22.11.2018
„Jede Form von Kunst ist Widerstand gegen die Tötungsmaschinerie“ – Ein Interview mit dem syrischen Filmemacher Saeed Al-Batal
Saeed Al-Batal in Duma. Credit: Bidayyat for Audiovisual Arts.
Saeed Al-Batal in Duma. Credit: Bidayyat for Audiovisual Arts.

Die Dokumentation „Still Recording“ (2018) erzählt über eine Zeitspanne von vier Jahren vom täglichen Überlebenskampf im syrischen Ost-Ghouta. Alsharq und die Rosa-Luxemburg-Stiftung sprachen mit einem der Regisseure, Saeed Al-Batal, über Kunst in Zeiten des Widerstandes und warum die Situation in Syrien uns alle angeht. Von Anna-Theresa Bachmann

Dieser Text ist Teil des Dossiers zur Konferenz "Connecting Resistances. Emancipatory Activism in West Asia, North Africa, and Germany" die Alsharq e.V. in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 28.09. bis 01.10.2018 in Berlin abgehalten hat. Alle Texte des Dossiers finden Sie hier.
Saeed, um deine Familie in Syrien zu schützen verwendest du das Pseudonym „Al-Batal“ – der Held – anstelle deines richtigen Nachnamens. Inwieweit hat dich das vierjährige Filmen in den Kriegswirren Ost-Ghoutas selbst zu einem Helden gemacht?

Saeed Al-Batal war der Name meines Onkels mütterlicherseits, der sich an der palästinensischen Revolution in den 1960er Jahren beteiligte und in der Mitte der 70er Jahre erschossen wurde. Als ich 2011 anfingt Artikel zu schreiben, habe ich seinen Namen übernommen. Allerdings halte ich nichts von der Heroisierung einzelner Personen. Ich glaube an die kollektive, heldenhafte Tat…

…wie sie etwa der zivile Protest gegen den syrischen Präsidenten Bashar Al-Assad im Jahr 2011 darstellte?

Die Menschen waren mutig. Ich würde es jedoch nicht als heldenhaft bezeichnen, wenn man sich für Menschenrechte einsetzt. Vielmehr zeigt ein solchen Aufbegehren, dass man noch am Leben ist. Ich verstehe, wenn Menschen Angst haben und sich vor dem Regime fürchten. Die syrischen Machthaber haben die Öffentlichkeit für Jahrzehnte mundtot gemacht. Dann kam der „Arabische Frühling“ und hat diese Angst in ihr Gegenteil verkehrt: Die Bevölkerung sollte sich nicht vor ihrer Regierung fürchten. Es ist die Regierung, die vor ihrer Bevölkerung Angst haben sollte.

In einer Szene des Films wirst du von einem ausländischen Reporter interviewt. Du sagst ihm, dass du keine Waffen mit dir herumträgst, sondern nur eine Kamera. Sie sei selbst eine Art Waffe. Wie meinst du das?

Ich bin davon überzeugt, dass die erste Waffe des „Arabischen Frühlings“ die Kamera war. Sie kam nicht nur gegen das syrische Regime zum Einsatz, sondern auch gegen andere Diktatoren. Das Regime hat die Medien und seine Bevölkerung für fast 40 Jahre kontrolliert. Deswegen hat al-Assad gezielt Jagd auf Menschen mit Kameras gemacht, noch ehe er sich die Protestierenden selbst vornahm. Wenn du mit einer Kamera erwischt wurdest, dann konntest du dich auf harte Folter gefasst machen, härter als die der anderen Gefangenen.

Du wurdest selbst für 20 Tage inhaftiert, nachdem du an der ersten Demonstration in Duma im März 2011 teilnahmst und die Ereignisse gefilmt hattest. Offensichtlich hat dich die Haft nicht vom Weitermachen abgehalten. Hat sich deine Arbeitsweise durch die Gefangenschaft trotzdem in irgendeiner Weise verändert?

