13.01.2021
Kampf um die letzten Bastionen akademischer Freiheit in der Türkei
4. Januar 2021: Eine Universität in Handschellen. Quelle: 100sene100nesne https://twitter.com/100sene100nesne/status/1346526177809338371?s=20
4. Januar 2021: Eine Universität in Handschellen. Quelle: 100sene100nesne https://twitter.com/100sene100nesne/status/1346526177809338371?s=20

In Reaktion auf die Ernennung eines Vertrauten Erdoğans zum Rektor der Boğaziçi-Universität protestieren Studierende und Professor:innen auf dem Campus. Bediz Yılmaz beleuchtet die staatliche Repression und den Kampf um akademische Freiheit.

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Die Ernennung des neuen Rektors für die Boğaziçi-Universität Melih Bulu in Istanbul durch Präsident Erdoğan ist das neueste und wahrscheinlich nicht das letzte Glied in einer langen Kette antidemokratischer Entwicklungen, die die Türkei im Allgemeinen und die Hochschulbildung im Besonderen prägen.

Seit dem Militärputsch von 1980 und der Gründung des Rates für Hochschulbildung 1981 war das Ernennungsverfahren für Universitätsrektor:innen nie beispielhaft für demokratische Praxis. Die Universitäten wurden pauschal beschuldigt, soziale Konflikte und so genannte „gefährliche libertäre und sozialistische Ideen" zu nähren. Durch den Rat wurde ihre Ausrichtung auf das Regime garantiert und sie verloren ihre Autonomie.

So war der Rat die Instanz, die in allen wichtigen Bereichen des universitären Lebens entscheidungsbefugt war, unter anderem die Ernennung der Rektor:innen. Auch die Curricula, Themen und Jurys für Doktorarbeiten, die Genehmigung von akademischen Beförderungen und das Festlegen der jährlichen Budgets der Universitäten übernahm der Rat für Hochschulbildung. Durch diese Entscheidungshoheit war der Rat sehr einflussreich und durchaus effektiv darin, die Universitäten zu „disziplinieren“, die doch eigentlich ein gesellschaftlicher Hort der Autonomie und Freiheit sein sollten. Die Gründung des Rates wurde von Seiten der Regierung mit der Notwendigkeit der Überwachung der Universitäten begründet, um Entwicklungen in Richtung einer sogenannten „gefährlichen Blüte radikaler Ideen“ vorzubeugen. Die offizielle Prämisse war dabei, dass der Rat über allen politischen Lagern stünde, die es nach dem Putsch von 1980 in der Türkei gab.

Doch die Realität war eine andere: Jede Regierung gestaltete den Rat nach den eigenen Interessen, wodurch bevorzugte und marginalisierte Universitäten entstanden, solche, die ausgezeichnet wurden und andere, gegen die Strafen verhängt wurden. Das Überwachen der Universitäten war gleichzeitig ein wichtiges Instrument der Kontrolle und Erziehung der Jugend, die den unterschiedlichen Regierungen jeweils loyal und konform gegenüberstehen sollten. Kurzum: Autonome und demokratische Universitäten waren in der Türkei bis auf wenige Ausnahmen inexistent, vor allem seit 1980.

Die falschen Versprechungen der AKP

Recep Tayyip Erdoğan kam 2002 mit und durch einen Diskurs an die Macht, ein Opfer des Kemalistisch-Republikanischen Regimes zu sein und als solches alle anderen durch das bisherige Regime Unterdrückten zu repräsentieren. Seine AKP-Regierung behauptete, demokratischer zu sein und gegenüber allen marginalisierten Gruppen eine offene Haltung zu pflegen. Zuerst schien es, als halte die neue Regierung ihre Versprechen. Vor allem in den 1990er Jahren, als die EU-Mitgliedschaft in greifbarer Nähe schien, setzte die Türkei viele demokratische Reformen um.

