18.04.2022
Grenzen im Kopf – Wie wir unsere Solidaritäten (ab-)schaffen
Denkmal an die Berliner Mauer. Foto: Pauline Jäckels
Denkmal an die Berliner Mauer. Foto: Pauline Jäckels

Mauern, Stacheldraht, Meere – Grenzen sind vielfältig, bestimmen Nationen und Schicksale. Grenzen manifestieren sich aber auch in unseren Köpfen im Form von Bezugsrahmen und bestimmen so unsere Solidaritäten. Können wir mit jeder Person gleichermaßen solidarisch sein?

Dieser Text ist Teil unserer Reihe „grenz:gedanken“. Unsere Autor:innen denken nach, über Grenzen, Machtverhältnisse und Möglichkeiten, Widerstand zu leisten. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch.

Jeder Mensch trägt einen Bestand an Wissen, Wahrnehmungen und Wahrheiten in sich, der nicht willkürlich entsteht. Dieser Fundus ist unser gedanklicher Bezugsrahmen und ist stark geprägt durch unseren geografischen Standort. Aber auch weniger greifbare Elemente wie Klassenzugehörigkeit, Religion, Nationalität, Bildung, Geschlechtsidentität oder die eigene Mobilität spielen hier eine Rolle. Nicht zuletzt bestimmt der eigene Bezugsrahmen unsere Solidarität: Er entscheidet mit wem wir solidarisch denken und handeln.

Die Reaktionen auf Putins ausufernden Angriffskrieg in der Ukraine werfen einmal mehr ein widersprüchliches Licht auf das Solidaritätsregime der liberalen Linken in Deutschland und Europa. Etablierte Medien und Politiker:innen sprachen parteiübergreifend vom „Beginn einer neuen Zeitenwende“, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Aktivist:innen wie Sinthujan Varatharajah, Emran Faroz oder Sham Jaff hingegen, wiesen schon bald darauf hin, dass Krieg – insbesondere von Russland geführter Krieg – seit Jahrzehnten ein schmerzhafter Teil nicht-westlicher Zeitlinien ist. Dies betrifft Irak, Afghanistan, Syrien ebenso wie viele andere Orte. Varatharajah schreibt: „Sorry to break it to you, I woke up in the same era, the same Europe, the same global order“.

Hier stellt sich die Frage: Was braucht es, damit Bezugsrahmen über geografische Grenzen hinweg entstehen können, beziehungsweise, welche Hürden verhindern dies? Wie übersetzen sich Bezugsrahmen in Solidarität? Und wie können wir nachhaltiger und aufrichtiger solidarisch sein?

Gedankliche Grenzüberschreitung: Eine Frage der Mobilität

Berlin ist ein wichtiger Knotenpunkt diasporischer Aktivität aus WANA. Dabei ist und war die Stadt vielleicht schon immer ein Ort, der endlose Fäden verknüpft: Von den Ursprungsorten der Diaspora hin zu den vielen Zwischenstationen auf dem Weg nach Deutschland. In den lebendigen Bars und Cafés von Berlin-Kreuzberg hört man Diskussionen zu den jüngsten Ereignissen im Westjordanland, der libanesischen Wirtschaftskrise, den Entwicklungen in den kurdischen Gebieten oder feministischen Bewegungen in Istanbul. Dabei spielt augenscheinlich das Beherrschen von Sprache, zum Beispiel Arabisch oder Türkisch, eine entscheidende Rolle, Grenzen zu ziehen und Fenster zu einem Gespräch oder einem gemeinsamen Bezugsrahmen zu öffnen.

Wenn ich mit meinen Freund:innen zusammensitze, die in den letzten Jahren aus Syrien nach Berlin gekommen sind, gibt es eine Vielzahl von gemeinsamem Wissen und gemeinsamen Erfahrungen, von denen unsere Gespräche unweigerlich ausgehen und gelenkt werden. Das kann dieses eine Liebeslied sein, das wir alle kennen und mit mindestens einer verflossenen Liebe verbinden. Es sind aber auch Erinnerungen an die Orte, an denen wir waren: Istanbul, Prag, Beirut, Leipzig.

Die Gründe, warum meine Freund:innen einen Bezug zu diesen Orten haben, unterscheiden sich jedoch oftmals stark von meinem eigenen. Die meisten Menschen, die sich von Syrien auf den Weg nach Berlin machten, taten dies unter enormem äußerem Druck. Sie waren in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt auf die spezifischen Migrationsrouten der jeweiligen Grenzregime. Ich dagegen hatte diese Orte aus freien Stücken besucht: Aufgrund meines persönlichen Interesses, das unbestreitbar von „orientalistischer Neugier geprägt war.

Nach Berlin zu kommen und eine internationale Hochschule zu besuchen, ermöglichte mir zunächst die nötigen Grenzöffnungen in meinem Kopf und führte dann dazu, als Inhaberin eines deutschen Passes problemlos auch physische, nationale Grenzen zu überqueren. Damit bin ich nicht allein. Viele junge, weiße Deutsche in Berlin entwickeln ein persönliches und politisches Interesse für Orte jenseits ihrer nationalen Grenzen. Dieses Interesse spiegelt nicht selten das Bedürfnis nach Identifikation, politischer Zugehörigkeit und tief verankertem Orientalismus. Ob bewusst oder unbewusst, die Anliegen, Kämpfe und Identitäten anderer, meist marginalisierter Gruppen, dienen als Projektionsfläche für die eigene Sehnsucht, Teil von etwas zu sein.

