Alice Cherki schrieb ein Porträt ihres Freundes Frantz Fanon. Mit dis:orient spricht die 89-Jährige über den Zweiten Weltkrieg in Algerien, den Antisemitismus französischer Siedler:innen und plädiert für einen neuen Universalismus.
Sie sind als Jüdin während des Zweiten Weltkriegs in Algerien aufgewachsen. Algerien war noch Teil Frankreichs und wurde von 1940 bis 1942 vom Vichy-Regime kontrolliert, also einem Regime, das mit den Nazis kollaborierte. Wie haben Sie und Ihre Familie diese Periode erlebt?
Ich war damals drei oder vier Jahre alt. Erst später wurde mir klar, dass mich diese persönliche Erfahrung sehr prägte und mir die Augen für die Welt um mich herum und für den Rassismus öffnete. Mein Bruder und ich wurden von der Schule verwiesen, und meinem Vater drohte der Verlust seines Arbeitsplatzes. Als ich vier Jahre alt war, sagte meine Lehrerin zu mir, dass ich nach den Ferien nicht mehr zur Schule kommen solle. Ich verstand nicht, warum. Ich habe damals meinen gesamten Mut zusammengenommen und fragte: „Warum, Frau Lehrerin?“ Sie antwortete: „Weil du Jüdin bist.“ Ich wusste nicht, was das bedeutete. Wir begingen zwar die großen Feiertage und mein Vater begleitete von Zeit zu Zeit seinen eigenen Vater in die Synagoge, aber meine Eltern waren nicht sehr gläubig und politisch linksgerichtet. Ich sagte: „Was ist das, Jüdin?“ Und sie antwortete: „Menschen wie du, mit großen Augen, großem Mund und großen Ohren“. Ich wunderte mich, woher sie meine Ohren kannte, denn meine Mutter frisierte mich immer wie einen Jungen, sodass meine Ohren bedeckt waren. Und als ich meiner Mutter an diesem Tag erzählte, was geschehen war, wusste sie nicht mehr weiter. Sie konnte das einem 4-jährigen Kind nicht erklären, zumindest war das damals nicht üblich. Das war also meine erste Erfahrung mit Antisemitismus. Wir hatten große Angst, denn die Deutschen waren in Tunesien, um die tunesischen Juden zu deportieren.
Den algerischen Jüd:innen wurde in dieser Zeit die französische Staatsbürgerschaft abgesprochen, über die die meisten von ihnen seit 1870 verfügten (Crémieux-Dekret).
Ich erinnere mich, dass ich da bereits in Paris war. Eines Tages fragte ich meine Mutter, warum es zur Geburt meines kleinen Bruders keine Feier gab. Sie erklärte mir, dass man uns im Rathaus als Franzosen und als einheimische Juden herausgestrichen hatte. Wir wussten nicht, was aus uns werden würde. Als wir wurden, was wir wurden, hatten wir einfach keine Lust zu feiern.
Welche Rolle spielten jüdische Menschen während der Unabhängigkeitsbewegung in Algerien?
Entgegen der gängigen Erzählung gab es viele engagierte junge Jüd:innen, wie Moïse Daniel Timsit und andere, die sich auf der Seite der FLN (Nationale Befreiungsfront) engagiert haben. Einige landeten in den Lagern [Arbeitslager des Vichy-Regimes, in denen v. a. Oppositionelle der Kolonialherrschaft interniert wurden, Anm. d. Autor:innen], wenn sie nicht schon lange im Gefängnis saßen. Es gab viele, sowohl in Oran als auch in Algier und Constantine. Dies sind Stimmen, die vergessen werden. Von den Europäer:innen in Algerien waren die meisten antisemitisch, abgesehen von einigen Intellektuellen oder Professor:innen aus Frankreich, wie zum Beispiel André Mandouze.
Wie hat sich jüdisches Leben nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zuge des Unabhängigkeitskrieges in Algerien verändert?
Nun, die meisten Jüd:innen aus Algerien, selbst diejenigen, die bleiben wollten, wurden gezwungen, das Land zu verlassen. Einerseits durch Drohungen der OAS [Organisation de l’armée secrète, Terrororganisation, weitestgehend aus französischen Siedler:innen und Militärs, die für den Verbleib Algeriens als Kolonie plädierten, Anm. d. Autor:innen] die gewaltsam und bewaffnet in die Häuser der Menschen eindrang und sie aufforderte zu gehen, wie die Familie des bekannten Historikers Benjamin Stora. Man ging oder man wurde erschossen. Andererseits flohen viele im Chaos der Unabhängigkeit [Algerien erlangte die Unabhängigkeit 1962 nach acht Jahren Krieg, Anm. d. Autor:innen], wie zum Beispiel mein Vater. Er wollte in Algerien bleiben, um sich um den Export von Getreide zu kümmern. Als die Drohungen der OAS zu groß wurden, zogen meine Eltern nach Paris. Meine Mutter kehrte zur Befreiung Algeriens im Juli zurück, um zu wählen. Mein Vater glaubte, er könne wieder in Algerien leben, aber es herrschte totales Chaos. Ein damaliger Vertrauter, rückblickend ein Gauner, trat damals an ihn heran und sagte: „Dein Platz ist nicht mehr hier, ich werde dein Geschäft übernehmen.“ Mein Vater war davon sehr verletzt und ging. Es sind nur sehr wenige Jüd:innen geblieben.
