23.12.2023
Der unlösbare Konflikt
Schüler:innen protestieren am Checkpoint Mia Mila östlich von Nikosia anlässlich des 40-jährigen Bestehens der TRNC am 15. November 2023 für ein vereintes Zypern. Foto: Elena Athina Mieslinger
Schüler:innen protestieren am Checkpoint Mia Mila östlich von Nikosia anlässlich des 40-jährigen Bestehens der TRNC am 15. November 2023 für ein vereintes Zypern. Foto: Elena Athina Mieslinger

Nicht nur die türkische Republik wurde dieses Jahr 100 Jahre – auch die Deklaration der „Türkischen Republik Nordzypern“ (TRNC) jährte sich zum 40. Mal. Mit Prof. Zenonas Tziarras blicken wir auf die Ursprünge des Zypern-Konfliktes zurück.

Zenonas Tziarras ist Dozent am „Department for Turkish and Middle Eastern Studies“ an der University of Cyprus in Nikosia. Er hat einen Doktortitel in Politik und internationalen Studien mit Schwerpunkt türkische Außenpolitik unter der AKP und ist Mitbegründer der Plattform „Geopolitical Cyprus“ und Mitglied der Redaktion des New Middle Eastern Studies Journal.

Bereits unter osmanischer und britischer Herrschaft gab es griechisch- und türkischsprachige Zypriot:innen, mit einer griechisch-zypriotischen Mehrheit. Nach der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft in den 1960ern wurden türkische Zypriot:innen systematisch diskriminiert und vertrieben. Nach einem Putschversuch radikaler griechisch-zypriotischer Kräfte 1974 besetzte das türkische Militär den Norden der Insel. Bereits 1975 wurde der „Türkische Föderativstaat von Zypern“ ausgerufen, am 15. November 1983 beschloss das Parlament schließlich die Deklaration der „Türkischen Republik Nordzypern“.

Eine geteilte Insel und ein scheinbar unlösbarer Konflikt mit zunehmend verhärteten Fronten – so erscheint Zypern im Moment. Auf was ist dieser Konflikt zurückzuführen?

Das Problem begann mit dem Erstarken des Nationalismus auf der Insel zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während der griechische auf die späten Jahre der osmanischen Herrschaft zurückzuführen ist, so entwickelte sich der türkische Nationalismus als eine Reaktion darauf. Die britischen Kolonialherren perpetuierten den Antagonismus zusätzlich.

Was ist der Ausrufung der „Türkischen Republik Nordzyperns“ am 15. November 1983 im Norden der Insel vorausgegangen?

Nach dem griechisch-zypriotischen Befreiungskampf (1955-1959) einigten sich beide Gemeinschaften gemeinsam mit Großbritannien, Griechenland und der Türkei auf eine Verfassung. Die 1960er Jahre nach der Staatsgründung waren von ethnischen Auseinandersetzungen geprägt. Türkische Zypriot:innen wurden von politischen Institutionen ausgeschlossen und zogen sich daraufhin entweder zurück, wurden vertrieben oder in Enklaven umgesiedelt. 1974 putschten griechisch-zypriotische Nationalisten der EOKA B' mit Unterstützung der griechischen Militärdiktatur gegen die Regierung Erzbischofs Makarios. Ziel war die „Enosis“, die Vereinigung mit Griechenland. Die Türkei intervenierte als eine der drei Schutzmächte und besetzte im Zuge dessen den Nordteil der Insel. Tausende von griechischen Zypriot:innen wurden aus dem Norden in den Süden und türkische Zypriot:innen aus dem Süden in den Norden vertrieben. Es entstanden zwei geografische und ethnische Zonen. Am 15. November 1983 erklärte das neu einberufene Parlament den Norden Zyperns unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur „Türkischen Republik Nordzypern". Bis heute erkennt nur die Türkei dieses De-facto Regime an.

Der Außenminister der „TRNC“ Tahsin Ertugruloglu statuierte letzte Woche in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Das Einzige, was wir getan haben, ist zu verhindern, dass die Insel zu einer griechischen Insel wird. Die Schutzmacht Türkei ist der Grund, warum die türkischen Zypriot:innen noch am Leben sind.“ Wie bewerten Sie diese Aussage?

Natürlich sind die Narrative der beiden Seiten gegensätzlich. Vor allem die türkisch-zypriotische Rechte interpretiert den eigenen Staat als überlebensnotwendig. Die Idee der Abspaltung, auch „Taksim“ genannt, geht allerdings auf die 1940er zurück und war eine Zeit lang Teil der türkischen Politik. Erst später wurde sie zur türkisch-zypriotischen Antwort auf die geplante „Enosis“. Die Vereinigung mit Griechenland wurde vonseiten der griechischen Zypriot:innen nach dem misslungenen Putsch und der faktischen Teilung der Insel aufgegeben. Die türkisch-zypriotische Seite hält jedoch weiterhin an der Trennung der Insel fest.

