22.09.2025
Kommt der Krieg? Stimmen aus dem Libanon zur Entwaffnung der Hisbollah
Ein Regierungsplakat zeigt den Präsidenten Joseph Aoun (links) und den Premierminister Libanons Nawaf Salam (rechts). Auf Arabisch steht darauf: „Wir sind mit ihnen. Eine Armee, eine Waffe, ein Staat. Eine neue Epoche für Libanon“.16.09. 2025. Foto: Justus Könneker.
Ein Regierungsplakat zeigt den Präsidenten Joseph Aoun (links) und den Premierminister Libanons Nawaf Salam (rechts). Auf Arabisch steht darauf: „Wir sind mit ihnen. Eine Armee, eine Waffe, ein Staat. Eine neue Epoche für Libanon“.16.09. 2025. Foto: Justus Könneker.

Im Libanon drängt die Regierung auf die Entwaffnung aller nichtstaatlichen Milizen. Die Hisbollah hat dies abgelehnt. Die Meinungen in der Bevölkerung sind gespalten und es herrscht Angst vor einem weiteren Bürger:innenkrieg.

Im Libanon kursieren derzeit Spekulationen über einen neuen Bürger:innenkrieg. Am 5. September wurde dem libanesischen Kabinett ein Fünf-Stufen-Plan zur Entwaffnung der Hisbollah vorgestellt. Bis Ende 2025 sollen alle nicht staatlichen Milizen im Land, darunter auch die schwer bewaffnete Hisbollah, entwaffnet werden. Die schiitische Miliz erklärte jedoch, sie werde so weitermachen, als ob es die Vereinbarung „nicht gäbe“. Die Lage ist angespannt. Unter den Libanes:innen breitet sich die Furcht vor einem erneuten Bürger:innenkrieg aus.

Die Entscheidung zur Entwaffnung kam nach dem Krieg zwischen der Hisbollah und Israel im vergangenen Jahr. Intensive Kämpfe im Süden und schwere Bombardierungen im ganzen Land haben die Hisbollah seitdem stark geschwächt. Obwohl Israel, die libanesische Regierung und die Hisbollah ein Waffenstillstandsabkommen im November 2024 unterzeichneten, dauern israelische Bombardierungen, besonders im Südlibanon, fast täglich an. Teile des Südens sind weiterhin vom israelischen Militär besetzt.

Meinungen zur Entwaffnung sind gespalten. Die Mitglieder der Reformpartei Mauatinun wa Mauatinat fi Daula (مواطنون ومواطنات في دولة)– auf Deutsch übersetzt bedeutet das ungefähr „Staatsbürger:innen in einem Staat“ – befürchten einen Bürger:innenkrieg und sehen einen Kompromiss als notwendig. Einige, wie Jawad, teilen die Ansicht, dass die Entwaffnung Teil einer ausländischen Intervention im Libanon sei und dass die eigentliche Bedrohung von der israelischen Expansion ausgehe. Andere, wie Laura, sind zutiefst traumatisiert vom Krieg und geben der Hisbollah die Schuld für den Krieg im Libanon.

Die Hoffnung auf einen Kompromiss

In der wöchentlichen Sitzung der kleinen Reformpartei „Staatsbürger:innen in einem Staat“ läuft eine intensive Diskussion. Eigentlich sollte heute die Möglichkeit einer Reform des konfessionellen Wahlsystems im Libanon Diskussionsthema sein, doch diese Woche fiel die endgültige Kabinettsentscheidung zur Entwaffnung der Hisbollah. Stattdessen debattieren die Anwesenden nun über die Angst vor einer Vertiefung der konfessionellen Spaltungen in der libanesischen Gesellschaft, die im Falle eines neuen Bürger:innenkriegs drohen könnte.

Während des Treffens fällt das Licht aus. Ein ironischer Moment, da die Partei genau die chronische Versorgungskrise bekämpfen will, die solche Stromausfälle verursacht. Seit der Finanzkrise 2019 leidet der Libanon unter chronischer Elektrizitätsknappheit. Das sei Folge eines schwachen und bankrotten Staates, betonen die Parteimitglieder. Für die Partei liegt die Lösung in einem säkularen, einheitlichen und reformierten Staat für alle Mitbürger:innen.Die wöchentliche Sitzung der Reformpartei „Staatsbürger:innen in einem Staat“ 10.09.2025. Foto: Justus Könneker.