Die Universitäten erlangten eine gewisse Autonomie, auch wenn diese nie eine absolute Meinungsfreiheit oder ein echtes Wahlrecht bei der Ernennung der Rektor:innen bedeutete. So wurde beispielsweise die Wahl der Rektor:innen 1981 abgeschafft und 1992 wieder eingeführt. Doch selbst dann konnten nur akademische Mitarbeiter:innen mit unbefristetem Vertrag wählen, also ordentliche und außerordentliche Professor:innen. Aus den drei Kandidat:innen mit den meisten Stimmen wählte dann der Präsident der Republik den oder die neue:n Rektor:in.

Der Ausnahmezustand und seine Nachwirkungen

Dieses Verfahren wurde bis 2016 aufrechterhalten, dem Jahr des gescheiterten Putschversuches, infolge dessen die Regierung den Ausnahmezustand ausrief. Dieser Ausnahmezustand dient der Regierung seitdem als perfektes Alibi, in so gut wie allen Bereichen undemokratische Dekrete des Präsidenten zu erlassen. Auch für das Verfahren zur Wahl, oder eher für die Ernennung von Universitätsrektor:innen gibt es seit 2016 ein solches Dekret. Der Inhalt ist sehr einfach zusammenzufassen: Alle Dekrete seit dem Putschversuch zielen darauf ab, den Präsidenten zum einzigen Entscheidungsträger zu machen. In diesem Falle bedeutet das, der Rat für Hochschulbildung erstellt eine Liste dreier Kandidat:innen, aus denen der Präsident wählt.

Der Ausnahmezustand wurde offiziell 2018 beendet, aber er wirkt bis heute, vier Jahre nach dem Putschversuch nach. Jede Art der Opposition wird entschieden unterdrückt. Die Zeit seit dem verhinderten Putschversuch ist von einer AKP dominiert, die durch exzessiven Autoritarismus regiert und unter anderem die letzten Freiräume der wissenschaftlichen Werte und der Autonomie der Universitäten zerstört. In dieser Hinsicht ist die Ernennung des neuen Rektors an der Boğaziçi-Universität als Weiterführung der bereits seit Langem bestehenden Repression gegen die Academics of Peace zu verstehen. Die Gruppe veröffentlichte am 11. Januar 2016 eine Petition mit dem Titel „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“.[1] Die Unterzeichner:innen wurden seitdem Opfer von staatlicher Verfolgung, Ausreise- und Berufsverboten, manche wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Der Kampf um kulturelle Hegemonie

Die Boğaziçi-Universität ist nicht nur eine der renommiertesten Universitäten der Türkei, sondern auch eine der wenigen Hochschulen, die sich bisher ihre Autonomie gegenüber der Regierung und den Vorgaben des Rats bewahren konnten. Die Ernennung eines regimetreuen Rektors ist dementsprechend ein Affront gegen die akademische Freiheit. Dieser Vorstoß der AKP, die seit 20 Jahren an der Macht ist, kann als weiterer Versuch interpretiert werden, endlich auch die symbolische Macht im Lande zu erringen. Bisher ist ihr das nicht gelungen. Boğaziçis neuer Rektor erlangte seine Position ohne die Zustimmung der verschiedenen Interessensgruppen der Universität. So ähnelt seine Ankunft auf dem Campus der Eroberung Konstantinopels vor 568 Jahren durch den osmanischen Sultan Mehmed II. Eine nie endende Eroberung, wie es scheint.

 

[1] Die Petition richtete sich gegen die ausufernde Gewalt der türkischen Sicherheitskräfte gegenüber der Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten des Landes.

 

 

Bediz Yılmaz promovierte am Französischen Institut für Urbane Studien (Universität Paris VIII) mit einer Dissertation über die soziale Ausgrenzung von forced migrants in einem Slumviertel von Istanbul. Ihre Forschungsinteressen umfassen Migration, städtische/ländliche Armut, räumliche Segregation, soziale Ausgrenzung, Gender und Sozialpolitik....
Redigiert von Clara Taxis, Johanna Luther
Übersetzt von Clara Taxis