28.11.2013
Im Krieg gibt es keine Wahrheiten – nur unterschiedliche Versionen
Azaz, Syrien, nach Bombenangriffen. Foto: Focus on Syria
Azaz, Syrien, nach Bombenangriffen. Foto: Focus on Syria

Gegenseitige Schuldzuweisungen durch Regime und Opposition sind üblich geworden im Konflikt in Syrien. Doch wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Der folgende Text argumentiert, dass alles vielleicht einfach unterschiedliche Facetten der Wahrheit sind. Den Beweis erbringt ein Selbstversuch... Ein Text von F. D. für unseren Partner Focus on Syria.

Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges. Oder besser gesagt: im Krieg gibt es keine Wahrheit. Im Krieg findet man nur verschiedene Versionen der Wahrheit.

Um den 20. Oktober 2013 herum begannen drei bewaffnete Oppositionsgruppen eine Offensive gegen Sadad und Mehin, zwei kleine Städte im Süden des Landkreises Homs. Der Angriff auf Sadad, einer von Christen bewohnten Stadt die auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, sollte wohl lediglich als Ablenkung dienen. Das eigentliche Ziel war die Übernahme eines großen Waffenlagers des Regimes bei Mehin.

Das Regime hat die Stadt bombardiert

Ich bitte also einen syrischen Oppositionsaktivisten, mir zu erklären, was passiert ist: „Die Kämpfer der Freien Syrischen Armee und Jabhat al-Nusra konnten Sadad ohne nennenswerte Probleme einnehmen. Sie haben weder Gewalt noch Zerstörung angerichtet, aber einige der BewohnerInnen haben Angst bekommen und sind in Richtung Homs geflohen. Das Regime antwortete mit einem brutalen Gegenangriff durch den es die Kontrolle über die Stadt wiedererlangen wollte: die Bombenangriffe waren fürchterlich und viele Häuser wurden dem Erdboden gleich gemacht. Die OppositionskämpferInnen gaben ihr Bestes, um sowohl den verletzten KämpferInnen als auch den verletzten ZivilistInnen medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Aber innerhalb weniger Tage wurden Duzende von ihnen getötet und mehr als 150 waren verletzt. Die Verluste waren einfach zu groß, deswegen entschieden sie sich zum Rückzug.“

„Die Oppositionellen sind Kriminelle!”

Ein anderer Syrer, ein Christ mit einer eher neutralen Haltung, erzählt mir eine andere Geschichte: „Ich gehörte zu den ersten, die es zurück nach Sadad geschafft haben, nachdem die reguläre Armee die Kontrolle wiedergewonnen hat. Viele Häuser waren von den Rebellen geplündert worden. Ich habe Zeichen von Vandalismus in vier verschiedenen Kirchen gesehen. Das sind Kriminelle!“

Ein weiterer Aktivist ergänzt ein interessantes Detail: Während der Offensive gab es Berichten zufolge einige Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe der Freien Syrischen Armee und Jabhat al-Nusra: Erstere verlangte wohl, dass ZivilistInnen respektiert und geschützt würden, wohingegen die Islamisten zur unmittelbaren Exekution aller bewaffneten, männlichen Erwachsenen gedrängt haben sollen. Ein dritter Aktivist räumt ein, dass die Oppositionskämpfer dutzende ZivilistInnen getötet haben könnten. Auf Einzelheiten geht er jedoch nicht ein.

Was ist mit dem Waffenlager?

Ende Oktober habe ich einen Entwicklungshelfer, der Kontakt zu unterschiedlichen Oppositionsgruppen unterhält, nach dem Waffenlager gefragt. Er erklärte: „Sie haben es bereits eingenommen und nun bringen sie die Waffen weg.“ Ich habe eine Stunde damit zugebracht, auf den vielen Facebook-Seiten der Opposition danach zu suchen, aber ich konnte dafür keine Bestätigung  finden. Zwei Tage später hatte sich die Version geändert: „Sie kämpfen immer noch, aber sie haben das Lager umzingelt und werden es bald einnehmen.“ Einer der Aktivisten erklärte mir, dass es in Wirklichkeit etwa 40 einzelne Lager in Mehin gäbe. Ob er dies wirklich wusste oder lediglich annahm war jedoch nicht klar. Er meinte, die Oppositionskämpfer hätten bereits sieben oder acht davon eingenommen und ein Weiteres würde wahrscheinlich bald in ihre Hände fallen.

Nach zwei weiteren Tagenwaren sich alle meine Quellen plötzlich einig: Die Opposition habe die Lager übernommen. „Sie bringen alle Waffen in die Gebiete um Qalamoun“, sagte der Entwicklungshelfer in zuversichtlichem Ton. „Wir erwarten in dieser Gegend eine Reihe von Vergeltungsschlägen und Bombenangriffen durch das Regime“. Einer der Aktivisten erzählte eine interessantere Version: „Am Ende haben die KämpferInnen sich dazu entschieden, die Waffen nicht wegzubringen. Die Lager befinden sich in Bunkern unter der Erde, die gegen Luftangriffe geschützt sind. Das Regime kann sie nicht treffen. Zurzeit ist es das Beste, sie dort zu lassen.“

Wer lügt und wer sagt die Wahrheit?

In all diesem Chaos ist es unmöglich zu wissen, wie die Dinge wirklich liefen. Wer lügt und wer sagt die Wahrheit? Eine Freundin gab mir dazu diese Antwort: „Vielleicht sagen alle die Wahrheit, haben dir aber immer nur einen Teil erzählt“.

Wahrscheinlich hat sie Recht. Und vielleicht muss man all diese verschiedenen Meinungen und Sichtweisen hören um eine vage Vorstellung davon zu bekommen was in Syrien wirklich passiert...

Dieser Bericht stammt von F.D. vom 19. November 2013 und wurde  bei unserem Partner Focus on Syria veröffentlicht. Ansar Jasim und Natalia Gorzawski haben ihn aus dem englischen Original übersetzt. Ebenfalls auf Alsharq sind von Focus on Syria erschienen: Zwei Millionen Flüchtlinge – die andere Seite des Syrien-Konflikts;  Syriens Kinder – eine bestohlene Generation; Ein syrischer Brief: Aleppo, die vergessene Stadt; Flüchtlinge im Libanon: Ein idealistischer Syrer und sein Kampf mit der Wirklichkeit; Aufstand in Syrien: Träume eines jungen Kämpfers.

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