Im Zeitraum von 2011 bis 2012 haben sich die Menschen. Alle hatten Angst, jemand könne für das Regime und den Geheimdienst arbeiten. Die Haft kam mir zugute, weil mir die Menschen danach mehr Vertrauen geschenkt haben, besonders die Revolutionäre. Somit konnte ich ab April 2011 mit den Jugendlichen in Duma arbeiten und Demonstrationen mit ihnen organisieren. Diese filmten wir und verbreiteten das Material dann im Internet. Ich habe nicht aufgehört zu Filmen bis ich Syrien im August 2015 verlassen habe.

Hast du dich manchmal gefragt, ob du dem Ganzen gewachsen bist? Zum Beispiel als das Regime 2012 ein Massaker an der Zivilbevölkerung Dumas verübte, wie in der Dokumentation zu sehen ist?

Durch das Massaker habe ich die Kamera das erste Mal als Schutzschild betrachtet, das mich von den schrecklichen Bildern vor meinen Augen abschirmt. Die Kamera hat mich vor der schlimmsten aller Fragen bewahrt: Was kann ich im Angesicht des Todes schon tun? Seit diesem Tag hat mich die Kamera davor bewahrt, innerlich an all der Gewalt und all dem Blut zu zerbrechen.

Warum wolltest du die Rebellen in Ost-Ghouta ursprünglich filmen?

Zuerst hatte ich die Demonstrationen gefilmt und die Videos als direkte Reaktion auf die Entwicklungen in Syrien ins Internet gestellt. Als die Rebellen im Anschluss an das Massaker des Regimes nach Duma aufbrachen, hatte ich sie bereits seit zwei Jahren begleitet. Wir dachten damals, dass nach Ost-Ghouta auch die Nachbarschaft Jobar und schließlich Damaskus befreit werden könnten. Einer unserer Kameramänner starb während der Befreiung Dumas. Trotzdem glaubten wir vor allem im ersten Jahr, dass wir es bis vor die Tore des Präsidentenpalastes in Mezzeh schaffen würden. Ich wollte also einen Film über die Befreiung der Stadt machen. Aber dieser Film kam zu keinem Schluss, bis der militärische Widerstand gegen das Regime zusammenbrach.

Wo sind die anderen Mitglieder des Filmteams mittlerweile?

Nachdem ich Syrien im August 2015 verlies, hat das Team bis zur Evakuierung der Stadt weitergefilmt. Niemand von uns ist noch in Ost-Ghouta. Zwei sind in Idlib, drei sind in der Türkei, eine Person im Libanon und ich in Europa. Wir filmen fast alle noch immer. Es ist zur Gewohnheit geworden, zu einem Grund am Leben zu bleiben. Auch deswegen haben wir den Film „Still Recording“ genannt. Denn wir sind buchstäblich immer noch dabei.

Die Dokumentation erzählt die Belagerung Ost-Ghoutas bis zum Jahr 2015. Dabei sind 450 Stunden Material zusammengekommen. Wie legt man sich da auf einzelne Szenen fest?

Das war ein langer und sehr stressiger Prozess. Ich und Ghiath Ayoub, der andere Regisseur, waren uns darüber im Klaren, dass 450 Stunden Material viel Stoff für verschiedene Arten der Propaganda liefern. Wer kontrolliert das Recht am Bild? Wer hat das Recht zu erzählen, was wirklich passiert ist? Diese ethischen Fragen haben uns umgetrieben. Anschließend haben wir alle Szenen bearbeitet. Mit dem Resultat, dass die erste Fassung 26 Stunden lang war. Die Zweite hatte zehn, die Dritte sieben Stunden. Danach haben wir Stück für Stück Szenen gelöscht, die sich ähnlich sind. Insgesamt haben wir zwei Jahre im Schnittraum verbracht, ehe wir eine zweistündige Fassung zustande gebracht haben. Uns war bewusst, dass diese Methode viel Zeit kosten würde. Aber sie hat uns auch davor bewahrt, einen Propaganda-Film zu produzieren.

