Tel Aviv und im palästinensischen Beit Jalah gemeinsam singen.

 Tatjana Gitlis/CfP Mira Awad und Noa singen “There must be another way!” Foto: Tatjana Gitlis/CfP

 

Die Zeremonie endet traditionell mit dem israelisch-palästinensischen Frauenchor. Mittlerweile hat die israelische Polizei die Straßen rund um die Halle abgeriegelt, zu viele Menschen wollten an der Zeremonie teilnehmen, die Halle war überfüllt. Und als die letzten Dankesworte gesprochen sind, bringen sich die Demonstranten wieder in Position. „Geht doch zurück nach Auschwitz!“ – „Ihr Nazis!“. Einige der Combatants, die während der ganzen Zeremonie deeskalierend draußen bei den rechten Demonstranten standen, haben Tränen in den Augen. „Es tut so weh, gerade am heutigen Tag diesen Hass aushalten zu müssen, als Verräter verunglimpft und angespuckt zu werden“, sagt einer der Combatants.

Noch Tage danach wird in der israelischen Gesellschaft sehr emotional über die Veranstaltung diskutiert, auch die Anfeindungen hören nicht auf. Kein aktueller israelischer Regierungspolitiker hat die Angriffe verurteilt. Warum? Die Combatants for Peace haben etwas gewagt, was die israelische Rechte am meisten fürchtet: sie schufen für einen Abend einen sicheren Raum, in dem sich Israelis und Palästinenser ohne Lügen, Propaganda und Anfeindungen begegnen konnten und ihre zutiefst persönlichen Erfahrung teilen konnten. Das gibt Hoffnung, eine Hoffnung, die israelische Radikale um jeden Preis unterdrücken möchten.

Raphael Nabholz ist Sozialarbeiter und hat Friedens- und Konfliktforschung in Marburg studiert. Derzeit arbeitet er im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) als Fachkraft im Zivilen Friedensdienst bei den Combatants for Peace und unterstützt dort Organisationsentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit. Seit eineinhalb Jahren lebt und arbeitet er in Palästina und Israel. 

 


Kreuzberg: Auf der Suche nach neuen Wegen aus dem alten Konflikt

Von Sophie Hoevelmann

 In Berlin nahm Combatants for Peace – German friends den „Alternativen Gedenktag“ zum Anlass, den vielfach prämierten Film „Disturbing the Peace“ aus dem Jahr 2016 erstmals in Deutschland zu zeigen. Ein weiterer Programmpunkt an diesem Abend war neben der Liveschalte nach Tel Aviv der Besuch von Nour Shehada, einem der Gründer von CfP. Der Kinosaal im Moviemento war mit deutlich mehr als 100 Gästen voll besetzt, ein Zeichen für das große Interesse an der Veranstaltung, an der neben Combatants for Peace – German friends und Parents Circle Freundeskreis Deutschland auch Mitglieder von Alsharq e.V., Givat Haviva, New Israel Fund Deutschland, Reconsider, Siso und Spitz Magazine beteiligt waren.

Zum Auftakt der Veranstaltung erzählte der Dokumentarfilm „Disturbing the Peace” die Geschichte einer Gruppe von ehemaligen israelischen Soldat*innen und palästinensischen Kämpfer*innen, die in einem Gewaltsystem groß geworden sind. Sie haben gelernt, sich gegenseitig zu misstrauen und zu hassen. Doch was sie schlussendlich zusammenbringt, ist die Erkenntnis, dass Gewalt nicht die Lösung sein kann. Stephen Apkon und Andrew Young berichten von der Transformation der Kämpfer*innen hin zu Friedensaktivist*innen, die zusammen 2005 die Organisation Combatants for Peace (CFP) gründen. Dieses Jahr sind sie für den Friedensnobelpreis nominiert.

Da ist zum einen Sulaiman Khatib, der als junger Mann fest an den bewaffneten Kampf gegen die israelische Besatzung glaubt: „I had a dream to become a soldier in the palestinian revolution. […] I was ready to die for these ideas“. Er verübt ein Attentat auf einen israelischen Soldaten und landet für zehn Jahre im Gefängnis. Dort entwickelt er ein neues Bewusstsein. Er schaut Filme wie „Schindlers Liste“, liest über Martin Luther King, Nelson Mandela und Mahatma Gandhi und kommt schließlich zu der Erkenntnis: „There is no military solution to our conflict“.

