07.04.2024
Vorwurf des Genozids in Gaza: Deutschland auf der Anklagebank
Schild mit der Aufschrift “Alemania es complice del Genocidio” (Deutschland ist mitschuldig am Genozid) auf einer pro-palästinesischen Demo am 2. März 2024 in Berlin. Foto: Nadine Essmat
Schild mit der Aufschrift “Alemania es complice del Genocidio” (Deutschland ist mitschuldig am Genozid) auf einer pro-palästinesischen Demo am 2. März 2024 in Berlin. Foto: Nadine Essmat

Seit sechs Monaten greift das israelische Militär Gaza an. Nun ist Deutschland wegen möglicher Teilnahme am Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verklagt. Welche Vorwürfe Nicaraguas ab dem 8. April in Den Haag verhandelt werden.

„Deutschland steht fest an der Seite Israels“, betonte Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Staatsbesuch in Israel im Oktober 2023, und an dieser Position hat die Bundesregierung festgehalten, obwohl schon in den ersten vier Monaten nach dem 7. Oktober 2023 mehr Kinder in Gaza gestorben waren als in allen weltweiten Konflikten der vergangenen vier Jahre zusammen. Selbst nachdem der Internationale Gerichtshof (IGH) in seiner vorläufigen Entscheidung am 26. Januar geurteilt hatte, dass die Gefahr eines Völkermordes plausibel sei, hat die deutsche Regierung alle Argumente als „haltlos" und „politische Instrumentalisierung“ abgetan und plant weiterhin, Israel als Drittpartei im Hauptverfahren zu unterstützen.

Am 1. März reichte Nicaragua Klage gegen Deutschland vor dem IGH ein, in der es Deutschland Teilnahme („complicity”) an einem Genozid vorwirft. Die Klage ist der Beginn einer Aufarbeitung von Deutschlands rechtlicher Mitverantwortung für Verbrechen in Gaza, die voraussichtlich Jahre dauern wird.

Genozid in Gaza? Rechtliche Hintergründe

Artikel I des Übereinkommens von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Genozid-Konvention) verpflichtet alle Vertragsstaaten, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen. Das Völkerrecht kennt fünf mögliche Varianten (genocidal acts): die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe; die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden; die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, die körperliche Zerstörung herbeizuführen; die Verhinderung von Geburten sowie die gewaltsame Überführung von Kindern einer Gruppe in eine andere. Diese Tathandlungen müssen in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören (genocidal intent). Dass ein Genozid in Gaza in allen fünf Varianten „jedenfalls plausibel” ist, hat der IGH in seiner vorläufigen Entscheidung rechtsverbindlich festgestellt.

Dies deckt sich mit der Einschätzung zahlreicher Expert:innen, darunter des ehemaligen Direktors des UN-Menschenrechtsbüros in New York, Craig Mokhiber. Bereits am 28. Oktober 2023 bezeichnete Mokhiber das Vorgehen Israels in Gaza als „Lehrbuchfall eines Völkermordes“. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, erklärte sogar: Die Blockade des Gazastreifens an sich ist bereits ein Völkermord. Der am 24. März veröffentlichte UN-Expert:innenbericht kam zu demselben Schluss.

Deutschland als potenzieller Mittäter vor dem IGH

Schon angesichts der Gefahr eines Genozids sind Staaten im Sinne der „Responsibility to Protect” (Deutsch: Schutzverantwortung) verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen und alle Handlungen zu unterlassen, die einen Völkermord erleichtern oder unterstützen könnten. Die Vertragsstaaten dürfen nicht abwarten oder sich der Möglichkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verschließen. Allein die Plausibilität eines Völkermords löst diese Pflicht zu Präventivmaßnahmen aus.

In seiner Klage wirft Nicaragua Deutschland vor, insbesondere durch die Lieferung von Waffen an Israel sowie die Streichung der Hilfsgelder an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gegen die Genozid-Konvention zu verstoßen.

Genehmigung deutscher Waffenlieferungen an Israel

Laut Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) war Deutschland im Jahr 2023 der zweitgrößte Lieferant „wichtiger konventioneller Waffen“ an Israel und für 47 Prozent der israelischen Einfuhren verantwortlich. Gemeinsam mit den USA ist Deutschland für über 99 Prozent der an Israel gelieferten Waffen verantwortlich. Im Vergleich zum Vorjahr haben sich die Rüstungsexportgenehmigungen 2023 fast verzehnfacht. Allein in den ersten sechs Wochen dieses Jahres genehmigte die Bundesregierung Rüstungsexporte nach Israel im Wert von rund neun Millionen Euro.

Die Lieferung von Waffen gehört völkerrechtlich zu den Handlungen, die einen Genozid erleichtern oder unterstützen. Darauf wurde die deutsche Regierung auch hingewiesen. Am 12. Februar forderte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel: „Wenn man der Meinung ist, dass zu viele Menschen getötet werden, sollte man vielleicht weniger Waffen liefern." Am 24. Februar warnten UN-Expert:innen, dass Waffenlieferungen an Israel wahrscheinlich einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen. 

Schon bei Anzeichen der Gefahr eines Genozids, in jedem Fall aber mit der vorläufigen Entscheidung des IGH, hätte Deutschland unverzüglich alle Waffenlieferungen an Israel stoppen müssen, um seinen Verpflichtungen aus der Genozid-Konvention gerecht zu werden. Stattdessen stimmte es noch am 5. April gegen eine vom UN-Menschenrechtsrat verabschiedete Resolution, in der ein Stopp von Waffenlieferungen an Israel gefordert wird.

