11.10.2013
Internationales Recht, Un-Recht und die Besatzung Palästinas, Teil 3

In den zwei ersten Teilen dieses Artikels zu internationalem Recht und Un-Recht der Besatzung Palästinas haben wir beschrieben, wie Recht in Israel umgangen und in den palästinensischen Gebieten aufgeteilt wird. In diesem letzten Teil schildern wir, wie Recht auf internationaler Ebene geltend gemacht werden könnte – und warum das trotz des anhaltenden Unrechts nicht passiert.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie zu 20 Jahren Oslo-Abkommen. Alle Texte finden Sie hier.

Internationale Ebene: Unrecht alimentieren

Die Gültigkeit internationalen Rechts ist auf zwei Ebenen zu bemessen. Die erste ist die formelle, die definiert, was rechtlich erlaubt und verboten ist. Die zweite ist die der Auslegung, in der die Bedeutung internationalen Rechts in dessen Anwendung oder Missachtung begründet ist. Die anhaltende israelische Besatzung Palästinas offenbart daher die große Diskrepanz zwischen diesen beiden Ebenen. Denn obwohl es formell klare Rechtsprovisionen gegen die Besatzung gibt, wird sie seit Jahrzehnten umgesetzt. So ist internationales Recht bedeutungslos und zugleich unabdingbar. Um Recht im Kontext der israelischen Besatzung anzuwenden, erfordert das allerdings politische Auseinandersetzungen.

Das bedeutet, internationales Recht im Angesicht der asymmetrischen Verhältnisse „on the ground“ so auszurichten, dass es die Schwachen stärkt während es die Starken zumindest soweit einschränkt, dass sie ihre Stärke nicht ungestraft willkürlich nutzen können. Dabei muss es vor allem darum gehen, Recht an Verantwortung und Unrecht an Haftung zu binden. Denn ohne diesen positiven Ausgleich wird Recht im Alltag der Besatzung immer weiter hierarchisch untergraben und dessen Gültigkeit in Privilegien aufgeteilt.[1]

Rechtliche Mittel allein reichen allerdings nicht, um internationalem Recht zur Geltung zu verhelfen, denn das wäre zirkulär. Ein globales Vollzugsorgan oder eine internationale Polizei gibt es schließlich nicht, der Vereinten Nationen zum Trotz. Weil Recht aus politischen Interessen und Kalkulationen oft unterschiedlich bemessen wird, muss daher für dessen Verhandlung ein praktischer Maßstab geschaffen werden, der die gerechte Anwendung von Recht auch auf nationaler Ebene ermöglicht. Gibt es solche Maßstäbe und Instanzen nicht, bleibt internationales Recht inhaltslos. Daher ist die Rechtssprechung in Israel oft parteiisch und in den besetzten Gebieten selektiv.

Das gibt, wie der Verlauf der offiziellen Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern zeigt, Anlass zu Maximalforderungen. Indem eine Gruppe dann für sich das Recht verlangt, das sie Anderen zunächst abspricht, wird Recht häufig nach halbgaren Kalkulationen aufgeteilt. Die humanitäre Notsituation für die palästinensische Bevölkerung bleibt so bestehen, weil fundamentale Rechte nicht eingehalten und umgesetzt werden, sondern Un-Recht verwaltet wird, ohne dass sich an der Situation etwas ändern würde.

Verbrechen ohne Verantwortung

Doch wie lassen sich diese Maßstäbe und Instanzen etablieren, während die verfügbaren Rechtstexte Unrecht zwar identifizieren, aber die Autoritäten fehlen, um es zu bestrafen und somit Recht einzufordern und umzusetzen? Solange diese Autorität fehlt, bleibt die Diskrepanz zwischen restriktiven Rechtstexten und deren anhaltender Verletzung bestehen.

Das offenbart sich in dem kollektiven Leid großer Teile der palästinensischen Bevölkerung, das seit Jahrzehnten andauert. Ein besonders eklatanter Indikator dafür ist beispielsweise, dass durch das israelische Militär in den vergangenen 13 Jahren über 1500 palästinensische Kinderdurch gezielte Aktionen oder als sogenannte Kollateralschäden umgekommen sind. Seit 2000 entspricht das einem toten Kind alle drei Tage entspricht – ohne, dass dazu irgendwer zur Verantwortung gezogen wurde.

Das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs führt zudem aus, dass „die Deportation oder der zwangsweise Transfer der Bevölkerung“ ein Kriegsverbrechen darstellt und die systematische Umsetzung dessen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. Doch bereits im Zuge der Staatsgründung Israels sind 1948 rund 700,000 Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben worden oder geflohen. Während die israelische Regierung von „Einzelnen“ spricht, die „freiwillig“ gegangen seien, wird die Anzahl palästinensischer Flüchtlinge mittlerweile auf 5,5 Millionen Menschen geschätzt.