 

Eine weitere Geschichte ist die von Avner Wishnitzer. Auch für ihn, der in einer Eliteeinheit der israelischen Armee diente, gab es zuerst keinen Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns: „I was in one of the special units of the Israeli army. I was proud, even my father was proud“.

Eines Tages stürmt seine Einheit ein Haus, um einen „Terroristen“ festzunehmen, der einen Anschlag auf ein israelisches Militärfahrzeug verübt hatte. Sein Kollege zeigt auf einen kleinen Jungen im Alter von neun Jahren. Der Junge wird abgeführt. In diesem Moment hat Avner das Gefühl, dass das, was da geschieht, nicht richtig ist. Zusammen mit anderen israelischen Soldat*innen und Militärs verfasst er einen Brief an den Premierminister, in dem sie erklären: „We will no longer continue to fight beyond the 1967 borders“. Ihr Brief erregt nicht nur in Israel Aufsehen, sondern auch bei einer Gruppe von palästinensischen Aktivist*innen. Es kommt zum einem ersten Treffen in Palästina zwischen israelischen ex-Militärs und palästinensischen ex-Kämpfer*innen, aus denen später die CFP hervorgehen.

Der Film streift mit den individuellen Geschichten auch die Geschichte des Aufbaus des israelischen Staates und des palästinensischen Widerstandes. Zentral sind jedoch vor allem die persönlichen Beschreibungen der Situationen, in denen plötzlich ein Umdenken in den Köpfen der Kämpfer*innen und Soldat*innen stattfindet. Das Bewusstsein, dass der sogenannte Feind eine Mutter, ein Familienvater, ein neun Jahre altes Kind ist, kurz: dass wir alle Menschen sind, um Opfer trauern, Schmerz, Angst und Wut empfinden. Der Film beschreibt damit universale Themen wie die Dehumanisierung des „Anderen“ durch Propaganda und das Durchbrechen genau dieser Dehumanisierung durch gewaltfreien Widerstand und Anerkennung der anderen Gruppe. Damit transportiert dieser Film ein Gefühl der Hoffnung: Die Hoffnung, dass ein Umdenken der Konfliktparteien möglich ist, trotz der weiterhin angespannten Lage.

Yehudit Yinhar von CFP– German friends las nach dem Film eine persönliche Nachricht der CFP vor, in der die Mitglieder auf die aktuellen Ereignisse im Kontext der Veranstaltung hinwiesen, wie die erschwerte oder gar verwehrte Teilnahme vieler Palästinenser*innen an der Gedenkzeremonie in Tel Aviv. Umso wichtiger seien Zeichen der weltweiten Solidarität: „In these times it is important to bring public attention around the world and especially here in Berlin, to the power of the non-violent struggle and the importance of supporting this.”

CFP- Mitbegründer Nour Shehada hatte, wie seine Mitstreiter*innen aus dem Film, ebenfalls eine bewegte Geschichte zu erzählen. Er kommt aus einer Familie, in der sich alle dem bewaffneten Kampf verschrieben haben. Seine Arbeit bei den Combatants for Peace können nur wenige in seinem Umfeld nachvollziehen: „All my brothers don't believe in non-violent struggle. I am alone.“ Als einer der führenden Personen in der Fatah stand er einst nicht nur auf der „schwarzen Liste“ der israelischen Armee, sondern verbrachte auch mehrere Jahre in israelischen Gefängnissen. Heute arbeitet er als Sozialarbeiter mit den Methoden des „Theater der Unterdrückten“. Für Shehada ist es derzeit leichter, nach Deutschland zu reisen als in seinen Heimatort Tulkarem im Westjordanland: „I am afraid. Maybe I will go to jail again.” Dennoch gibt er seine Hoffnung auf Frieden nicht auf: „I hope that together we continue to support peace, to support Combatants for Peace. I hope that the German people can give us more power to continue to make peace between the two people.”

Eine kurze Pause gab den Besucher*innen die Möglichkeit im beschaulichen Kinofoyer mit den Veranstaltern und Nour Shehada ins Gespräch zu kommen und sich untereinander über den Film auszutauschen. Und dann war es auch schon Zeit für die Live-Schalte zur Gedenkfeier nach Tel Aviv. Die Veranstaltung in Berlin erinnerte nicht nur an die Opfer des Konflikts, sondern zeigte vor allem mit dem Film „Disturbing the Peace“, dass es Menschen gibt, die sich mutig gegen ein etabliertes Gewaltsystem stellen.

Artikel von Raphael Nabholz, Sophie Hoevelmann