Streichung von UNRWA-Mitteln

Nicaragua rügt in seiner Klage auch die Aussetzung von Mitteln an die UNRWA. Einen Tag, nachdem der IGH Israel verpflichtete, sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Bereitstellung humanitärer Hilfe für die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu gewährleisten, stellten neun Staaten — darunter Deutschland — die Zahlung von Geldern an die UNRWA ein. Anlass für die Aussetzung war nach Angaben der Bundesregierung Israels Behauptung, zwölf Mitarbeitende der UNRWA seien am Hamas-Angriff vom 7. Oktober beteiligt gewesen.

Die UNRWA ist die größte humanitäre Organisation in Gaza mit über 13.000 Mitarbeitenden, auf deren Hilfen mehr als zwei Millionen Menschen angewiesen sind; Deutschland war ihr zweitgrößter Mittelgeber. In Reaktion auf die Vorwürfe entließ die UNRWA mit sofortiger Wirkung die betroffenen Mitarbeitenden und die UN beauftragte eine interne sowie eine unabhängige Expert:innengruppe mit Ermittlungen zu den Vorfällen. Unter anderem Australien und Kanada sowie die EU-Kommission haben ihre Zahlungen inzwischen wieder aufgenommen.

Die UN-Sonderberichterstatterin zu Menschenrechtssituation in den seit 1967 besetzten Palästinensischen Gebieten, Francesca Albanese, kritisierte die Aussetzung bereits am 27. Januar als kollektive Bestrafung der palästinensischen Zivilbevölkerung und Verletzung von Verpflichtungen nach der Genozid-Konvention. Der EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Janez Lenarcic, sagte Journalist:innen im März, Israel habe bislang keine Beweise für diese Behauptungen vorgelegt und selbst wenn sich Vorwürfe gegen einzelne Mitarbeitende erhärten würden, mache dies nicht die UNRWA zum Täter. Die UNRWA warf dem israelischen Militär darüber hinaus vor, inhaftierte UNRWA-Mitarbeitende unter Folter zu falschen Geständnissen genötigt zu haben.

Strafrechtliche Konsequenzen für deutsche Entscheidungsträger:innen

Artikel IV der Genozid-Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten, „Personen, die Völkermord (...) begehen, zu bestrafen, gleichviel ob sie regierende Personen, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind.” Die deutsche Unterstützung Israels bedeutet also nicht nur eine mögliche Verantwortlichkeit des deutschen Staates vor dem IGH, sondern kann auch strafrechtliche Konsequenzen für Entscheidungsträger:innen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) sowie vor deutschen Gerichten nach sich ziehen.

Am 23. Februar erstattete eine Gruppe deutscher Anwält:innen beim Generalbundesanwalt Strafanzeige wegen Beihilfe zum Völkermord gegen hochrangige Mitglieder des Bundessicherheitsrats, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne), Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) sowie  Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Auch hier geht es um persönlich zu verantwortende Genehmigungen von Waffenexporten sowie die Streichung von UNRWA-Mitteln. Die Rechtsanwältin Nadija Samour, die zu den Anzeigensteller:innen zählt, machte deutlich: Wenn der Generalbundesanwalt die Ermittlungen einstelle, müsse er erklären, warum das vorläufige Urteil des höchsten Gerichts des internationalen Rechts nicht ausreiche, um ein Verfahren zu eröffnen. Ob auch eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof erfolgt, bleibt abzuwarten. 

Die Grenzen der deutschen Realitätsverweigerung

Während international über Deutschlands rechtliche Mitverantwortung diskutiert wird, verschließen sich die deutsche Bundesregierung und ihre nachgeordneten Behörden dem mit einer Ignoranz, die an Realitätsverweigerung grenzt. Anders ist es nicht zu erklären, dass etwa die Polizei NRW in Infoflyern behauptet, die Verwendung des Begriffs „Genozid” im Kontext der Handlungen Israels bzw. der Israelischen Streitkräfte stelle eine nach § 130 StGB strafbare Volksverhetzung dar.

Dass sich Teile der deutschen Öffentlichkeit einer sachlichen Debatte verweigern, wird die internationalen Entwicklungen aber nicht aufhalten. Bereits vor dem Urteil des IGH unterstützten mehr als 60 Länder den Fall Südafrikas auf unterschiedliche Arten.

Am 13. Januar veröffentlichte der im Februar 2024 verstorbene Präsident Namibias Hage Geingob eine Presseerklärung, in der er „Deutschlands Unterstützung für die völkermörderischen Absichten des rassistischen israelischen Staates" kritisierte und tiefe Besorgnis über „Deutschlands Unfähigkeit, Lehren aus seiner schrecklichen Geschichte zu ziehen“ äußerte. Damit spielte er auf den ersten Völkermord an, den der deutsche Staat im 20. Jahrhundert in Namibia beging und mehr als ein Jahrhundert lang leugnete

Das Verursachen mehrerer Genozide in einem Jahrhundert sollte dem deutschen Staat eine Lehre sein, Vorwürfe nicht leichtfertig abzutun und die Klage vor dem IGH wegen Teilnahme an einem Völkermord ernst zu nehmen.

 

 

 

 

 

Nadine Essmat ist Juristin und hat einen Master of Laws (LLM) im humanitären Völkerrecht und internationalen Menschenrechtsschutz. Sie war viele Jahre in der Geflüchtetenarbeit tätig und arbeitet in Netzwerken, die Betroffene von rassistischer Polizeigewalt unterstützen.
Yolanda Scheytt ist Juristin und hat einen Master of Laws (LLM) im Völkerstrafrecht. Sie arbeitet in Netzwerken, die Betroffene von rassistischer Polizeigewalt unterstützen.
Redigiert von Jana Treffler, Hanna Fecht