Auch die extensive und nicht militärisch relevante Zerstörung ziviler Gebäude ist ein Kriegsverbrechen. Doch allein 2012 wurden in den C-Gebieten 514 palästinensische Gebäude zerstört, darunter 165 Wohneinheiten und 20 Container, um Regenwasser aufzufangen. 825 Menschen, die Hälfte davon Kinder, haben dadurch ihr Heim verloren. 3,000 Hauszerstörungen stehen noch aus, worunter auch 18 Schulen sind. Seit 1967 wurden in den besetzten Gebieten um die 24,000 Häuser zerstört, 2,000 allein in Ostjerusalem. Dort sind ein Drittel der verbleibenden Häuser von der Zerstörung bedroht, weil die israelische Stadtverwaltung den Bewohnern in 95 Prozent aller Fälle nicht die notwendigen Baugenehmigungen ausstellt. Bis zu 90,000 der insgesamt 290,000 Palästinenser Jerusalems sind von dieser Gefahr betroffen.

Hinzu kommt, dass mittlerweile rund 45 Prozent des Westjordanlands im Rahmen von israelischen Siedlungen, Militär- und Sperranlagen ausgewiesen und verwaltet werden, obwohl es dem Besatzer verboten ist, sich öffentliches Land als Treuhänder einzuverleiben. Stattdessen bleibt Palästinensern in den C-Gebieten offiziell nur noch ein Prozent ihres Landes, das für deren Entwicklungsprojekte vorgesehen ist, während es in Ostjerusalem nur rund 13 Prozent sind, die allerdings meist schon bebaut sind.

Es gibt noch unzählige weitere Fälle, die belegen, dass Israel Tag für Tag ungestraft die Rechte der palästinensischen Bevölkerung verletzt. Aber wie viel muss noch passieren, damit sich etwas ändert? Schließlich muss die Besatzung ein Ende haben, weil sie unvereinbar ist mit Menschenrechten und es niemals sein wird. Doch als Besatzer wird Israel die Besatzung wahrscheinlich nicht beenden, so lange es nicht die Verantwortung für die Folgen übernehmen muss. Dafür ist die Besatzung zu profitabel und opportun. Was also bleibt Palästinensern und denen, die sie dabei unterstützt wollen, um Recht zu schaffen?

Internationale Gerichtsbarkeit – Straffreiheit für die Starken

Palästina wurde im November vergangenen Jahres vor den Vereinten Nationen als Staat anerkannt. Diese Entscheidung ist nach den Prinzipien internationalen Rechts fragwürdig und im Angesicht der alltäglichen Praxis der anhaltenden Besatzung größtenteils bedeutungslos. Doch die Regierung des Staates Palästina, wie es jetzt offiziell heißt, kann nun immerhin selbst aktiv werden, um Verantwortung für die Besatzung zu erwirken. Den Internationalen Gerichtshof (ICJ), das Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, kann Palästina dabei jedoch nicht anrufen, weil der ICJ Streitfälle zwischen Staaten verhandelt, die im Konsensprinzip beschlossen werden müssen und Israel genug Unterstützung hat, einen übereinstimmenden Beschluss abzuwenden .

Palästinenser können sich jedoch an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wenden, um einzelne Mitglieder der israelischen Regierung oder des Militärs anzuklagen. Die Gerichtsbarkeit des ICC gilt nämlich gerade für die Fälle, in denen Staaten selbst nicht dazu in der Lage oder unwillens sind, schwerwiegende Strafbestände wie Verbrechen an der Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggressionsakte zu verfolgen.[2] Auch kann die palästinensische Regierung einen Vorschlag bei den Vereinten Nationen einreichen, um ein Kriminaltribunal zu Israel einzuberufen und strafrechtliche Verfolgung zu initiieren. Dafür muss Palästina allerdings erst das Rom-Statut unterzeichnen, das Gründungsdokument des ICC.[3]

Das ist jedoch bisher noch nicht geschehen, weil die israelische Regierung angedroht hat, im Falle der Unterzeichnung die Gelder einzubehalten, die sie für die palästinensische Regierung an Zöllen einzieht. Auch die US-Regierung erwägt Sanktionen, weil „einseitige“ Schritte der Palästinenser den „Friedensprozess“ behinderten; auf die (einseitige) israelische Ankündigung, 2,129 weitere Siedlungseinheiten zu bauen, sollten sie dagegen nicht „feindlich“ reagieren, um die Verhandlungen nicht zu gefährden. So ist der Druck auf die palästinensische Regierung bisher ausreichend, dass auch weiterhin niemand zur Rechenschaft gezogen wird. Da so um Recht gefeilscht und Gerechtigkeit zur Verhandlungssache wird, werden wesentliche Grundsätze verletzt, die für Rechtssicherheit, Gleichheit vor dem Gesetz und die Unabhängigkeit der Justiz unerlässlich sind. Indem nämlich diejenigen straffrei bleiben, die einflussreiche Freunde haben, wird Willkür befördert.