Inwieweit stellen die vielschichtigen Szenen der Dokumentation unser bestehendes Bild vom Leben im Kriegsgebiet in Frage?

Normalerweise beschränkt sich ein Film über Syrienauf einen oder zwei Erzählstränge. Alles andere wird gelöscht, um die Geschichte klarer erzählen zu können. Mit unserem Film wollten wir aber Stereotype in Frage stellen. Auch wenn du jemand bist, der sein ganzes Leben in Ost-Ghouta verbracht hat, wirst du im Film Szenen entdecken, die dich überraschen, vielleicht sogar verärgern. Realität bedeutet Chaos. Und wir wollten ein realistisches Bild zeichnen. In sieben Jahren Belagerung hat sich das Leben in Ost-Ghouta nicht nur um den Krieg gedreht. Zu diesem Zeitpunkt haben dort 1,1 Millionen Menschen gelebt. Du kannst dich nicht nur mit Leid und Trauer umgeben. Jede Form von Glück, jede Form von Kunst ist Widerstand gegen die Tötungsmaschinerie, die ununterbrochen läuft.

Wie habt ihr diesen permanenten Gefühlswechsel szenisch umgesetzt?

Man kann nie vorhersagen, was im nächsten Moment geschieht. Das wollten wir im Film zeigen: Gerade bist du noch am Kämpfen, aber nach sechs Minuten tanzt du. Nach weiteren sechs Minuten beerdigst du deinen Freund. Sieben Minuten später bemalst du eine Wand, nach sechs weiteren Minuten wirst du erschossen.

In viele Dokumentationen, deren Erzählungen mehrere Jahre umspannen, gibt es eine Stimme aus dem Off, die das Publikum begleitet. „Still Recording“ verzichtet darauf. Warum?

Wenn ich von Anfang bis Ende erzähle, bedeutet das, dass ich sicher bin. Und somit fühlt sich auch das Publikum sicher. Das gefällt mir persönlich nicht. Außerdem wollten wir nicht für Andere denken, ihnen vorgefertigte Antworten liefern. Vielmehr wollten wir, dass sich die Zuschauer selbst als Teil des Filmes begreifen, dass sie diejenigen hinter der Kamera sind. Während der zwei Jahre, in denen wir am Film arbeiteten, hat sich die politische Landkarte Syriens verändert: Es kam zu einer weiteren Giftgas-Attacke, die Menschen mussten Ost-Ghouta nach massivem Kampf aufgeben und nach Idlib ziehen.

Diese Veränderungen haben uns daran erinnert, dass die Erzählung auch fernab der konkreten Handlung wirkmächtig sein muss. Erst dadurch schafft man eine Dokumentation für die Ewigkeit. Wir haben viele Test-Vorführungen mit Menschen gemacht, die von Syrien keine Ahnung haben. Wir wollten ihre Reaktionen sehen, denn so kamen wir der Realität der nächsten Generation näher.

Wie meinst du das?

Um die Zukunft zu bewahren, muss die Vergangenheit festgehalten werden. Wir wollten der nächsten Generation - nicht nur der syrischen, sondern weltweit – erzählen, was im Ost-Ghouta jener Zeit wirklich passiert ist. Ich glaube nicht, dass Maschinen, Autos und der technische Fortschritt den Kern des Menschen ausmachen. Es ist die Kunst, die das tut. Deswegen glaube ich, dass Kunst so lange überdauern wird, wie es Menschen auf dieser Erde gibt.

Trotzdem wird der Film im Hier und Jetzt gezeigt. Momentan tourt „Still Recording“ durch Italien, bald ist er in Deutschland zu sehen*. Während der Konferenz hast du Verständnis dafür geäußert, dass Menschen in Europa nach acht Jahren keine schlechten Nachrichten aus Syrien mehr hören wollen. Warum sollten sie den Film trotzdem sehen?