Wie hat sich die Identität der türkischen Zypriot:innen im Laufe des 40-jährigen Bestehens der „TRNC“ verändert, auch angesichts der nicht unerheblichen türkischen Siedlungspolitik?

Von einer einzigen türkisch-zypriotischen Identität kann man denke ich nicht sprechen. Eine rechte Minderheit identifiziert sich mit der türkischen Identität. Dann gibt es diejenigen, die sich mit der türkisch-zypriotischen Identität identifizieren, also eine Art türkisch-zypriotischen Nationalismus verfolgen, und diejenigen, die sich als türkischsprachige Zypriot:innen sehen und damit ihre zypriotische Identität betonen. Letztgenannte Gruppe ist offener für eine gemeinsame Zukunft mit den griechischen Zypriot:innen, eben weil sie weniger ideelle Barrieren hat. Türkische Zypriot:innen sind in ihrer Mehrheit säkulare, nicht-religiöse Menschen. Daher ist besonders die unter dem Einfluss der in der Türkei regierenden AKP herbeigeführte Turkifizierung und eine damit einhergehende Islamisierung des Nordens für türkische Zypriot:innen in vielen Fällen unerträglich geworden. In Ermangelung einer Lösung sehen sie sich zwischen der Republik Zypern auf der einen und den wachsenden türkisch-islamischen Elementen auf der anderen Seite gefangen. Desillusionierung, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit veranlasst viele türkische Zypriot:innen dazu, ein besseres Leben im Ausland zu suchen.

Die Türkei ist weltweit das einzige Land, das die „TRNC“ als eigenständigen Staat anerkennt. Welche Rolle spielt der Norden Zyperns für die türkische Außenpolitik?

Traditionell wurde Zypern vom kemalistischen Establishment als Verteidigungslinie gegen die Expansion und Vorherrschaft des griechischen Elements im östlichen Mittelmeerraum betrachtet. In gewisser Weise gilt dies auch heute noch. Seit Beginn ihrer Regierungszeit 2002 hat die AKP in der Türkei schrittweise eine geopolitische Vision umgesetzt, die von osmanischer Nostalgie und dem Wunsch geprägt ist, eine kulturelle und materielle islamische Großmacht zu werden. Um dies zu erreichen, muss die Türkei ihren Einfluss in angrenzenden geografischen Räumen geltend machen. Die gegenwärtige Seestrategie der Türkei wird in der „Mavi Vatan-Doktrin“ beschrieben, die das Schwarze Meer, die Ägäis und das östliche Mittelmeer umfasst. Hier geht es um Kontrolle und Einfluss über maritime Zonen sowie Handelswege, Sicherheit und Energieressourcen. Zypern ist das Herzstück der „Mavi Vatan“ und in diesem Sinne nicht nur ein Verteidigungszentrum für die Türkei, sondern ein entscheidender Brückenkopf, der die Umsetzung dieser Strategie erleichtert.

Am 15. November diesen Jahres protestierten Schüler:innen im südlichen Teil der Insel in allen größeren Städten für eine Wiedervereinigung der Insel. Können Sie sich ein Szenario vorstellen, wie es auf Zypern zu einer Wiedervereinigung kommen könnte und welche Rolle spielt die junge Generation dabei?

Leider gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht viel Hoffnung auf eine Wiedervereinigung. Aus der Zivilgesellschaft gab es diese Forderungen immer, aber sie fanden meist am Rande der politischen Verhandlungen statt. Gegenwärtig haben beide Seiten sehr unterschiedliche Positionen; die griechische zypriotische Regierung spricht von einer bizonalen, bikommunalen Föderation, während die Regierung der „TRNC“ an einer Zweistaatenlösung festhält.

Selbst wenn beide Seiten zu einer Lösung kämen, so sähe sie zwei getrennte Gebiete vor, die mit einer schwachen Zentralregierung ziemlich autonom voneinander agieren würden. In der Zwischenzeit könnte es Bemühungen geben, bikommunale Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden, zum Beispiel im Krisenmanagement und der Energieversorgung. Die Gesellschaft sollte aktiv bleiben und junge Menschen ihren Kampf für eine bessere Zukunft nicht aufgeben. Gleichzeitig sind Politiker:innen auf beiden Seiten gefordert: Sie müssen über ihre engen Wahlinteressen hinausgehen, versuchen einen Konsens innerhalb ihrer jeweiligen Gemeinschaften herzustellen sowie mutige Schritte nach vorn unternehmen. Andernfalls wird der Status quo fortbestehen, der unabsehbare Kosten für beide Gemeinschaften mit sich bringt.

 

 

 

Elena Athina Mieslinger studiert an der Freien Universität Berlin Geschichte und Kultur des Vorderen Orients und Neugriechische Geschichte. Ihr vorheriges Studium des Nachhaltigen Wirtschaftens führte sie 2019 für ein halbes Jahr nach Kairo, wo sie die MENA-Region kennen- und lieben gelernt hat. Aktuell beschäftigt sie sich vor allem mit...
Redigiert von Hannah Jagemast, Nora Krause