07.04.2017
“Fatah und Hamas können einfach nicht zusammen arbeiten”
Indem Mahmoud Abbas all sein Gewicht auf den Friedensprozess gelegt habe, sei er nun gescheitert, so Sa'd Nimr. Urheber/in: European Union 2016 - European Parliament, Flickr: https://flic.kr/p/JCngwE CC BY-NC-ND 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/.
Indem Mahmoud Abbas all sein Gewicht auf den Friedensprozess gelegt habe, sei er nun gescheitert, so Sa'd Nimr. Urheber/in: European Union 2016 - European Parliament, Flickr: https://flic.kr/p/JCngwE CC BY-NC-ND 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/.

Sa’d Nimr, Dozent an der Birzeit Universität, gibt im Interview mit Alsharq einen Einblick in das palästinensische Politikgeschehen, dessen innere Spaltung und Beziehungen nach außen. Er fordert mehr Mut von allen Beteiligten.   

Sa’d Nimr ist Dozent der Soziologie und Politikwissenschaft im Palestine and Arabic Studies Programme der Universität Birzeit, welches sich an ausländische Studierende richtet.   

Alsharq: Herr Nimr, viele Menschen waren im Januar wie elektrifiziert, als sie die Schlagzeilen lasen, dass Fatah und Hamas eine Einheitsregierung bilden wollen. Zuerst: Warum ist dieses Thema nach wie vor so wichtig?

Sa’d Nimr: Die Palästinenser werden nicht vorwärts kommen, wenn Fatah und Hamas sich nicht versöhnen. Wenn wir ein Parlament oder einen Präsidenten wählen wollen, dann können wir das nicht nur in einem Teil Palästinas tun, wir brauchen eine Einigung zwischen Hamas im Gazastreifen und Fatah im Westjordanland. Beide müssen den Wahlen und ihren Bestimmungen zustimmen. Dafür ist eine Aussöhnung wichtig.

Die Trennung dauert nun schon beinahe zehn Jahre an – warum dauert es so lange?

Es gibt einige Kräfte, die versuchen, eine Einigung zu verhindern. Jede davon hat ihre eigenen Ideen über eine Aussöhnung. Die Hamas zum Beispiel gefällt sich in der Rolle, als einzige Macht den Gazastreifen zu regieren. Gleichzeitig aber schafft sie es nicht. Immer wenn die Beziehungen zu Ägypten gut sind und der Rafah-Übergang offen ist, dann fühlt sie sich stark und wendet sich von einer Aussöhnung ab. Aber sobald Gaza in Bedrängnis und Not gerät, will sie eine Einheitsregierung.

Und die Fatah?

Die Fatah möchte die Einheitsregierung, aber nach ihren eigenen Vorstellungen. Sie will die volle Kontrolle über den Gazastreifen haben. Alles soll so sein wie vor der Trennung – was weit von der Realität entfernt ist, wenn man bedenkt, dass die Hamas in Gaza eine starke Organisation mit einem starken Militär hat. Mahmud Abbas hat eine schlechte Position inne, vor allem da Netanjahus Regierung sich überhaupt nicht mit dem Friedensprozess beschäftigt. Abbas hat all sein Gewicht auf den Friedensprozess gelegt und nun ist er gescheitert, vor allem mit dem Oslo-Abkommen. Abbas möchte die Aussöhnung insbesondere weil er glaubt, das gebe ihm mehr Macht auf internationaler Ebene, vor allem vor den Vereinten Nationen. Denn dann könnte er behaupten, dass alle Palästinenser seine Legitimität anerkennen.

Worum geht es denn genau bei all diesen Treffen?

Ein Problem ist zum Beispiel die Frage der Angestellten im Staatsdienst. Die Hamas beschäftigt im Gazastreifen etwa 40.000 Polizisten und andere Beamte. Die Fatah möchte diese Angestellten nicht anerkennen, da sie die Angestelltenzahl der PA (Palestinian Authority) auf über 200.000 heben würden, was die PA nicht stemmen kann. Auf dem technischen Level ist dies einer der größten Streitpunkte. Aber derlei Unstimmigkeiten können normalerweise gelöst werden. Das wirkliche Problem ist jedoch: Wir haben zwei Organisationen und die können nicht zusammen arbeiten.

