18.08.2021
„Die Mehrdeutigkeit der Situation stellt ein großes Risiko dar“
Ende Juli suspendierte der tunesische Präsident Kais Saied das Parlament. Foto: European Union
Ende Juli suspendierte der tunesische Präsident Kais Saied das Parlament. Foto: European Union

Seit Ende Juli 2021 regiert der tunesische Präsident Kais Saied per Notstandsverordnung. Im Gespräch mit dis:orient ordnet Ahmed Bedoui von der tunesischen NGO IWatch die politische Situation im Land ein.

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Am 25. Juli 2021 suspendierte der tunesische Präsident Kais Saied das Parlament, hob die Immunität der Abgeordneten auf und entließ einen Großteil der Regierung. Präsident Saied berief sich dabei auf die Verfassung Tunesiens, die nach dem Sturz des langjährigen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali in den Jahren 2012 bis 2014 von einer gewählten verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet wurde.

Wir sprachen darüber mit Ahmed Bedoui. Er ist Rechtsreferent bei IWatch, der tunesischen Niederlassung von Transparency International. Dort engagiert er sich im Bereich Korruptionsbekämpfung und der politischen Transparenz.

Präsident Saied beruft sich bei der Auflösung des Parlaments auf Artikel 80 der tunesischen Verfassung. Dieser besagt, dass der Präsident „[i]m Falle einer unmittelbaren Gefahr für die Existenz des Vaterlandes und die Sicherheit oder die Unabhängigkeit des Staates […] alle Maßnahmen ergreifen [kann] , die die außergewöhnlichen Umstände erfordern“. Saied begründete diesen Schritt unter anderem mit der unfähigen Corona-Politik von Regierungsmitgliedern wie Premier Hichem Mechichi. Wie bewertet IWatch dieses Vorgehen?

IWATCH hat die Maßnahmen des Präsidenten mit Besorgnis und Wachsamkeit wahrgenommen. Das Prinzip der Gewaltenteilung steht durch die Entscheidung des Präsidenten auf dem Spiel. IWATCH ist der Ansicht, dass die Anwendung des Artikels 80 in diesem Fall nicht verfassungskonform ist, da es keine verfassungsrechtlichen Kontrollinstanzen, allen voran ein Verfassungsgericht, gibt, die den Einsatz des Notstandsartikels überwachen können. Der Präsident war tatsächlich einer der Beteiligten, die die nötigen Schritte zur Einrichtung eines Verfassungsgerichts herausgezögert haben.

Was die Entlassung des ehemaligen Premierministers Hichem Mechichi angeht, hatte IWatch dessen Rücktritt wiederholt gefordert. Mechichi war nicht in der Lage, die Gesundheits-, Finanz- und Sozialkrise in den Griff zu bekommen. Allerdings ist IWatch der Auffassung, dass die Begründung, die der Präsident für die Anwendung des Notstandsartikels angegeben hat, nicht eindeutig ist. IWatch hat den Präsidenten bereits in einem Brief dazu aufgerufen, seine Gründe für die Anwendung zu spezifizieren.

Wurde dieser bereits beantwortet?

Nein.

Laut einer Umfrage des Radiosenders MosaiqueFM finden 80,49 % der Tunesier:innen die Maßnahmen des Präsidenten richtig. Schon vor der Ankündigung vom 25. Juli gab es Proteste vor dem Parlamentsgebäude und Demonstrierende forderten den Rücktritt der Regierung sowie die Auflösung des Parlaments. Was läuft im politischen Apparat schief?

Die Situation vor dem Notstand war bereits sehr kritisch. Erstens war das Parlament fragmentiert. Das führte dazu, dass die für April angesetzte Wahl der verfassungshütenden Vertreter:innen nicht stattfinden und das Verfassungsgericht als vorrangige Kontrollinstanz der Einhaltung der Verfassung nicht eingerichtet werden konnte. Außerdem standen mehrere Abgeordnete unter Korruptionsverdacht und es gab auch einige, denen Interessenskonflikte vorgeworfen wurden. sbezüglich hat IWatch entsprechende Dossiers vorbereitet und die nötigen Schritte für eine strafrechtliche Verfolgung der betreffenden Personen unternommen.

Zweitens leidet die Judikative selbst unter dem „Virus“ der Korruption. Vor Kurzen wurde aber endlich ein strafrechtliches Disziplinarverfahren gegen die Richter Bechir Akermi und Taieb Rached eingeleitet. IWatch setzt sich bereits seit Langem für die Durchsetzung geltenden Rechts gegenüber aller Bürger:innen ein.

