28.03.2013
"Kein glücklicher Tag für die irakische Demokratie" - ein Interview mit Charles Tripp (Teil II)
Iraks Premierminister Nouri al-Maliki im TV. Foto: flickr/Al Jazeera English
Iraks Premierminister Nouri al-Maliki im TV. Foto: flickr/Al Jazeera English

Im vierten Teil des Alsharq-Schwerpunktes zum Irak diskutiert Ansar Jasim mit dem Nahostwissenschaftler Charles Tripp von der School of Oriental and African Studies in London aktuelle politische Entwicklungen im Irak. Steuert das Land geradewegs auf eine neue Diktatur zu? Fortsetzung des Interviews “Kein glücklicher Tag für die irakische Demokratie” – ein Interview mit Charles Tripp (Teil I).

Alsharq: Der Bürgerkrieg 2005 war unglaublich gewaltsam. Aber auch heute, acht Jahre später, gibt es täglich mehrere Bombenanschläge im Irak. Hat sich die Situation seit 2005 also wirklich grundlegend geändert? Welche Rolle spielt Gewalt heute?

Charles Tripp: Ich glaube, dass Gewalt heute in geringerem Ausmaß stattfindet. Es gibt zwar immer noch wahllose Bombenanschläge und rund 300 Attentate jeden Monat. Das ist keine normale Gesellschaft. Aber die Ermordungen und Bombenanschläge sind erkennbarer, sie sind heute an ganz bestimmte Projekte geknüpft.

Was sind das für Projekte?

Einige sind ganz klar konfessioneller Natur: Es wird ein Sprengsatz in einer Menge aus schiitischen Pilgern gezündet, weil man schiitische Pilger treffen will. Das ist ein deutliches Signal, beängstigend. Aufgekommen ist dieses Phänomen 2004 und ist seitdem nicht verschwunden, es war nur unterschiedlich stark über die Zeit. Das ist eine Art „Politik der Attentate“: Man ermordet Figuren, die politisch hinderlich sind. 2005, 2006 dagegen konnte niemand das Muster hinter den Ermordungen erkennen, weil Frisöre, Bäcker und Intellektuelle ermordet wurden. Heute meinen einige, ein Muster erkennen zu können.

Aber es gibt nicht nur Bombenanschläge...

Nein, es gibt auch so was wie „Kidnapping als Business“. Außerdem gibt es die „Wahrung von konfessionellen Unterschieden“, ein Erbe aus der Zeit des Bürgerkrieges. Damals entstanden segregierte Bezirke, wo vorher keine waren: ein sunnitisches, ein schiitisches Viertel undsoweiter.

Wie wirkt sich das auf den Alltag aus?

Ich will das mit einer Geschichte, die ich neulich in der Zeitung gelesen habe, verdeutlichen: Ein Mann in Bagdad muss auf dem Rückweg in sein Viertel wegen einer Straßensperre einen Umweg durch ein schiitisches Viertel fahren. Dort ziehen ihn Milizen aus seinem Auto und, nachdem sie erfahren haben, dass er Sunnit ist, verprügeln ihn. Die Milizen meinen, er habe ein „sunnitisches Gesicht“. Ich denke diese Art zu reden zeigt eine furchtbare „Logik des Konfessionalismus“. Natürlich gibt es nicht so was wie ein schiitisches oder sunnitisches Gesicht. Diese Logik bringt Menschen dazu, einander durch eine bestimmte Brille zu sehen. Am Ende wird dieser Mann von anderen Schiiten des Viertels gerettet. Aber die simple Tatsache, dass so etwas in Bagdad 2013 passieren kann, zeigt, dass das Erbe des Bürgerkriegs immer noch vorhanden ist. Und es wird schwer sein, es zu überwinden.

Zur jetzigen Situation im Irak: Es gibt seit einigen Monaten große Demonstrationen in vielen Teilen des Landes. Ähnliche gab es 2011. Wogegen richten sich die Proteste?