Wie bei physischen Grenzen kann also auch die Fähigkeit, kulturelle und politische Grenzen zu überschreiten und den inneren Bezugsrahmen zu erweitern, mit Ungleichheiten in Bezug auf Nationalität, Klasse, Bildung et cetera verbunden sein. Umgekehrt ermöglichen es Privilegien wie die Zugehörigkeit zu dominanten gesellschaftlichen Gruppen die Grenzen des eigenen, bekannten Bezugsrahmens nicht überschreiten zu müssen. Für eine Person, die von strukturellen Ungerechtigkeiten, seien sie politischer, ökologischer, wirtschaftlicher und/oder sozialer Art, relativ unberührt bleibt, ist es oft einfacher, wegzuschauen oder Ungerechtigkeiten gar nicht erst wahrzunehmen.

Instabile Solidaritäten

Weil deutsche und europäische Bezugsrahmen oftmals nicht über die Grenzen (West-)Europas hinausgehen, können weiße Diskurse über globale Konflikte leicht eindimensional werden. Wem und wo wir unsere Aufmerksamkeit schenken, spiegelt sich unmittelbar darin wider, wem und wo bestimmte Formen der Solidarität gewährt oder verweigert werden. Wer in der Lage ist, Solidarität zu geben oder zu empfangen, hängt von bestehenden Machtstrukturen ab.

Das vielleicht aussagekräftigste Beispiel für selektive Solidarität, die sich an Grenzmauern und von der Polizei bewachten Drahtzäunen materialisiert, ist die plötzliche Öffnung der polnischen Grenze für Geflüchtete, die einen ukrainischen Pass besitzen. Gleichzeitig werden Menschen, die aus WANA fliehen – oft aus Kriegsgebieten mit russischer Beteiligung – gewaltsam zurückgedrängt und ohne jegliche Hilfe zurückgelassen. Dass an der Grenze die Hautfarbe und/oder das Europäisch-Sein als Kriterium dafür gilt, steht in direktem Zusammenhang mit der Selektivität, die sich in der Aufmerksamkeit der Europäer:innen gegenüber verschiedenen Krisengebieten ausdrückt.

Sinthujan Varatharajah weist darauf hin, dass selbst in weißen eurozentrischen Diskursen, die sich über Europa hinaus erstrecken, zum Beispiel nach Palästina, Syrien oder in den Sudan, die Aufmerksamkeit entlang rassifizierter Hierarchien funktioniert. Varatharajah beobachtet, dass weiße Deutsche sich gerne mit Orten und Ursachen solidarisieren, die sie als Projektionen für ihre Identitätsbehauptung als Aktivist:innen nutzen können. Kämpfe, die hingegen keine mediale Aufmerksamkeit erhalten, werden völlig ignoriert. In diesem Sinne sind auch die Medien mit globalen Machtsystemen verbunden. Themen wie zum Beispiel der Kampf der Tamilen für Gerechtigkeit nach dem durch den Sri-Lankischen Staat ausgeübten Genozid gehen dabei unter.

Wenn Aktivist:innen aus außereuropäischen Krisenkontexten auf diese Widersprüche hinweisen, darf ihre Kritik nicht als „Whataboutism“ abgetan werden. Die Zusammenhänge zwischen Macht, Bezugsrahmen und Solidarität zu verstehen und zu berücksichtigen, ist in einer zunehmend globalisierten Welt dringend notwendig. Journalistin Sham Jaff kommentiert die Diskussion um die Ungleichbehandlung von ukrainischen (Nicht-)Passinhaber:innen mit den Worten: „Alles hängt zusammen. Dass die einen vom Rassismus profitieren und die anderen nicht, macht die Situation nicht erträglicher. Sie wird erst dann ‚erträglich‘, wenn wir anfangen, uns für alle Menschen in Not einzusetzen.“

Connecting the Dots: Solidarität im größeren Kontext verstehen

Die jüngste Offenlegung der selektiven Solidaritäten in Europa wirft die Frage auf: Können wir mit allen Kämpfen, mit allen Opfern der Krise gleichermaßen solidarisch sein – können wir alle gedanklichen Grenzen einreißen, alle Orte in unseren eigenen Bezugsrahmen einbeziehen? Die Antwort lautet natürlich nein. Aber ich möchte zwei Ansätze vorschlagen, worauf wir achten und wie wir uns mit anderen solidarisieren können.

Zunächst müssen wir uns fragen: Welche Grenzen bestimmen meinen Bezugsrahmen und welche Rolle spielen dabei, unter anderem, meine Nationalität, Klasse, Hautfarbe oder ethnischer Hintergrund? Wie wird das, worauf ich achte, durch politische Entscheidungen, Profitstreben oder die Medien beeinflusst? Das Bewusstsein darüber allein wird zwar nicht ändern, was wir sehen und hören oder wofür wir uns interessieren, aber das Sichtbarmachen dieser inneren Grenzen kann uns befähigen, sie bewusst zu überschreiten.

Der zweite Schritt besteht darin, immer wieder die Punkte zwischen den verschiedenen Anliegen, mit denen wir uns solidarisch erklären, zu verbinden. So können wir über das Ziehen einzelner Fäden in einem komplexen Netzwerks hinausgehen und die globalen Ungerechtigkeiten an der Wurzel packen.

 

 

 

Pauline Jäckels macht aktuell ihren Master in Global Diplomacy an der SOAS Universität in London. Ihren Bachelor absolvierte sie in Economics, Politics, and Social Thought am Bard College Berlin. Das Allermeiste hat sie aber von den Menschen gelernt, die ihr seitdem in Berlin, Istanbul, Beirut oder ihrem Herkunftsort Saarbrücken begegnet sind.
Redigiert von Clara Taxis, Bruna Rohling, Dominik Winkler