Recht einfordern, weil Unrecht andauert

Das alles ist nicht neu; die Situation und die Umstände sind hinlänglich dokumentiert. Anstatt daran aber etwas zu ändern, wird die Situation vielmehr finanziell gefördert. Die US-amerikanische Regierung zum Beispiel ist zugleich der wichtigste Unterstützer Israels und USAID einer der größten Financiers palästinensischer „Entwicklungsprojekte“. Auch die Vereinten Nationen sind zum unwirtlichen Komplizen der Besatzung geworden. Sie übernehmen humanitäre Hilfsleistungen, die eigentlich die Verpflichtung des Besatzers wären. Das trägt dazu bei, die Situation zu perpetuieren, ohne dass die israelische Expansionspolitik unterbunden werden kann.

Weil diese Umstände mittlerweile bekannt sind, erscheinen sie vielleicht profan; über Recht und Unrecht zu urteilen ist schwierig, weil es komplex ist. Das kann auch Teil der Strategie sein, Verantwortung zu verwässern. Doch wenn die Empfindung abstumpft, weil die Ereignisse vermeintlich gewöhnlich und immer „nur“ ein kleines bisschen schlimmer sind als zuvor, dann ist mit dieser Reaktion Vorschub geleistet für die Abwicklung von Un-Recht. Das ist sehr gefährlich, weil die alltägliche Gewalt und Diskriminierung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung dann zur Normalität wird – eine „Normalität“, die nur dann in Frage gestellt wird, wenn die Gefahr Israel trifft.

Daher ermahnt gerade die Erfahrung des andauernden Unrechts, Recht ohne Nachlass einzufordern und umzusetzen. Dafür müssen die exklusiven politischen Privilegien in Angriff genommen werden, die Ignoranz vor dem Recht und dem Schicksal derer kultivieren, die diese Privilegien nicht genießen. Das erfordert die Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit, die über die universelle Relevanz internationalen Rechts informiert, um durch gesellschaftlichen Druck dessen lokale Geltung zu erwirken. Während Palästina Israel schon so gut wie einverleibt ist, geht es dabei vielleicht nicht (mehr) um einen eigenständigen palästinensischen Staat, sondern um gleiche zivile, politische, ökonomische und kulturelle Rechte in einem gerechtem Staat.


Fußnoten:

[1] Mondoweiss veröffentlicht regelmäßig eine Übersicht zu Rechtsverletztungen im Rahmen der israelischen Besatzung. Die UN-OCHA verfasst zudem einen wöchentlichen Bericht zur Situation palästinensischer Zivilisten. Auch das palästinensische Zentrum für Menschenrechte fasst wöchentlich Menschenrechtsverletzungen durch das israelische Besatzungsregime zusammen.

[2] Diese Verfolgung wäre eventuell auch rückwirkend möglich (bis 2002, dem Gründungsjahr des ICC), wodurch der Bau der israelischen Sperranlage seit 2002 sowie die israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen 2008 und 2012 zu Strafbeständen werden könnten. Weil diese Untersuchung aber für die gesamten besetzten Gebieten gelten würde, wäre es dadurch auch möglich, palästinensische Milizen aus dem Gaza-Streifen für den Raketenbeschuss Israels anzuklagen.

[3] Theoretisch könnte der ICC auch ohne Unterzeichnung in den palästinensischen Gebieten ermitteln. Das müsste der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschließen. Dazu wird es aber wahrscheinlich aufgrund des Vetos der US-Regierung nicht kommen, was kennzeichnend ist für die machtpolitische Konstellation, in der Un-Recht auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung straffrei bleibt.

 

 

 

Johannes kam 2011 zu Alsharq und freut sich sehr, dass daraus mittlerweile dis:orient geworden ist. Politische Bildungsarbeit zur WANA-Region, die postkoloniale Perspektiven in den Vordergrund rückt und diskutiert, gibt es im deutschsprachigen Raum nämlich noch viel zu wenig. Zur gemeinsamen Dis:orientierung beschäftigt sich Johannes daher vor...