Wir müssen zwischen den Demonstrationen damals und denen heute unterscheiden. Ich denke, dass die Demonstrationen von 2011 symptomatisch waren für das, was im gesamten Nahen Osten passierte. Sie geschahen zwar im Irak, waren aber nicht speziell irakisch. Die Art der Organisation hätte aber auch nicht erlaubt, dass sie sich zu nationalen Bewegungen entwickeln würden. In Bagdad zum Beispiel versuchte man, sich um ein nationales Symbol zu versammeln, den Tahrir-Platz. Auf dem Platz steht ein Monument zur Erinnerung an die Revolution von 1958, die zum Sturz des Königs führte. Ob diese Demonstrationen aber irgendetwas gemeinsam hatten mit denen in Mossul, Basra oder Erbil, war fraglich.

Einerseits verband sie, dass sich alle über die schlechte öffentliche Versorgung beschwerten, die Korruption, den Mangel an Meinungsfreiheit und wachsende soziale Ungleichheit in der irakischen Gesellschaft. Aus dieser Sicht waren die Demonstrationen die Manifestierung des Glaubens, dass der existierende parlamentarische Rahmen nutzlos war und sie mit überhaupt nichts versorgt hatte. Andererseits beruhten diese Demonstrationen aber scheinbar auch auf einer ganz bestimmten lokalen Politik.

Was für lokale Politik?

Wenn man sich anschaut, was in Basra vor sich gegangen ist, so wird klar, dass das mit dessen Lokalität zu tun hatte. Die Gewerkschaften in Basra empörten sich darüber, dass Basra als neues Golfinvestitionsparadis dienen sollte und sie selbst darin gefangen seien. Dazu gehören natürlich auch Probleme wie soziale Ungleichheit, Mangel an Ressourcen und, dass ihre Stimme nicht gehört wurde. Die Leute nahmen an, dass Basra zu einer Art Katar umgewandelt werden soll, und für sie war entscheidend, wo diejenigen bleiben, die am unteren Ende der sozialen Leiter stehen.Problematisch ist, was in Mossul passiert ist: Es wurde behauptet, dass eigentlich Premierminister Nuri al-Maliki hinter den Demonstrationen stand.

Weshalb wurde das behauptet?

Der Kommandeur der nördlichen Armeedivision war von al-Maliki ernannt worden und es wird gesagt, dass er seine Armeelaster benutzt habe, um Leute über den Fluss zu bringen, so dass diese dann vor dem Palast des Gouverneurs demonstrieren konnten. Der Gouverneur war nämlich der Bruder des Regierungssprechers, den al-Maliki wirklich hasste. Man fragt sich hier also, ob die Demonstrationen in Mossul wirklich nur lokale Demonstrationen waren oder ob die Zentralregierung die Welle des Arabischen Frühlings ausnutzte, um die Opposition gegen den Gouverneur zu mobilisieren.

Ich glaube, dass es hier vor allem junge Leute waren, die ich für relativ repräsentativ für alle halte, die die Regierungs-, aber auch die Kommunalpolitik ablehnten. Aber auch diese Demonstranten wurden degradiert, man tat so, als würde es sich nur um Linke und somit um eine kleine Minderheit handeln.  Die Linke hat zwar eine starke Tradition in der irakischen Politik, sie ist aber nicht im Parlament vertreten. Von daher ist es ja kein Wunder, dass sie an die Öffentlichkeit geht und ihre Forderungen offen zur Schau stellt.

Was bleibt von den Demonstrationen 2011?

