13.12.2016
Kommentar zu Aleppo: Bewegt euch, geht auf die Straßen!
Lina Shamy lebt in Aleppo. Sie appelliert dafür, gegen die Verbrechen des Assad-Regimes in ihrer Stadt zu protestieren. Screenshot: Alsharq.
Lina Shamy lebt in Aleppo. Sie appelliert dafür, gegen die Verbrechen des Assad-Regimes in ihrer Stadt zu protestieren. Screenshot: Alsharq.

Stadtviertel um Stadtviertel nehmen das Assad-Regime und seine Verbündeten in Aleppo ein. Furchtbare Nachrichten erreichen uns, von Massenerschießungen ist die Rede. Aber Aleppo ist erst dann gefallen, wenn wir nicht mehr für die Menschen kämpfen, die dort noch unsere Hilfe fordern.

Schüchtern, eher verzweifelt frage ich ihn: „Motaz, was sollen wir denn tun? Sag mir, was wir tun sollen!“ Motaz kenne ich seit 2014. Er ist Gärtner aus Aleppo. Ich habe ihn mehrmals in der Türkei getroffen, jedes Mal ist er nur für ein paar Tage aus Aleppo rausgekommen. Seit Anfang 2015 hatten wir Angst, dass die Stadt abgeschlossen wird von den Truppen Assads und seinen Verbündeten. Bei einer Belagerung seiner Stadt wollte Motaz in Aleppo sein, den Menschen zeigen, wie sie durch Gärten überleben können.

Seit Mitte Juli ist Ost-Aleppo, der Teil der Stadt, in der der Gärtner Motaz lebt, vollständig belagert. Seit Mitte Dezember ist die Lage katastrophal, seit einer Woche lese ich täglich, dass Assad und seine Verbündeten mehr und mehr Stadtviertel einnehmen. Ich lese und höre von Massenerschießungen, wer fliehen will, wird festgenommen. Ich finde das alles nicht überraschend, habe ich doch seit 2011 die Ereignisse in Syrien genau verfolgt, habe ich doch die Bilder aus den Folterkellern des Regimes gesehen.

„In Aleppo sterben die Werte der Menschheit“

Motaz sagt immer wieder: „Ansar, in Aleppo sterben nicht nur wir, in Aleppo sterben die Werte der Menschheit“. Er hat Recht, wir müssen auf die Straßen gehen, wenn wir an die Universalität der Menschenrechte oder auch nur des Rechts auf Leben glauben.

Gestern Nacht lese ich, Aleppo sei gefallen. Ich schreibe wieder Motaz, wieder sagt er: „Bewegt euch“. Ich öffne den Twitter Account von Lina Shamy, einer 26-järigen Frau in Aleppo. Ich kenne sie seit einem Jahr, damals hat sie mit einer Theatertruppe in Aleppo ein wundervolles Theaterstück aufgeführt, versteckt unter heftiger Bombardierung. Lina filmt ein Video „To everyone who can hear me“, sie erklärt, dass noch immer über 50.000 Menschen auf nun mehr zwei Quadratkilometern eingeschlossen sind. Dennoch, sie ruft uns auf: „Save Aleppo“.  

 

Aleppo ist noch nicht gefallen. Lina und Motaz sind nur zwei Stimmen von mehr als 50.000. Ich habe Angst, dass sie jeden Moment sterben könnten. Es sind zwei Gesichter dieser 50.000, die mir bekannt sind. Solange es diese beiden Stimmen gibt, ist Aleppo nicht gefallen. Es gibt immer noch 50.000 Menschen, die wir retten können, die uns auffordern auf die Straßen zu gehen.

Der Polizeipräsident sieht keinen aktuellen Grund für eine Mahnwache

22:25 Uhr, Berlin. Die ersten Anrufe gehen ein, wir beschließen, zum Brandenburger Tor zu gehen, danach vor die Russische Botschaft. Innerhalb einer Stunde befinden sich dort mehr als 200 Menschen, die ein sofortiges Ende der Gewalt fordern. Mein Handy ist aus. Ich will Motaz und Lina sagen: Wir bewegen uns, wir sind auf den Straßen.

Die Polizei wird den Protest später auflösen. Ich bin fassungslos, hatte Angela Merkel noch vor Tagen gesagt, dass sie sich wundere, dass niemand auf die Straßen geht, nun droht die Polizei mit Gewalt, wenn wir den Platz nicht räumen. Berlins Polizeipräsident sieht keinen aktuellen Grund für eine Mahnwache für Aleppo.

Viele der Demonstranten bleiben stur sitzen, sie streiten sich mit der Polizei: „Unsere Familien werden in Syrien bombardiert, die Menschen werden in den Straßen, die das Regime mit seinen Verbündeten einnimmt, exekutiert!“ Es ist kalt. Ich denke an Lina und Motaz. Wir bleiben sitzen – Aleppo ist nicht gefallen, solange die Menschen von uns fordern, dass wir uns bewegen: Freiheit statt Tyrannei!

 

UPDATE: Am heutigen Dienstag soll in Berlin um 17.30 Uhr eine Solidaritäts-Demonstration von der US-Botschaft zur russischen Botschaft ziehen.

 

Siehe auch den Facebook-Eintrag von Bente Scheller, Leiterin des Beirut-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, mit der Minimalforderung: Sicherheit für die letzten verbliebenen Zivilisten in Aleppo!