Es ist nicht der erste Versuch einer Versöhnung, sondern der vierte oder fünfte. Es gab einen Anlauf im Jahr 2011, einen weiteren 2014 und davor eine Reihe weiterer. Was erwarten Sie? Wie hoch stehen die Chancen dieses Mal?

Ich glaube, dass es auch dieses Mal nicht zum Durchbruch kommen wird. Die Menschen haben manchmal hohe Erwartungen aufgrund der Ankündigungen von Fatah und Hamas, die sagen: „Wir haben alle Probleme gelöst, wir sind ganz nah‘ dran“. Aber eigentlich bedarf es keiner weiteren Verhandlungen mehr. Wie Sie schon gesagt haben, gab es Abkommen seit 2011 und auch davor, egal ob sie in Kairo gemacht wurden, in Sharm el Sheikh oder in Qatar. Sie haben sich bereits auf alles geeinigt. Nun ist es eine rein politische Entscheidung, ob man eine Partnerschaft will oder nicht.

Warum ist das so schwer?

Weil es einen weiteren Schritt notwendig macht: die Umgestaltung der PLO (Palestinian Liberation Organisation). Und dieser Schritt ist entscheidend. Die Hamas verlangt Wahlen auf der Ebene des PNC (Palestinian National Council, das oberste legislative Organ der PLO (Anm.d.R.)), der bisher vollkommen von der Fatah kontrolliert wird. Da die wählbaren Mitglieder für das PNC auch von außerhalb des Westjordanlands und dem Gazastreifen kommen können – also aus Syrien, dem Libanon oder Jordanien –, steigert das die Chancen der Hamas. Fatah befürchtet, dass Hamas den PNC und damit auch die PLO kontrollieren könnte, welche mindestens seit 1967 unter der Kontrolle der Fatah steht. Die Fatah möchte jedoch um keinen Preis ihre Stellung in der PLO aufgeben, da Israel die PLO anerkennt, nicht den palästinensischen Staat oder irgendeine andere palästinensische Institution. Die PLO ist es, die das Recht hat, mit Israel zu verhandeln.

Ist die Angst der Fatah denn berechtigt, dass Palästinenser außerhalb der palästinensischen Gebiete eher die Hamas unterstützen würden?

Über die Jahre hat sich ein Verständnis etabliert, dass die Strategie der Fatah zur Lösung des Problems Verhandlungen sind. Sie wollte keine weiteren Kämpfe und keinen Widerstand gegen die Besatzung. Doch viele Palästinenser sind verzweifelt, nicht nur im Westjordanland und in Gaza, sondern auch außerhalb der palästinensischen Gebiete. Sie haben das Gefühl, dass sich seit Beginn der Verhandlungen für das Oslo-Abkommen ihre Hoffnungen in Luft aufgelöst haben. Niemand spricht mehr über die palästinensischen Flüchtlinge im Ausland, niemand löst ihre Probleme. Sie denken: Wir müssen wieder anfangen zu kämpfen. Deshalb unterstützen sie die Hamas. Dieses Problem kann weder Abbas noch die Fatah verstehen. Die Leute haben kein Problem mit ihnen, sondern mit ihrer Strategie.

Sie haben zuvor gesagt, dass Sie nicht an den Erfolg dieses Abkommens glauben. Warum?

Weil sie wieder über technische Fragen diskutieren und – wie bereits gesagt – auf alles Technische hat man sich bereits geeinigt. Sie werden sich auch beim nächsten Mal wieder treffen, sich all das anschauen, worauf sie sich bereits geeinigt haben und sagen: Wir sind so nah dran! Aber die technischen Fragen sind nebensächlich, das wirklich Wichtige sind die politischen Entscheidungen. Es braucht den Mut, eine solche Entscheidung zu treffen!

Aber hat nicht die Amtseinführung Trumps zu den Gesprächen geführt? Der Druck muss doch für beide Seiten steigen mit dem Wechsel von Obama zu Trump?

