18.07.2016
Kein Staat, nirgends
"Nieder mit Bashar" (liyaskuṭ Baššār), Syrien April 2011. Photo: Jan Sefti/Flickr (https://www.flickr.com/photos/8605011@N02/5614565122, CC BY-SA 2.0)
"Nieder mit Bashar" (liyaskuṭ Baššār), Syrien April 2011. Photo: Jan Sefti/Flickr (https://www.flickr.com/photos/8605011@N02/5614565122, CC BY-SA 2.0)

Fünf Jahre Bürgerkrieg in Syrien – und das Fazit ist verheerend: Das Land ist zerstört, die Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs, große Teile der Bevölkerung auf der Flucht. Das Assad-Regime gibt sich militärisch und politisch stark – und hat doch von einem Sieg ebenso viel zu befürchten wie von einer Niederlage. Von Bente Scheller

Im Juli 2015 sorgte eine Rede Bashar al-Assads für Aufmerksamkeit. Erstmals hatte er darin Schwächen der syrischen Armee eingeräumt. Ein Jahr später sind diese Selbstzweifel aus der Regime-Rhetorik wieder verschwunden: Jeden Zentimeter Syriens werde er befreien, sagte Assad unlängst vor dem syrischen Parlament und „Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als zu siegen.“ Als Erfolge verbuchte das Regime die Wiedereroberung von Palmyra Ende März und seine militärischen Erfolge im Norden Syriens. Anfang Juli 2016 gelang es dem Regime, die einzige Verbindungsstraße des von Rebellen gehaltenen Ostteils von Aleppo unter Beschuss zu nehmen und damit praktisch unpassierbar zu machen. Zur gleichen Zeit intensivierte es seine Angriffe im Umland von Damaskus.

Tatsächlich aber ist die Syrische Arabische Armee im Laufe des Krieges nicht stärker, sondern deutlich schwächer geworden. Bereits 2013 war sie auf die Hälfte ihrer einstigen Größe geschrumpft, wie das International Institute for Security Studies feststellte. Zehntausende Soldaten liefen in den ersten Jahren des Krieges über, Hunderttausende erschienen später nicht mehr zur Musterung, Zehntausende kamen um. Die Erfolge der jüngsten Zeit verdankt sie den monatelangen russischen Luftbombardements. In den Videos des Siegeszuges in Palmyra musste man die syrischen Bodentruppen zwischen den ausländischen Kämpfern geradezu suchen. Schiitische Truppen aus Iran, Afghanistan, dem Irak und Libanon kämpfen bereits seit 2012 - teils freiwillig, teils gezwungenermaßen - in Syrien. Ohne sie hätte Assads Macht vermutlich schon damals ein Ende gefunden.

Es ist ein paradoxes Verhältnis: Ausländische Truppen kämpfen unter eigener Hoheit in Syrien, iranische Generäle kommandieren irakische und libanesische Milizen, die russische Luftwaffe tut, was sie will und kein syrischer Offizier hat den Ausländern irgendetwas zu sagen. Gleichzeitig beschwerten sich die angeheuerten Milizionäre aus Assads Heimatregion, die für ihre Brutalität berüchtigten „Schabiha“, schon früh darüber, in syrische Landesteile geschickt zu werden, in denen sie nie zuvor gewesen waren und die ihnen so fremd wie das Ausland erschienen: Deir ez-Zor, Qamishli, Aleppo, Deraa, all die sunnitischen Aufstandsprovinzen. Es war nicht ihr Staat, gewissermaßen.

Assad seniors politisches Erbe

Dieses schizophrene Gebaren hat seinen Ursprung im hochexplosiven Verhältnis der Machtelite zum von ihr beherrschten Land. Als Dynastiegründer Hafiz al-Assad sich 1970 an die Macht putschte, verließ er sich in den kommenden Jahrzehnten im Kern auf seine Glaubensgemeinschaft. Die wahre Macht in den Geheimdiensten und hinter den Kulissen der Regierung lag und liegt in den Händen der Alawiten, jener zehn-, zwölfprozentigen Minderheit, deren Angehörige zuvor zu den Ärmsten Syriens gehört hatten. Hafiz al-Assad verdankte die Chance zu seinem Aufstieg in der Armee dem Umstand, dass Offiziere aus den Minderheiten einst als loyaler galten denn Offiziere aus der sunnitischen Mehrheit. In dem Regime, das Assad senior errichtete, war seine Macht und die Macht seines Clans stets so fragil, dass die Familie nicht den kleinsten Teil davon aus den Händen geben wollte.