Wenn dir etwas an deiner Zukunft und der deiner Kinder liegt, dann sollte dich Syrien etwas angehen. Denn wenn das Regime ungestraft für das davonkommt, was es den Menschen angetan hat, dann werden es ihm Andere gleichtun. Und das passiert bereits: Nachdem das Regime nicht dafür angeklagt wurde, dass es Menschen verbrannt, gefoltert und mit Giftgas übergossen hat, sehen wir wie anderenorts ähnliche Regime immer mächtiger werden. Deutschland verkauft Waffen an Saudi-Arabien, dessen Regime Kinder im Jemen tötet. Europa unterstützt Abdel Fatah al-Sisi, eine neue Version von Hafez al-Assad. Unter Hafez gab es 30 Jahre Frieden in Syrien - aber konnte man das wirklich als Frieden bezeichnen? Wir haben gesehen, was dann passiert ist. Wenn man al-Sisi jetzt unterstützt, weil es für kurze Zeit förderlich erscheint, wird die Zukunft noch viel schlimmer sein.

Wie kann die europäische Linke und die erweiterte Zivilgesellschaft Solidarität mit den Menschen in Syrien und im Exil zeigen, gerade jetzt angesichts der festgefahrenen Situation?

Im Unterschied zur heutigen Linken, agiert die Rechte eigennützig, als würde ihr Kampf direkten Einfluss auf das eigene Leben ihrer Anhängerschaft haben. Was ich während meiner kurzen Zeit im Libanon und in Europa beobachtet habe ist, dass sich die Linke nur noch für sich selbst interessiert. Links zu sein ist cool, Ausdruck eines bestimmten Bildungsstandes. Wenn Linke nicht begreifen, was das alles mit ihnen persönlich zu tun hat, wird ihnen morgen vielleicht noch nichts passieren. Aber in der Zukunft trifft es auch sie.

Was schlägst du also vor?

Ich kann niemandem sagen, was zu tun ist. Ich kann nur auf die Realität aufmerksam machen. Aber wenn du mich nach Rat fragst, dann lautet er: Tu alles was du kannst. Das Nichtstun ist das Problem. Wenn du denkst, dass noch ein Brief an das Parlament nichts bewirkt, irrst du. Schick ihn ab. Wenn du glaubst, dass noch eine Demonstration nichts bringt, geh trotzdem. Außerdem darf es keine Ausreden mehr geben. Alle sagen, dass sie nicht wissen wer auf Assad folgen soll. Ich glaube nicht, dass man sich damals überlegt hat wer auf Adolf Hitler folgen wird. Es geht zuallererst darum, Schreckliches abzuwenden. Zuallererst sollten wir jedoch die Dinge persönlich nehmen. Es nützt nichts, etwas nur deswegen zu tun, weil es gut für Andere ist. Wenn du dir selbst helfen und nicht zulassen willst, dass dir etwas Ähnliches passiert, dann sei zur Stelle, wenn es Andere trifft.

Danke für das Gespräch.

 

*Nachdem „Still Recording“ auf zahlreichen Festivals gezeigt und ausgezeichnet wurde – etwa auf der „Venice International Critics’ Week” in Italien, dem „Jihlava International Documentary Film Festival” in Tschechien und dem „Valdivia International Film Festival” in Chile - wird die Dokumentation in Deutschland das erste Mal auf dem „Around the World in 14 Films- Festival in Berlin am 25. November 2018 zu sehen sein.

 

Theresa ist freie Reporterin und Fotojournalistin mit Fokus Westasien und Nordafrika. Sie hat in Marbug, Kairo und Lund studiert, sowie eine Ausbildung an der Reportageschule Reutlingen absolviert. Seit November 2019 ist sie die Koordinatorin des dis:orient-Magazins.
Redigiert von Brandie Podlech, Julia Nowecki