Keine Frage, aber das Problem ist, dass ich bisher noch keine ernsthaften Bemühungen auf beiden Seiten sehe, die Partei-Interessen beiseite zu lassen und über ernsthafte Probleme zu sprechen. Und es gibt viele ernsthafte Probleme, wie zum Beispiel der Bau von Siedlungen im vergangenen Jahr, der enorm gesteigert wurde im Vergleich zu anderen Jahren. Oder die Zerstörung von Häusern, die Verhaftung von Palästinensern… Alles eskaliert auf alarmierende Weise und doch scheinen weder Hamas noch Fatah sich zusammen nehmen zu können und zu sagen: Wir schieben unsere Probleme bei Seite, wir müssen uns dem gemeinsam stellen. Und ich glaube auch nicht, dass die Wahl von Trump den Druck um ein vielfaches steigern wird. Die Leute haben schon jetzt genug aufgrund der ganzen Probleme.

Gibt es denn keine politische Alternative zu diesen beiden Parteien?

Es gab ein paar Bewegungen hier und da, aber sie waren nicht wirklich effektiv. Andere kleinere palästinensische Parteien haben versucht, die Lücke zu füllen, angefangen beim Islamischen Jihad bis hin zur Popular Democratic Front und andere. Ich glaube, wir müssen die Menschen mobilisieren, damit sie auf die Straßen gehen – wirklich auf die Straßen. Dass sie riesige Demonstrationen veranstalten, um unseren Politiker zu sagen: genug ist genug. Das Problem ist jedoch, dass die Mentalität hier im Nahen Osten so ist, dass die Menschen sich entweder der Hamas oder Fatah zugehörig fühlen. Sie verteidigen ihre Parteien ohne darüber nachzudenken, was richtig und was falsch ist.

Und doch sollen im Mai Kommunalwahlen abgehalten werden. Was erwarten Sie davon? Werden sie überhaupt stattfinden?

Nun, es sind lokale Wahlen. Die werden niemals so wichtig sein wie nationale Wahlen. Natürlich strengen sich beide Parteien an, Stimmen zu gewinnen, aber die meisten Menschen wählen auf persönlicher Ebene. Aufgrund ihrer eigenen sozialen Zugehörigkeit oder der ihrer Familie. Das ist besonders in den Dörfern der Fall: Da geht es um Familie gegen Familie und politische Überzeugungen spielen kaum eine Rolle. Deshalb messe ich diesen Wahlen keine besonders große Bedeutung zu. Egal ob sie stattfinden oder nicht, das hat keinen Einfluss auf die Aussöhnung und die Beendigung aller wichtigen Probleme.

Der Fatah läuft jedoch die Zeit davon. Abbas wird älter und hat bisher keinen Nachfolger genannt. Die Fatah läuft Gefahr, auf der Führungsebene ein Vakuum zu haben. Vom Parteikongress im vergangenen November ist auch gesagt worden, er sei nicht so glatt gelaufen. Wo sehen Sie die Fatah zur Zeit? Kann der innere Konflikt der Fatah nicht auch noch weiter den Druck auf die Gesamtsituation erhöhen?

Der letzte Kongress war recht erfolgreich aus der Sicht von Abbas, weil er alles so umgestalten konnte, wie er es wollte. Er ist stärker daraus hervor gekommen – aber in welchem Maß? Sollte er tatsächlich plötzlich nicht mehr da sein, dann gehe ich davon aus, dass die Fatah Schwierigkeiten hat. Doch die Chancen von Marwan Barghouti stehen hoch in der Fatah. Sie wissen, dass er der einzige ist, der die Unterstützung der Palästinenser erhalten kann – insbesondere wenn es Wahlen gegen die Hamas sind. Das zeigen auch die Umfragen in den vergangenen Jahren. Doch Marwan ist im Gefängnis und wird von Israel als Terrorist bezeichnet. Abbas schiebt die Entscheidung bis zum letzten Moment auf. Oder vielleicht denkt er auch, dass – sollte ihm etwas passieren – sich die Partei ohne Frage für Marwan Barghouti entscheiden wird. Das ist der einzige Weg, wie die Fatah mehr Respekt unter den Palästinensern bekommen kann. Andernfalls – ja, wäre die Situation festgefahren.

Und wird Marwan Barghouti kandidieren?

