06.10.2014
Der Große Krieg in den Meerengen: Die islamische Welt im Konflikt der Jahre 1914 bis 1918
Britisch-indische Soldaten bei ihrem Vormarsch durch Palästina, 1917. Bild: WikiCommons/ American Colony (Jerusalem). Photo Dept.
Britisch-indische Soldaten bei ihrem Vormarsch durch Palästina, 1917. Bild: WikiCommons/ American Colony (Jerusalem). Photo Dept.

Der Erste Weltkrieg war mehr als ein europäischer Konflikt. Gekämpft wurde auch vom Kaukasus bis nach Ostafrika, Auswirkungen waren in Algerien ebenso spürbar wie in Iran. Im Auge des Sturms befand sich eine europäische Großmacht mit einem Kalifen an der Spitze: das Osmanische Reich. Der zweite Teil unserer kleinen Serie zum ersten Weltkrieg im Nahen Osten von Jakob Krais.

An einem Augusttag des Jahres 1914 erbaten zwei deutsche Kreuzer bei Çanakkale die Einfahrt in die Dardanellen. Die beiden Kriegsschiffe, die Goeben und die Breslau, befanden sich gerade im Mittelmeer, als ihr Kommandant am 3. August die Nachricht von der deutschen Kriegserklärung an Frankreich erhielt. Um seiner patriotischen Pflicht nachzukommen, beschloss er, einige Häfen in der französischen Kolonie Algerien zu beschießen. Nach einer weiteren Nachricht, die ein Bündnis zwischen seinem Kaiser und dem osmanischen Sultan vermeldete, machte er sich dann schleunigst auf den Weg zum Bosporus – die Flotte der führenden (und jetzt verfeindeten) Seemacht Großbritannien war niemals fern, auch nicht im sonnigen Mittelmeer.

Navigieren durch schwierige See

Die osmanische Regierung stand nun vor einem Dilemma: Sollte sie die Deutschen in die Meerengen einlassen – und sich damit im beginnenden Krieg auf deren Seite schlagen? Einen Tag vor dem Kriegsausbruch zwischen Deutschland und Frankreich war sie zwar einen Vertrag mit Berlin eingegangen, eine Liebesheirat war die Verbindung jedoch nicht.

Kaum zwei Monate zuvor hatte Admiral Sir Berkeley Milne, der Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte im Mittelmeer – die jetzt die Goeben und die Breslau verfolgten –, noch in Istanbul mit Sultan Mehmet V. diniert. Und mitten in der Julikrise, die unmittelbar zum Weltkrieg führte, hatte der osmanische Marineminister Cemal Pascha noch bei einem französischen Flottenmanöver in Toulon geweilt. Aus Istanbuler Sicht ging es darum, durch ein geschicktes Navigieren zwischen den unterschiedlichen Mächten möglichst viel herauszuschlagen.

Das Steuer führte dabei seit einiger Zeit die Bewegung der Jungtürken. Diese ursprünglich hauptsächlich auf dem Balkan stationierten nationalistischen Offiziere hatten sich Reform und Modernisierung auf die Fahnen geschrieben. In der Revolution von 1908 rangen sie Abdülhamit II. zunächst die Wiedereinführung von Parlament und Verfassung ab. Bald setzten sie den Sultan dann ganz ab – seinem Bruder und Nachfolger Mehmet blieb nur noch eine zeremonielle Rolle nach englischer Art.

Das Osmanische Reich war 1914 zwar schon seit über einem halben Jahrhundert als Mitspieler im Konzert der europäischen Großmächte akzeptiert, in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht galt es aber nur noch als Schatten früherer Tage. Die Jungtürken wollten den europäischen Konflikt jetzt nutzen, um ihren Versprechen Taten folgen zu lassen und das Reich zu alter Stärke zurückzuführen. Seit einem Putsch lenkte die Geschicke des letzten muslimischen Großreichs ein jungtürkisches Triumvirat, dem neben dem bereits erwähnten Cemal Pascha der Innenminister Talat Bey sowie der ambitionierte Armeeoffizier Enver Pascha angehörten.