Ein entscheidender Faktor der damaligen Proteste, war ihre Vielfalt: Sie unterschieden sich in Motiven und politischen Zielen. Von einem nationalen Moment für die irakische Geschichte kann man also nicht sprechen. Auch wie die Bewegungen endeten, ist symptomatisch für das, was im Irak passiert: In Basra wurden Menschen erschossen. In Mossul wurde der Palast des Gouverneurs niedergebrannt, da ja die Armee auf der Seite der Demonstranten war. Damit hatten sieeigentlich genau das getan, was al-Maliki von ihnen wollte. Und in Bagdad wurden die Protestierenden mit Messern und Eisenstangen angegriffen, Frauen wurde von Baltajia-ähnlichen Gruppen Gewalt angetan. Diese Gruppen waren zivil gekleidet, aber von der Zentralregierung und von kommunalen Autoritäten bezahlt, da diese die Idee nicht mochten, dass die Menschen gegen ihre neue Ordnung demonstrierten. Als diese Demonstrationen also zutage traten, manifestierten sie sich also auf lokaler Ebene.

Wie steht es um die Demonstrationen heute, im Jahr 2013?

2013 ist diese Einbettung in lokaler Ebene noch stärker. Die Leute, die Mossul blockieren und in der Provinz Anbar demonstrieren, sind ganz eindeutig Menschen, die das Gefühl haben, dass sie aus diesem neuen Irak ausgeschlossen worden sind. Wenn man sich Interviews mit diesen Leuten ansieht, wird deutlich, dass sie den Eindruck haben, die Regierung sei in der Hand von Schiiten. Es spielt also deutlich auch ein konfessionelles Element mit hinein. Aber natürlich nehmen auch andere Leute an den Demonstrationen teil. Nicht unbedingt als Sunniten, sondern eher als Menschen, die zum Beispiel arbeitslos sind oder die generell die Brutalität der Polizei ablehnen. Das Versprechen des neuen Irak ist dort also nicht angekommen.

Der ehemalige Sicherheitsberater der irakischen Regierung Al-Ruba'i bezeichnete diese Demonstrationen als Beweis eines „demokratischen Lernprozesses“ der Menschen im Irak. Sie demonstrieren friedlich, statt sich zu bewaffnen. Wie bewerten Sie diese Einschätzung?

Ob man diese Demonstrationen als Beweis demokratischer Möglichkeiten sieht oder nicht, die Leute demonstrieren, um ihr soziales Vorhandensein deutlich zu zeigen. Und ja, die Menschen greifen nicht zu Waffen. Aber viele dieser Leute haben zuvor durchaus Waffen benutzt. Es bleibt also abzuwarten, wenn sie weiter demonstrieren und nichts passiert, ob sie wieder zu Waffen greifen werden. ird man den Leuten, die auf Gewalt zurückgreifen, mehr Raum geben? Gewalt scheint also oft das Ergebnis politischer Fehlkalkulation zu sein. Wenn die Regierung auf die Proteste nicht angemessen reagiert, wird, was als ziviler Protest begann, zu etwas anderem…

Eine oft zu hörende Erklärung sowohl von Irakern als auch von vermeintlichen Irak-Experten für die enorme Gewalt im Irak ist, dass der Irak einen starken Herrscher brauche, um die Gewalt einzudämmen. Warum ist diese Auffassung so weit verbreitet und was ist ihr Hintergrund?

Wenn Leute über einen starken Führer reden, dann wollen sie vermutlich eigentlich einen starken Staat. Und einige setzen das eben mit einem starken Herrschaftsstil gleich. Wenn sie über die Gegenwart nachdenken, dann denken sie an die Abwesenheit des Staates. Sie denken dann an Anarchie und Gewalt, schwache öffentliche Versorgung et cetera. Der starke Führer ist also eine Art Negativabdruck von allem, was in der Gegenwart falsch läuft. Manchmal zeichnen die Leute dann ein nostalgisches, rosiges Bild von Abdul Karim Qasim, dem General, der nach der Revolution 1958 die Macht übernommen hatte, oder eben von Saddam Hussain. All das wird von wird durch die Tatsache untergraben, dass, wenn man einen starken Führer hat, man selber nur ein vorgestelltes Negativ des eigenen gegenwärtigen Leidens erleben kann. Diese Führer haben ihre eigenen Ambitionen, ihre Fehler und Unbarmherzigkeit. Und der Irak musste darunter schon endlos leiden. Es ist also schon fast eine fürchterliche Ironie, wenn sich Leute einen starken Führer wünschen. Sie vergessen dabei, was für unangenehme Nebeneffekte damit verbunden sind.