Assad senior war brillant darin, die sunnitische Elite zu kooptieren und seiner Macht nicht den Anschein der Konfessionalität zu geben. So befanden sich mit dem langjährigen Verteidigungsminister Mustafa Tlass (1972-2004) und Abdul Halim Khaddam, erst Berater Assads, von 1984 bis 2004 dann Vizepräsident, zwei prominente Sunniten in hohen politischen Ämtern. Auch die Business-Elite von Damaskus, weitgehend sunnitisch, konnte ungestört agieren –  sofern sie loyal war. Aber auch Assad senior griff im Zweifelsfall, wie in den frühen achtziger Jahren in Hama, auf absolute Gewalt zurück.

Sein Sohn Baschar, aufgewachsen im Selbstverständnis, Syrien gehöre den Assads, war stets weniger politisch versiert als sein Vater. Von Anfang der Proteste an begriff er die Gewalt als einziges Mittel der Rettung seiner Macht. Es war die landauf, landab von den Soldaten seiner Eliteeinheiten als monströse Graffiti hinterlassene Drohung, die den Verlauf der kommenden Jahre prägen würde: „Assad für immer - oder wir brennen das Land nieder.“ Unterwerft euch, oder wir werden euch vernichten.

Fünf Jahre später ist das Land zu weiten Teilen niedergebrannt, die zu Aufständischen gewordenen Demonstrant_innen von 2011 haben sich nicht unterworfen - sondern sind zu Millionen geflohen. Und das Missverhältnis der Herrscher zu ihrem Land wird auch den Fortgang prägen.

Machterhalt und Staatsverfall

 Voice of America / Public Domain. Ein Checkpoint der Syrischen Regierungskräfte in Douma. Photo: Voice of America / Public Domain.

 

„Für die Opposition ist es problematisch, dass sie in so viele Gruppen zersplittert ist, die ideologische und religöse Differenzen haben, einander misstrauen oder einander feindselig gesonnen sind, was manchmal den Kampf gegen das Regime beeinträchtigt, denn sie konkurrieren um Finanzierung“, erklärt Rashad al-Kattan, Fellow des Zentrums für Syrienstudien an der Universität von St. Andrews. „Das ist für die Regierung auf ihrer Seite jedoch kein Problem. Sie gibt den unterschiedlichen Milizen freie Hand, ihr Gehalt aufzubessern, indem sie plündern oder sich an Checkpoints bereichern. Das kostet sie nichts. Je nachdem, wo man sich befindet, ist es, als hätte man einen Geldautomaten oder eine ganze Bank zur freien Verfügung.“

Den Eine-Million-Checkpoint, sozusagen den Jackpot unter den Checkpoints, erwähnt auch der syrische Militärexperte Kheder Khaddour in seiner Analyse des „zufallsbedingten Beharrungsvermögens“ des syrischen Militärs. „Die Faktoren, die die syrische Armee in Friedenszeiten ihrer Schlagkraft beraubt haben, sind während des Krieges zu einer Stärke geworden“, sagt Khaddour. Das Interesse an persönlicher Bereicherung schweiße zusammen und schaffe eine Art alternativer Kommandostruktur. Solange jedenfalls, wie es etwas zu plündern gibt.

Korruption des militärischen Apparates ist zu einem systemerhaltenden Faktor des Regimes geworden. Die Sicherheitsdienste, deren Macht im Laufe der Krise ohnehin gewachsen ist, haben Verhaftungen zu einem Teil der Kriegsökonomie gemacht. Auf allen Ebenen der Justiz und des Sicherheitsapparates versuchen Individuen Profit daraus zu schlagen, dass Familien Informationen über verhaftete und verschwundene Angehörige erhalten und damit ihre Freilassung erwirken wollen. Berichte zeugen von Fällen, in denen bis zu  $90.000 von Familien erpresst wurden - zu einem Zeitpunkt, an dem die Betroffenen längst unter der Folter gestorben waren.

Doch es gerät aus dem Blickfeld, dass diese Beute-Ökonomie zwar im Moment dem Überleben des Regimes dient, gleichzeitig aber der erste Schritt hin zum Staatsverfall ist. Das Regime versucht sich Loyalität zu kaufen, ohne selbst dafür bezahlen zu müssen.

Besonders deutlich wird das auch an der Umverteilung von Besitz durch die Mächtigen. Im Jahr 2014 konfiszierte das Regime die Häuser und Wohnungen von mindestens 15 prominenten Oppositionellen, darunter Riad Seif und Suhair al-Atassi. Im Mai 2016 erließ die Regierung Verordnungen, die dafür sorgen, dass nur wer vor Ort ist seine Rechte an Immobilien geltend machen kann.