 WikiCommons, Fotograf unbekannt. Kaiser Wilhelm II., Sultan Mehmet V. und Kriegsminister Enver Pascha (v. l. n. r.) 1917 in Istanbul. Bild: WikiCommons, Fotograf unbekannt.

Envers Entscheidung

In seiner Funktion als Kriegsminister ordnete Enver am 10. August 1914 an, die beiden deutschen Kreuzer ins Marmarameer zu lassen – eine Entscheidung von außerordentlicher Tragweite: „Von nun an überspülten die Wogen des Krieges auch die andere Hälfte des Erdballs“, so die amerikanische Autorin Barbara Tuchman in ihrem Buch August 1914.

Enver Pascha machte die besten Aussichten für einen Wiederaufschwung des Reiches in einem Zusammengehen mit Deutschland aus, von dessen bevorstehendem Sieg er überzeugt war. Der deutschfreundliche Kriegsminister hatte allerdings keineswegs die gesamte osmanische Regierung auf seiner Seite. Viele seiner Kollegen sahen bessere Chancen darin, die verschiedenen Bündnisse möglichst lange gegen einander auszuspielen. Um einen sofortigen osmanischen Kriegseintritt zu umgehen, zauberten Berlin und Istanbul daher auf die Schnelle einen Kaufvertrag für die beiden Schiffe der kaiserlichen deutschen Marine aus dem Hut: Beide hissten nun die Flagge mit dem Halbmond, aus Goeben und Breslau wurden Yavuz Sultan Selim und Midilli.

Nach einem Spätsommer voller Hin und Her verließ Enver Pascha schließlich die Geduld: Im Geheimen befahl er für den 29. Oktober einen Angriff auf Russland – die beiden ehemals deutschen Kriegsschiffe mit ihren nach wie vor deutschen Besatzungen waren an vorderster Front beteiligt. Das Osmanische Reich stand jetzt auch offiziell an der Seite Deutschlands im Ersten Weltkrieg.

Stellungskrieg zwischen Gallipoli und Gaza

Ein halbes Jahr später gerieten die Meerengen wieder in den Blickpunkt. Obwohl deutsche Soldaten nur 100 Kilometer vor Paris standen, hatten die Franzosen sich von ihren britischen Verbündeten überzeugen lassen, gemeinsam Truppen für einen Stoß in den „weichen Unterleib“ des feindlichen Bündnisses – eben das schon lange als morsch geltende Osmanische Reich – bereit zu stellen: Die westlichen Alliierten landeten auf der Halbinsel Gallipoli, gegenüber von Çanakkale. Nachdem das Jahr 1915 jedoch verstrichen war und die Invasion den festgefahrenen Stellungskrieg nur um noch eine Front – diesmal zwischen Ägäis und Marmarameer – erweitert hatte, zogen Briten und Franzosen unverrichteter Dinge wieder ab.

Auf der anderen Seite nahm hier ein nationaler Mythos seinen Anfang: Mustafa Kemal (der spätere Atatürk) gründete auf die erfolgreiche Verteidigung Gallipolis seinen Ruhm als Kriegsheld. Der deutsche Oberbefehlshaber, General Otto Liman von Sanders, der sich seinerzeit als „Löwe von Gallipoli“ feiern ließ, ist dagegen längst vergessen. Umgekehrt scheint sich trotz des Fehlschlags die Karriere Winston Churchills – der damals als Chef der britischen Marine zurücktreten musste – schnell erholt zu haben.

