09.11.2018
Die Ikone der Superlative: Diasporische Erscheinungen der Umm Kulthum

Die ägyptische Sängerin Umm Kulthum zog zu Lebzeiten Millionen Araber*innen in ihren Bann. Noch immer lebt diese Ikone der Superlative in den Herzen der Menschen weiter – auch und vor allem in der Diaspora, wie Iskandar Ahmad Abdallah erlebt.

Alle Texte der Kolumne „Des:orientierungen“ findet ihr hier.

Ein Sommerabend in Berlin. Ich gehe mit einem guten Freund aus Ägypten aus. Die Bar ist überfüllt, unserer Zigarettenpausen werden immer länger. Die nächtliche Frische zieht allmählich in uns hinein und kitzelt am Überbleibsel des Weinrausches.

„Oh mein Herz, frage nicht wo die Liebe ist...,“

summt mein Freund vor sich hin. Es ist die erste Strophe von Al-Aṭlāl (Die Ruinen) – eines der bekanntesten Lieder der legendären ägyptischen Sängerin Umm Kulthum.

„Sie war ein Luftschloss und nun ist sie eingestürzt...,“

stimme ich ein. Das Lied kenne ich selbstverständlich auswendig:

„Auf seine Trümmer, schenk mir ein und trink

Erzähle über mich, so lange die Tränen laufen.“

Ungeachtet dessen, ob unsere Stimmen die richtigen Töne treffen oder nicht, singen wir weiter - immer stärker und lauter. Zu unserer Überraschung dauert es nicht lange, bis sich andere rauchende Gäste uns anschließen und mitsingen.

Dabei sagt ein Spaziergang durch die Sonnenallee, das Herz von Neukölln, eigentlich alles. Sie ist überall. Shisha-Bars und Restaurants tragen ihren Namen, ihre Bilder hängen hier und da und ihre Stimme ertönt Tag und Nacht aus etlichen Lautsprechern. Es ist eine Szene, die man auch aus Beirut, Kairo, Tunis oder Jerusalem kennt.

Trat sie auf, herrschte zuhause Sprechverbot

Umm Kulthum ist eine Ikone der Superlative. Auch, weil sie ein halbes Jahrhundert lang auf der Bühne stand - ohne nennenswerte Unterbrechungen oder ernstzunehmende Konkurrenz. Mit dem Alter nahm auch ihr Ruhm immer weiter zu.

Kompromisslos trat sie in das achte Jahrzehnt ihres Lebens ein und sang weiterhin über drei Stunden, wie üblich, am ersten Donnerstagsabend jeden Monats: Eine gesetzte, festliche Verabredung mit Millionen von arabischen Zuschauer*innen und Zuhörer*innen, für deren Herzen sie die Einzige war.

An diesen besagten Abenden, erzählte mir meine Mutter, wurde zu Hause ein absolutes Sprechverbot verordnet. „Nur ihre Stimme und die Lobgesänge deines Opas zur musikalischen Ektase ‚Allah... Rühmlich und Erhaben seist du gnädige Dame’ wurden im Haus gehört.“

Es hieß auch, dass an jenen Abenden nur ihre Stimme in den normalerweise stark befahrenen Straßen Kairos und in den überfüllten Kaffeehäusern erklungen sei. Man sagte außerdem, sie habe dabei die Araber von Marokko bis zum Golf durch ihre Stimme so vereinigt, wie es die panarabische Ideologie sich nur erträumen konnte. Ihr Tod soll eine der größten Begräbniszeremonien der Geschichte gewesen sein.[1]

Sie ist auch eine Grenzgängerin gewesen, die die Dimensionen von Zeit und Raum transzendiert. Sowohl in ihrem Leben, als auch ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod. Denn ihre Musik altert nicht und ihr Vermächtnis ist längst über die Grenzen des Nahen Osten gedrungen. Je älter man wird, desto aufschlussreicher wird einem der dichterische und musikalische Gehalt ihrer Lieder. Egal wie weit man sich vom „Orient“ – als dessen „Planet“ (arab. kawkāb aš-šarq) Umm Kulthum genannt wird – entfernte, ihrem Verehrungskult wird man immer begegnen.

Ausdruck einer Sehnsucht

In Europa wird Umm Kulthum oft mit der Opernsängerin Maria Callas verglichen, um das Ausmaß ihres Ruhms für das westliche Publikum verständlicher zu machen. Als würde Kunst, die nicht dem Westen entstammt, nur in Relation zu diesem nachvollziehbar.

Im Grunde genommen ist es sogar ein unfairer Vergleich, denn die Popularität Umm Kulthums übertraf die der Opernsängerin mit weitem Abstand. Allein die Bandbreite der Fans über Generationen, Bildungs- oder sozialen Hintergrund hinweg macht einen solchen Vergleich unsinnig – ganz zu schweigen von der fortdauernden Wirkung ihrer Musik.