Drittens herrscht in der Exekutive seit diesem Jahr ein „kalter Krieg“ zwischen dem Präsidenten Kais Saied und dem Regierungschef Hichem Mechichi. Auslöser dafür war, dass der Präsident die von Mechichi angestrebte Kabinettsumbildung nicht bewilligt hat. An dieser Stelle muss noch die schwache Leistung der Regierung im Allgemeinen erwähnt werden.

Kais Saied hatte die Präsidentschaftswahlen 2019 mitunter gewonnen, weil er sich klar von den als korrupt geltenden politischen Parteien distanziert hatte und als unabhängiger Kandidat zur Wahl angetreten war. Seinen angekündigten Kampf gegen Korruption möchte Saeid nun nach eigenen Aussagen umsetzen. IWatch engagiert sich seit 2011 ebenfalls auf diesem Gebiet. Ist Saeid für Sie ein glaubwürdiger Partner im Kampf gegen Korruption?

Wir haben die Rede des Präsidenten vom 28. Juli, in der er ein entschiedenes Vorgehen gegen Korruption in der Politik in Aussicht stellte, verfolgt. Allerdings hat er bis heute keine tatsächlichen Bemühungen, die in Richtung Korruptionsbekämpfung deuten, unternommen. Deshalb hat IWatch im Rahmen ihrer Rolle als Watchdog-Organisation die Initiative ergriffen und am selben Tag einen Fahrplan zur Korruptionsbekämpfung veröffentlicht. Diese Roadmap beinhaltet Maßnahmen und Ideen zur effektiven Korruptionsbekämpfung. Diese muss ein kontinuierlicher Prozess frei von Machtmissbrauch und Interessenskonflikten sein.

Einen Tag nachdem Kais Saied den Notstand verhängt hatte, wurde das Büro vom Nachrichtensender Al Jazeera in Tunis von tunesischen Sicherheitskräften geschlossen. War das rechtens? Und was bedeutet das für die Meinungsfreiheit in Tunesien?

Die Sicherheitskräfte haben vom Dekret Nummer 50 vom 26. Januar 1978 Gebrauch gemacht. Dieses erlaubt ihnen im Falle eines Notstandes die Kontrolle der Presse und aller anderen Publikationen. Nichtsdestotrotz verstößt das Dekret gegen Artikel 21 der Verfassung, das den tunesischen Bürger:innen Rechte und Freiheiten garantiert. Dazu zählt auch die Meinungsfreiheit.

In den tunesischen Medien wurde in letzter Zeit viel Unmut bezüglich der internationalen Berichterstattung laut. Was denkt IWatch über den aktuellen internationalen medialen Diskurs über Tunesien?

Wir haben leider festgestellt, dass die internationale Berichterstattung über Tunesien oft wenig neutral ist. Internationale Medien sollten sich in Erinnerung rufen, dass Tunesien ein souveränes Land ist, das nur seinen Bürger:innen Rechenschaft schuldig ist.

Eine zentrale Frage, die sich nach den Entwicklungen der letzten Wochen stellt, ist, ob die tunesische Demokratie diese Krise überleben kann.

Zugegeben, die Mehrdeutigkeit der Situation nach dem 25. Juli 2021 stellt ein großes Risiko im demokratischen Transformationsprozess Tunesiens dar. Tatsächlich hat die Anwendung von Artikel 80 der Verfassung die Garantie der Gewaltenteilung und das Gleichgewicht zwischen den Gewalten außer Kraft gesetzt. Aus diesem Grund ist es wichtig, Klarheit über die politische Situation zu schaffen. Das hat IWatch mit dem vorher bereits erwähnten Brief an Kais Saied bezweckt.

Auf der einen Seite stellt die Anwendung des Notstandsartikels eine Herausforderung für demokratische politische Strukturen dar. Andererseits gab es auch vorher schon ernstzunehmende Probleme, wie die Wirtschaftskrise, Jugendarbeitslosigkeit und eben die Korruption. Wie kann ein nachhaltiger und demokratischer Ausweg aus der aktuellen Lage aussehen?

Wir brauchen Maßnahmen und Ideen zur effektiven Korruptionsbekämpfung, die in einem kontinuierlichen Prozess frei von Machtmissbrauch und Interessenskonflikten umgesetzt werden. Dazu gehören unter anderem die Entlassung von verbeamteten Personen, die in Korruptionsfälle involviert sind, und eine regelmäßige Wirtschaftsprüfung – auch bei Unternehmen der öffentlichen Hand. Außerdem müssen die Berichte der Kontrollbehörden öffentlich gemacht werden und deren Entscheidungen umgesetzt werden. Besonders wichtig ist auch die Vollstreckung von Gerichtsurteilen im Bereich Korruptionsbekämpfung.

 

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Magdalena Süß