20.11.2012
Gemeinsam für mehr Rechte: Minderheiten im Irak

Interview mit Nahla Arif, Beraterin der „Allianz der Irakischen Minderheiten“

 

Im Irak leben seit Jahrhunderten zahlreiche ethnische und religiöse Gemeinschaften Seite an Seite. Vier Gemeinschaften – die Christen, Jesiden, Mandäer und Schabak – werden in der irakischen Verfassung von 2005 als Minderheiten anerkannt. Der Status soll bestimmte politische, wirtschaftliche und soziale Partikularrechte garantieren. Um sich gemeinsam für diese Rechte einzusetzen, gründeten führende Aktivistinnen und Aktivisten 2010 die „Allianz der Irakischen Minderheiten“ (AIM).
Alsharq sprach mit Nahla Arif, die die AIM seit einigen Jahren berät, über die Situation der Minderheiten im Irak.

 

Was hat sich für die Minderheiten im Irak seit dem Regimewechsel 2003 verändert?
Während Saddam Husseins Herrschaft versuchte das Regime, die Identitäten der Minderheiten zugunsten einer arabisch-baathistischen „Volksideologie“ zurückzudrängen. Gleichzeitig war der Staat säkular geprägt und es gab für die Minderheiten Aufstiegsmöglichkeiten in Politik und Wirtschaft. Der ehemalige Außenminister Tariq Aziz, ein Chaldäer, war das beste Beispiel.
Im Gegensatz zur jüngsten Vergangenheit waren die Minderheiten unter Saddam – anders etwa als die Kurden – nicht Opfer direkter Verfolgung. Nach 2003 waren dagegen insbesondere die Minderheiten von Vertreibungen und Anschlägen betroffen. Das galt für Christen, die von Extremisten als Verbündete der Amerikaner verunglimpft wurden. Ihre Kirchen wurden zerstört und religiöse Würdenträger ermordet. Das galt auch für die Jesiden, um die sich zweifelhafte Mythen rangen und die von religiösen Fanatikern als Ungläubige bezeichnet und verfolgt wurden.

Während der konfessionellen Auseinandersetzungen 2006/07 sahen sich überproportional viele Angehörige der Minderheiten gezwungen, das Land zu verlassen. Zum Teil hat sich ihre Zahl mehr als halbiert.
Auf der institutionellen Ebene gab es einige positive Entwicklungen für die Minderheiten. Ihre Partikularrechte wurden in der Verfassung 2005 festgeschrieben. Darüber hinaus sind für sie mittlerweile einige Sitze im Parlament reserviert.

 

Inwiefern werden die Minderheiten trotz des konstitutionellen Schutzes weiterhin diskriminiert?
Die Minderheiten haben kein eigenes Personalstatut und werden auf Grundlage der Scharia behandelt. Wenn zum Beispiel ein Elternteil zum Islam konvertiert, werden die Kinder mit 18 Jahren automatisch als Muslime registriert, auch wenn sie beispielsweise christlich erzogen wurden. Dies löst häufig Identitätskrisen aus. Es ist ein positives Zeichen, dass sich gegen diese Praxis Initiativen aus der Zivilgesellschaft erheben und fordern, dass die Kinder mit 18 Jahren selbst entscheiden können, zu welcher Religion sie sich zugehörig fühlen.

Weiterhin sind die Minderheiten in wichtigen Gremien wie dem Wahlkomitee nicht vertreten. Das größte Problem sind jedoch die Mythen und Vorurteile, die gegen die Minderheiten gehegt werden. Christen, Jesiden oder Mandäer werden immer wieder als Götzendiener und Ungläubige beleidigt.

 

Hat die Gründung der AIM Positives für die Minderheiten bewirkt?
Mit Sicherheit. Es war eine große Herausforderung, sie zu einen und sie für die gemeinsamen Interessen zu sensibilisieren. Ein besonderes Anliegen der Allianz ist es, die angesprochenen Mythen über die Minderheiten zu überwinden. In diesem Zusammenhang setzen wir bei der Schulbildung an. Lange Zeit war in den Schulbüchern lediglich von „Arabern, Kurden, Turkmenen und anderen“ die Rede. Dank einer guten Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium ist es uns gelungen, dass die Minderheiten in den neuen Schulbüchern explizit genannt und als monotheistische Religionen bezeichnet werden. Neben Koranversen werden nun auch Bibelstellen und Auszüge aus den heiligen Schriften der Mandäer in Schulbüchern abgedruckt.
Darüber hinaus versuchen wir mit Hilfe der Medien über die Minderheiten zu informieren und Brücken zwischen den großen Gemeinschaften – Schiiten, Sunniten, Kurden und Turkmenen – und den Minderheiten zu bauen.

Nicht zuletzt ist es uns in der Niniveh-Ebene gelungen, wo sehr viele Angehörige der Minderheiten leben, eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Gelder durch die Einbeziehung aller Gemeinschaften zu erreichen.

 

Fürchten Sie trotz dieser positiven Entwicklungen eine Konfessionalisierung des Irak ähnlich wie im Libanon?
Das befürchte ich nicht. Die konfessionellen Auseinandersetzungen 2006/07 haben ohne Zweifel Narben hinterlassen. Viele gemischte Wohnviertel wurden gewaltsam homogenisiert und es herrscht großes Misstrauen, vor allem zwischen Sunniten und Schiiten. Auch der Lebensstyl der Konfessionen unterscheidet sich mehr und mehr.

Aber: Die irakische Gesellschaft ist weiterhin säkular eingestellt und Konfessionalismus ist nicht tief verwurzelt. Dies haben auch die Wahlen gezeigt. Während im Zuge der konfessionellen Eskalation beim vorletzten Urnengang religiöse Parteien dominierten, haben zuletzt nationalistisch-säkular geprägte Listen das Rennen gemacht.

 

Das Interview führte Christoph Dinkelaker.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...