Die Arbeiten in deutscher Sprache, die sich mit Umm Kulthum auseinandersetzen, sind spärlich. Erwähnenswert ist nur die Ende der 1990er-Jahre veröffentlichte Studie von Stefanie Gsell.[2] Verwunderlich ist das jedoch nicht, wenn man bedenkt, dass die arabische Welt in Deutschland meistens nur im Rahmen von textorientierten islamwissenschaftlichen Studien wahrgenommen wird. Dabei würde ich sogar die Behauptung wagen, dass die Wirkung Umm Kulthums im Leben von Millionen Araber*innen nicht weniger stark ist als die des Korans.

Auch in Deutschland wird der Kult um Umm Kulthum durch die wachsenden Diasporagemeinschaften gepflegt. Selbst wenn der Panarabismus heute vollkommen ins Schwanken (Wanken oder fast schon Vergessenheit?) geraten ist, bleibt Umm Kulthum ein festes Identifikationsmerkmal für das Arabischsein. Weniger aus ideologischen Gründen, sondern mehr als Ausdruck einer Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat, die durch ihre Stimme anklingt.

Ich rieche Damaskus, wenn ich sie höre,“ sagte mir Abdullah, der vor drei Jahren aus Syrien flüchten musste. „Ich sehe plötzlich unser Zuhause vor mir ... mir läuft fast das Wasser im Mund zusammen, weil ich plötzlich an das Essen meiner Mutter denken muss,“ fügte er hinzu.

Für viele Araber in Berlin und überall in der Diaspora fungiert Umm Kulthum heute als das, was Jan Assmann eine Erinnerungsfigur nennt. Denn ihre Stimme objektiviert bestimmte Erinnerungen, fixiert die Vergangenheit und verknüpft sie mit dem Alltag.[3]

Selbst wenn Damaskus, Bagdad oder Kairo heute so fern vom Realitätshorizont ihrer ehemaligen Bewohner*innen liegen, selbst wenn die Heimat verschwindet und ihre vertrauten Züge in Ruinen liegen, hält ihre Stimme die Erinnerungen wach und macht das verlorene wieder greifbar. Durch sie wird ein anderer Sinn des Arabischseins kultiviert, der weniger mit nationalen Sentiments zu tun als mit einer gemeinsamen Erfahrung des Verlusts und der Sehnsucht.

Zurück zum Berliner Sommerabend. Die versammelten Mitsingenden waren ein syrisches Paar, eine Irakerin und ein Tunesier, wie wir beim Verabschieden samt Gute-Nacht-Wünschen festgestellt hatten. Zuvor hatten wir uns gegenseitig mit großer Begeisterung beklatscht. Auch dafür, dass wir es gemeinsam geschafft hatten, das relativ lange, in raffiniertem Hocharabisch geschriebene Lied bis zum Ende zu singen:

[...]

Da zeigte sich die Welt wie man sie kennt

Und von den liebenden ging jeder seines Wegs

Schlafloser, der du eingenickt

Du denkst an das Versprechen und erwachst

Und wenn die eine Wunde heilt

Kommt eine neue durch die Erinnerung dazu

So lerne doch, wie du vergessen kannst

Und lerne, wie du alles löschst

[...]

Nicht in unseren Händen liegt es,

dass wir elendig geschaffen wurden

Vielleicht wird unser Schicksal uns vereinen

Dereinst, wenn ganz undenkbar schon ein Treffen schien

Und wenn ein Freund den Freund verleugnet,

Wir wie Fremde uns begegnen

Und jedes seines Weges geht

Dann sage nicht: So wollten wir’s!

Das Schicksal war’s, das es gefügt.“[4]

 

[1] Vgl. auch Danielson, Virgina: The Voice of Egypt. Umm Kulthum, Arabic song and Egyptian Society in the twentieth century, Chicago 1997, S. 1-4.

[2] Gsell, Stefanie: Umm Kulthum, Persönlichkeit und Faszination der ägyptischen Sängerin, Berlin 1998.

[3] Vgl. Asmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in, Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt, 1988, S.12.

[4] Al-Aṭlāl (Die Ruinen) von Ibrāhīm Nāgy verfasst und von Umm Kulthum zum ersten Mal am 7. April 1966 gesunden. Übersetzung von Stefanie Gsell in, Das Herz liebt alles Schöne. Die Lieder der Umm Kulthum, Berlin, 2017.

Iskandar Abdalla, geboren in Alexandria, Ägypten, studierte Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilian-Universität München und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zurzeit promoviert er an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit dem Islam in Europa, aber...
Redigiert von Daniel Walter