Die Osmanen gingen auch in die Offensive. Ein Vorstoß nach Russland, den Enver Pascha ausgerechnet mitten im Winter angeordnet hatte, blieb allerdings bald im Schnee des Kaukasus stecken, und die Armee des Zaren ging zum Gegenangriff über. Am anderen Ende des Reichs scheiterten unter Cemal Pascha zwei Angriffe auf den von Großbritannien kontrollierten Suezkanal. Britische und osmanische Truppen verschanzten sich auch hier, südlich von Gaza, schließlich im Stellungskrieg.

Ein Kalifat gegen den westlichen Imperialismus

Zur Vorbereitung der Offensiven hatte der höchste religiöse Würdenträger des Osmanischen Reiches bereits im November 1914 den Dschihad proklamiert: Die Muslime der Welt waren aufgerufen, für Sultan Mehmet V. in den Kampf zu ziehen – der Herrscher verstand sich auch als Kalif, als geistliches Oberhaupt des gesamten Islam.

Einen ersten Testfall bot Iran, wo Osmanen und Deutsche einmarschiert waren und sich im Westen des Landes eingerichtet hatten. Schah und Bevölkerung wollten zwar gerne die traditionelle Einmischung der imperialen Mächte Russland und Großbritannien abschütteln, die ebenfalls Gebiete besetzt hatten. Die schiitischen Iraner hätten sich dafür aber nie einem sunnitischen Kalifen unterstellt – zumal sie mit ihren Nachbarn eine jahrhundertealte Feindschaft pflegten.

In erster Linie richtete sich der Dschihadaufruf ohnehin an die muslimischen Untertanen in den Kolonialreichen der Briten und Franzosen, die sie in großem Maß für den Krieg heranzogen: In Britisch-Indien, vor allem in der Region des heutigen Pakistan, rekrutierte London weit über eine Million Soldaten, von denen 60 000 ums Leben kamen – Zahlen, die die mancher europäischer Staaten übertreffen. In Ägypten, das als Drehscheibe für Truppen aus dem ganzen Empire diente, fand sich ein Drittel der männlichen Bevölkerung zum Arbeitseinsatz für das britische Militär verpflichtet.

Die französische Kolonialarmee mobilisierte mehr als eine halbe Million Mann, abgesehen von Westafrika (die berühmten Senegal-Schützen) vor allem in Marokko, Algerien und Tunesien. Der Erste Weltkrieg brachte außerdem die massenhafte Einwanderung von Maghrebinern nach Frankreich: Etwa 220 000 Gastarbeiter – die meisten von ihnen Algerier – hielten die Rüstungsindustrie in Paris, Marseille und anderswo am Laufen.

Dschihad „made in Germany“

Ausdrücklich nicht zum Dschihad aufgerufen waren die Muslime unter deutscher Herrschaft. Dabei zog auch das Kaiserreich zahlreiche koloniale Untertanen ein: Allein in Ostafrika waren über 12 000 Soldaten im Einsatz, die nach dem arabischen Terminus „Askaris“ genannt wurden – wegen der langen Nachrichtenwege streckten sie im November 1918 übrigens erst zwei Wochen nach den deutschen Einheiten in Europa die Waffen.

Schon früh sahen Beobachter daher in der Rhetorik vom Heiligen Krieg vor allem einen Propagandatrick, ja geradezu einen Dschihad „made in Germany“, der dem deutschen Kaiser mehr nütze als dem osmanischen Sultan. Die unmittelbare Begeisterung für den Glaubenskampf blieb somit aus.

Einzig in Libyen, wo die einheimischen Araber und Berber sich schon seit 1911 gegen die italienische Eroberung zur Wehr setzten, waren die Osmanen weithin beliebt. Nach dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg an der Seite von Briten, Franzosen und Russen erreichte Libyen ab 1915 wieder offiziell Hilfe aus Istanbul – nicht zuletzt auf deutschen U-Booten. Enver Pascha (vor seiner Zeit als Kriegsminister selbst an der nordafrikanischen Front stationiert) überredete die arabischen Widerstandskämpfer sogar zu Attacken auf das britisch besetzte Ägypten. Zurückerobern konnten die Osmanen ihre ehemaligen Gebiete freilich nicht.