Ist Al-Maliki denn ein starker Führer?

Ja, man könnte das so drehen. Wo liegt dann also das Problem? Natürlich ist das Problem, dass er korrupt ist und autoritär, außerdem benutzt er Gewalt. Er bleibt trotzdem ein starker Führer. Obwohl er so schwach angefangen hat. Ich glaube also, die Vorstellung des starken Führers ist eher ein Euphemismus für das, was wir für einen starken Staat halten. Menschen halten den starken Staat für den Garanten öffentlicher Dienste. Was aber einen starken Staat eigentlich stark macht, sind seine Bürger. Ihre Zustimmung zum Staat macht ihn stark. Deswegen ist es so paradox: je stärker der Führer, desto schwächer der Staat. Und das ist genau, was derzeit im Irak passiert.

Was sind die Konsequenzen dessen?

Aufgrund der täglichen Gewalt haben Armee und die Sicherheitsapparate allgemeine Zustimmung erlangt. Die autoritären Gewohnheiten eines Sicherheitsstaates fangen an, sich zu verfestigen. Und dann beginnt es: Zivile Freiheiten und Demokratie- so wird argumentiert- seien ein Luxus für die Zukunft. Der Kontext, in dem man das Wiederaufleben der autoritären Herrschaft verstehen muss, ist, was die Iraker in den letzten Jahren durchgemacht haben. Es geht nicht nur um die Ambitionen eines Führers, sondern zu einem gewissen Grad auch um die Iraker, die seine Macht zulassen.

Ein abschließendes Statement: Sind sie optimistisch oder pessimistisch bezüglich der Zukunft des Irak und warum?

Ich bin nicht optimistisch, was eine rechenschaftspflichtige Herrschaft im Irak angeht. Aber ich bin nicht so pessimistisch zu sagen, dass der Irak sich auflösen wird. Ich habe einen qualifizierten Pessimismus: Die Situation im Irak wird nicht katastrophal werden, aber hervorragend auch nicht. Die Gründe dafür sind die zwei Seiten der selben Medaille: Da ist dieses System von Macht, das Menschen kooptiert und sie dazu bringt, ihre Rechte abzugeben. Aber auf der anderen Seite gibt es die politische Ökonomie des Irak, die ein großes Potential hat, gerade weil sie eine ölfinanzierte Ökonomie ist. Und wenn irgendein zukünftiger Führer im Irak dieses Potenzial nutzt, um Arbeitsplätze und Möglichkeiten, ein Gesundheitssystem und ähnliches zu schaffen, dann sehe ich die Zukunft des Irak optimistisch. Zugleich wird die irakische Gesellschaft wohl durch diese ökonomischen Prozesse noch ungleicher werden. Die Ungleichheit wird durch Partimonialismus und Gewalt zementiert werden, um das System aufrecht zu erhalten. Ich denke, das wird weiterhin Teil irakischer Politik bleiben. Selbst wenn es keine offene Gewalt mehr geben wird, bleibt eine Tendenz zum Sicherheitsstaat im Irak, da die Meinung vorherrscht, das sei die einzige Form von Staat,  der mit der Art von Aufstand, die es im Irak gibt, umgehen kann. Und unter diesen Umständen muss ich sagen: Es ist kein glücklicher Tag für die Demokratie im Irak. Wenn Sicherheitsüberlegungen, Oligarchen und kommunale autoritäre Herrschaft die Tagesordnung werden, dann schrumpft der Raum für rechenschaftspflichtige und transparente Herrschaft und für zivile Rechte.

Vielen Dank für das Gespräch.