Über 80% der Bevölkerung Syriens werden von den Vereinten Nationen als hilfsbedürftig eingestuft. Die Wirtschaft ist durch die weitgehende Zerstörung der Industrie am Rande des Zusammenbruchs. Das syrische Pfund hat an Wert verloren und die Lebenshaltungskosten sind gestiegen.

„Das durchschnittliche Gehalt liegt bei 30-40.000 syrischen Pfund im Monat. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Lebenshaltungskosten für eine fünfköpfige Familie in Damaskus bei rund 220.000 syrischen Pfund im Monat liegen, kann man sich kaum ausmalen, wie die Leute das schaffen“, sagt Rashad al-Kattan.

Unlängst protestierten die Menschen selbst in der als Hochburg des Regimes geltenden Küstenregion gegen Preiserhöhungen für Diesel und Kochgas. Ein Umstand, der das Regime letztlich dazu brachte, die Gehälter der Staatsbediensteten hier anzuheben. Es ist einer der wenigen Fälle, in denen das Regime einer Forderung nachgegeben hat. „Angesichts der vielen Särge, die zurückkommen“, erklärt der politische Analyst Wael Sawah „kommt es bei der Bevölkerung gar nicht gut an, dass eben das Regime, für das sie sterben, ihnen nicht zuhört.“

Mangels anderer Finanzierungsmöglichkeiten hat Assad weite Teile des eigenen Landes seinen Loyalisten zur Plünderung freigegeben. Doch die Möglichkeiten dafür sind endlich.

Die Angst vor "den anderen"

Der Grasbewuchs auf den gespenstischen Ruinen von Homs, das seit vier Jahren zu weiten Teilen in Trümmern liegt und für das es jenseits eines Vorzeigeprojekts für die raren auswärtigen Besucher keinerlei Versuche des Wiederaufbaus gibt, steht symbolisch dafür, dass das Regime keine Pläne für Ausgleich und Verhandlungen hat. Im Gegenteil: Selbst die anfangs geduldete interne Opposition wird immer stärker verfolgt. Im Oktober 2015 wurde der Sprecher des National Coordination Committees, Mounzer Khaddam, verhaftet, Ende Dezember kurzzeitig auch Ahmad al-Asrawi und Mounir al-Bitar, die auf dem Weg zu dem auch von Moskau unterstützten Oppositionstreffen in Riad waren.

„Auch wenn man bis 1970 zurückblickt: Ich kenne nicht einen einzigen Fall, in dem die syrische Regierung Zugeständnisse gemacht hätte. Das könnte sie möglicherweise nach außen hin, aber innenpolitisch lässt sie sich nicht darauf ein“, sagt Rashad al-Kattan. „Koste es was es wolle, lieber macht sie ganze Landstriche dem Erdboden gleich, als den Eindruck zu erwecken, irgendetwas sei verhandelbar.“

Das Regime beherrscht das Syrien seiner Vorstellung: Damaskus und die Küste. Dafür, wie es den Rest des Landes wieder aufbauen, kontrollieren und integrieren will, hat es weder die Mittel noch die Vision, ja vermutlich noch nicht einmal die Möglichkeit. Für die Herrschaft der Assads braucht es heute den Krieg. Außer Unterwerfung hat das Regime langfristig nichts anzubieten. Letztlich nicht einmal jenen, die es heute unterstützen.

„Alles, was das Regime seiner eigenen Klientel zu bieten hat, ist es, die Furcht vor ‚den anderen‘  zu schüren“, sagt der Analyst Sawah. „Damit bindet es diejenigen an sich, die vielleicht nicht unbedingt auf seiner Seite stehen, die aber Angst vor dem haben, was kommen könnte. Die klare Botschaft an sie ist: Auch wenn ihr unzufrieden mit uns seid – ohne uns werdet ihr auch noch das wenige verlieren, was ihr jetzt habt.“

Damit diese Drohung funktioniert, muss sie permanent aufrecht erhalten werden. Jede Entspannung der Verhältnisse würde den Druck fortnehmen, der aber benötigt wird, damit nicht all jene aufbegehren, die ihre Söhne, Brüder, Männer als Soldaten für Assad verloren haben, ohne irgendeine Dividende dafür zu sehen.

So paradox es klingt: Assads Regime muss siegen, um seine Macht aufrecht zu erhalten. Aber zugleich muss es schon den ersten Moment nach diesem Sieg fürchten, wenn es die „Angst vor den anderen“ nicht mehr einsetzen kann.  

Bente Scheller ist Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, Libanon.  

 

 

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Artikel von Bente Scheller