Insgesamt geriet das Reich zunehmend in die Defensive: Ab Frühjahr 1917 rückten die Briten erst im Irak, dann auch in Palästina und Syrien immer weiter vor. Die prominente Schützenhilfe aus Deutschland war nun eher kontraproduktiv: In seinem Hauptquartier in Aleppo wetterte der für die beiden Fronten zuständige General Erich von Falkenhayn mit der ganzen Arroganz eines früheren preußischen Kriegsministers und Chefs der Obersten Heeresleitung gegen die seiner Meinung nach unfähigen osmanischen und die „vertürkten“ deutschen Offiziere.

Weder ihm noch seinem Nachfolger, dem „Löwen von Gallipoli“ Liman, gelang es, den britischen Vormarsch zu stoppen. Im Herbst 1918 stürzte schließlich das von Talat geführte Triumvirat der Jungtürken. Ende Oktober unterzeichnete Rauf Bey, Cemal Paschas Nachfolger als Marineminister, in Mudros – unweit der Einfahrt zu den Dardanellen – die osmanische Kapitulation: Nach vier Jahren und einem Tag schwiegen die Waffen.

Das Opfer des Nahen Ostens

Auch wenn sie in der Erinnerung kaum präsent sind, waren der Nahe Osten und die islamische Welt insgesamt zwischen 1914 und 1918 wichtige Schauplätze. „Unsere Vorstellung vom Ersten Weltkrieg ist geprägt durch die Westfront“, so der Berliner Historiker Oliver Janz: „Noch weniger bekannt ist, dass die Verluste an den östlichen und südöstlichen Fronten und im Nahen und Mittleren Osten höher waren als an der Westfront mit ihren blutigen Materialschlachten.“

 WikiCommons Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkriegs: Das Märtyrer-Denkmal von Çanakkale auf einem türkischen Geldschein. Bild: WikiCommons



Auf osmanischer Seite fielen nach offiziellen Angaben 325 000 Soldaten, ein Fünftel der eingezogenen Männer und damit laut Janz prozentual „fast doppelt so viele wie Briten oder Italiener“. Außerdem kam mehr als jeder dritte zivile Tote des Ersten Weltkriegs aus dem Nahen Osten – darunter viele Armenier, die Massakern und Deportationen durch die osmanischen Behörden zum Opfer fielen.

Mit Envers Entscheidung, am 10. August 1914 zwei deutsche Kriegsschiffe in die Dardanellen zu lassen, hatten die Osmanen den gesamten Nahen Osten in einen blutigen Krieg gestürzt, an dessen Ende der Untergang des eigenen Reiches stand. Noch einmal Barbara Tuchman: „Rußlands Isolierung mit all ihren Konsequenzen, die erfolglose und blutige Tragödie von Gallipoli, die Spaltung der alliierten Kampfkraft durch die Feldzüge in Mesopotamien, Suez und Palästina, schließlich der Zerfall des Osmanischen Reiches und die daraus sich ergebende Geschichte des Mittleren Ostens, alles das war die Folge der Fahrt der Goeben.“

 

Dieser zweite Artikel unserer dreiteiligen Serie zum Ersten Weltkrieg im Nahen Osten und Nordafrika geht auf den Konflikt der Jahre 1914 bis 1918 selbst ein und nimmt seine Bedeutung für die islamische Welt in den Blick. Im ersten Artikel standen die internationalen Beziehungen und die Rivalität der europäischen Mächte, die sich im Vorfeld des Krieges an der Region entzündete, im Mittelpunkt. Der dritte Teil wird sich mit Ergebnissen und Folgen des Ersten Weltkriegs in der Region beschäftigen, die den Nahen Osten zum Teil bis heute prägen.

Alsharq gibt es, weil wir es machen. Schreibe uns gerne, falls Du auch Lust hast, einen Artikel beizusteuern.