Da ich Marwan persönlich kenne, kann ich sagen, dass er auf jeden Fall bei Präsidentschaftswahlen kandidieren würde. Wörtlich sagte er: „Egal wann, wenn Mahmud Abbas den Job nicht will, dann werde ich mich aufstellen.“ Er wird nicht gegen Abbas kandidieren.

Wie kann er vom Gefängnis aus kandidieren?

Er hat es schon 2005 getan bei den Präsidentschaftswahlen. Wir veranstalteten eine Kampagne für ihn. Doch dann trat er zurück aufgrund des Drucks, der aus den arabischen und europäischen Ländern kam, von innen, von überall. Doch das ist eine rein technische Frage. Jeder weiß, dass er der kommende Führer und Retter ist, der die Fatah zurück in ihre glorreiche Zeit bringt. Sie wissen, dass diese Zeit vorbei ist, aber sie wagen nicht, dies vor Abbas zu sagen.

Stellen wir uns einen Moment lang vor, dass die Einheitsregierung und all das funktionierte. Was bedeutete das für den Umgang mit der Situation, mit Israel, mit der Besatzung, mit all dem, was passiert?

Das Erste, was getan werden muss, ist, die Teilung zwischen Gaza und der Westjordanland zu beenden. Und wenn wir noch immer von der Zwei-Staaten-Lösung sprechen und von derselben alten palästinensischen Politik, dann müssen wir zumindest den Widerstand verstärken. Vielleicht noch nach wie vor als populärer Widerstand, aber auf eine andere Art, eine lebendigere Art. Wirklich große Demonstrationen vor den Siedlungen und überall. Das hätte eine große Wirkung. Ich für meinen Teil glaube, dass sich die Zwei-Staaten-Lösung in eine Zwei-Staaten-Illusion gewandelt hat und wir uns auf einen Staat zubewegen. Das einzige, was Abbas und die PA davon abhält, dies zuzugeben, ist die Legitimität, die sie von der internationalen Gemeinschaft bekommen. Wenn sie sagen, wir glauben nicht an eine Zwei-Staaten-Lösung, dann braucht es keinen Abbas mehr und wir können die PA dicht machen. Das Problem ist, solange die PA nicht darüber sprechen will, spricht auch niemand über Alternativen.

Gibt es etwas, das die internationale Gemeinschaft tun könnte, um der inner-palästinensischen Spaltung entgegen zu wirken? Wenn man zum Beispiel sagte: Wir sprechen nicht mehr über eine Zwei-Staaten-Lösung – wäre das dann nicht das Ende für Abbas und ein Schritt in Richtung Einigung von Fatah und Hamas?

Das Wichtigste ist, dass die internationale Gemeinschaft anerkennt, dass Israel eine Kolonialmacht ist und Menschen verdrängt hat. Wenn Israel nicht genauso behandelt wird, wie Südafrika behandelt wurde in der Zeit der Apartheid, dann werden wir nirgendwo hinkommen. Ich will nicht, dass François Hollande eine Konferenz organisiert, auf der 70 Staaten genau das sagen, was schon all die Zeit gesagt wurde. Ich will nichts von Tony Blairs Lösungsvorschlägen hören. Wir, als internationale Gemeinschaft, müssen uns an die Menschenrechts-Standards halten, an die wir glauben. Wenn wir nicht davon überzeugt sind, dann werden wir nichts erreichen. Die Gewalt wird fortgesetzt und das Problem verschoben, bis Israel das gesamte Westjordanland annektiert hat. Und dann wird es unvermeidlich sein, dass wir ein Staat sind.

Und nochmals die Frage: Was kann die internationale Gemeinschaft bezüglich der Hamas-Fatah-Teilung tun?

Man muss es thematisieren und Fatah und Hamas unter Druck setzen, egal auf welche Art, sodass sie das Problem beenden. Doch am Ende des Tages bleibt doch die Frage: Wofür sollen sie sich vereinigen? Die Menschen draußen sagen: Wir müssen die Palästinenser unterstützen. Doch gleichzeitig dürfen sie nicht sagen: Wir müssen uns gegen Israel stellen. Das ist genau das Problem, das wir mit der internationalen Gemeinschaft haben. Hört auf mit diesen falschen Versprechen, dass ihr die Palästinenser unterstützt! 

Vielen Dank für das Gespräch!

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...
Übersetzt von Laura Overmeyer