Heute sind Sie Psychoanalytikerin und Autorin. Ihr Buch „Frantz Fanon: ein Portrait“ wurde bereits im Jahr 2000 in Deutschland veröffentlicht, pünktlich zum 100. Geburtstag ist eine deutsche Neuausgabe im Nautilus Verlag erschienen. Was bedeutet es Ihnen, dass das Buch in Deutschland gelesen wird?
Damals erschien das Buch in sehr schlechter Übersetzung. Jetzt ist das Buch mit einer guten Übersetzung und einem schönen Vorwort erschienen. In der Zwischenzeit habe ich eine Menge anderer Bücher geschrieben, aber Frantz Fanons Themen scheinen die aktuelle Welt wieder zu interessieren, insbesondere junge Menschen. Das freut mich sehr. Ich finde es gut, dass Bücher von und über Frantz Fanon in Deutschland gelesen werden. Frantz Fanon meldete sich während des Zweiten Weltkriegs selbst im Alter von 17 Jahren zum Kampf gegen die Deutschen. Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als ich mit meiner Familie im Keller hockte und abwartete: Marschieren die Deutschen ein oder die Alliierten? Wären die Deutschen einmarschiert, gäbe es meine gesamte Familie nicht mehr. Doch ich wusste, dass der deutsche Faschismus nicht auf die gesamte deutsche Bevölkerung zutraf. Nach dem Krieg bin ich sogar mit einem Stipendium für Studierende aus Algerien in die DDR gegangen.
Wann haben sie sich entschieden, ein Portrait über Frantz Fanon zu schreiben?
Nun, ich hatte es ein wenig satt, dass Fanon vergessen wurde. Außerdem gab es viele Phänomene innerhalb der französischen Gesellschaft, wie den Aufstieg von Jean-Marie Le Pen und Formen des Vergessens, sowohl in Frankreich als auch in Algerien, die mich dazu ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben. Dazu gehörten auch die Lebensbedingungen von Menschen mit Migrationsgeschichte aus Nordafrika in Frankreich, die unter dem Vorwand, Slums zu beseitigen, in Vorstadtviertel abgeschoben wurden. Dies fand ich ein wenig unanständig, wenn Sie so wollen. Als mir zu dieser Zeit ein Buch über französische Autor:innen in die Hände fiel, fehlte darin ein Eintrag über Frantz Fanon, Jean-Paul Sartre fehlte natürlich nicht. Selbst Schüler:innen, die die Frantz-Fanon-Oberschule in Algerien besuchten, wussten nicht, wer Frantz Fanon war. Einer meinte sogar: „Ist das nicht ein Oberst aus der französischen Armee?“ Da habe ich mir gesagt: Es reicht.
Warum beschäftigen Sie sich mit den Ideen von Frantz Fanon in der heutigen Zeit?
Ich denke, es gibt zwei zentrale Punkte. Erstens, dass wir uns in einer Welt des völligen Rückschritts in Bezug auf das menschliche Schicksal befinden. Das macht mir Angst. Ich bin Mutter und Großmutter und ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder, über den Aufstieg von Marine Le Pen in Frankreich und ähnliche Entwicklungen andernorts. Zweitens befürchtete ich, dass einige Menschen Fanons Ideen für ihre identitätspolitischen Zwecke nutzen würden. Das betrachte ich als Verrat an Fanon und seinen Gedanken zum Leben [Cherki verweist in ihrem Portrait darauf, dass Fanon den Rückzug auf Traditionen ablehnt, und viel mehr Kulturen als Bezugspunkte auf der Suche nach neuen universellen Werten ansieht, Anm. d. Autor:innen].Was ich der nächsten Generation vermitteln möchte, ist etwas, das ich mit Fanon teile: die Schaffung eines neuen Universalismus. Das Streben nach dem Universellen bewahrt uns vor der identitären Abschottung. Und ich denke, dass viele der jungen Generation dafür empfänglich sind.






