„Seit dem Ende des Bürger:innenkrieges gibt es im Libanon nur einen Waffenstillstand zwischen den Konfessionen“, meint Hani. Damit verweist er auf das Taif-Abkommen von 1989, das den Bürger:innenkrieg offiziell beendete. Der Vertrag verankerte den Grundsatz der „gegenseitigen Koexistenz“ (العيش المشترك) und sah eine „angemessene politische Vertretung“ (التمثيل السياسي الصحيح) aller Glaubensgemeinschaften vor. Doch laut Hani und seiner Partei festigte dies die Macht der Kriegsherren und begünstigte Korruption und trug schließlich zum Scheitern des libanesischen Staates bei.

Hani argumentiert, der Libanon stehe jetzt zwischen zwei Fronten: der Hisbollah und der Staatsmacht. „Beide Seiten präsentieren nur eine Halbwahrheit.“ Er stimmt dem Staat zu, dass „die Konfessionen einflussreicher sind als der Staat“ und dass dies keine langfristige Perspektive für die Zukunft des Libanon sei.

Gleichzeitig macht er aber auch den gescheiterten Staat verantwortlich, der weder während der israelischen Besetzung des Südlibanon von 1982 bis 2000 noch heute in der Lage gewesen sei, die Besatzung effektiv zu beenden.

Auf der anderen Seite zeigt er auch Verständnis für die Hisbollah. Er sagt: „Die Hisbollah hat recht, der Staat ist zu schwach, um den Libanon zu verteidigen. Doch durch ihre konfessionelle Politik hat sie sich vom Rest des Landes isoliert und den Staat nur noch mehr geschwächt.“ Er fragt rhetorisch: „Was hat die Hisbollah denn gemacht, um den Staat zu stärken?“

Hani und seine Partei schlagen einen Kompromiss vor: Der Staat müsse „die Bedrohung durch Israel erkennen“ und gleichzeitig die Miliz entwaffnen, indem er „die Kämpfer in das Militär integriert“. Dass dies schon von Präsident Joseph Aoun vorgeschlagen und danach stark von Militärexperten kritisiert wurde, sei ihm nicht bekannt. Auf die Nachfrage, ob er damit meine, dass der libanesische Staat die Besatzung durch Gewalt beenden müsse, falls die israelische Besatzung des Südlibanons nach der Entwaffnung der Hisbollah nicht beendet werde, verneint er. „Der libanesische Staat ist zu schwach. Wir können uns Israel nicht widersetzen.“

Die Bedrohung durch Israel und internationale Interventionen

Bei den schweren israelischen Bombardierungen letzten Jahres starben Jawads Cousin und Tante. Damals lebte er mit seinen Eltern in Baalbek, einer Stadt im Osten Libanons, die als Hochburg der Hisbollah gilt und schwer unter israelischen Luftangriffen gelitten hat. „Am Anfang dachte ich noch, es sei spannend, wie in einem Actionfilm, doch als ich wusste, dass meine Tante gestorben ist, wurde mir ganz übel.“

Jawad sagt, er selbst habe nie eine klare Meinung gegenüber Israel gehabt, obwohl viele Mitglieder seiner Familie und Freund:innen die Hisbollah unterstützen. Er stammt aus einem religiösen schiitischen Umfeld, wie viele, die im Osten und Süden des Landes leben. Er sei jedoch nicht besonders religiös – die Religiosität passe nicht zu ihm.

Doch seit Gaza und den Bombenangriffen auf seinen Heimatort hat sich in ihm etwas verändert. Erst dann verstand er „wie schrecklich Krieg und wie schrecklich das Konzept von Israel, vom ethno-religiösen Staat der Minderheit, wirklich ist.“ Der bevorstehenden Entwaffnung gegenüber ist er zwiegespalten.

Seit dem Krieg sieht er Israel als „expansionistischen Staat“. Er versteht nicht, wieso die USA und Israel auf die Entwaffnung bestehen: „Ich meine, was habt die Hisbollah im Krieg schon erreicht, außer ein paar Fenster in Haifa zu zerbrechen?“ Die Entscheidung, die Miliz zu entwaffnen, „kommt nicht von den Libanes:innen“, sondern erfolgt unter Druck der USA und Israels.

Ein Plakat, das religiöse und ethnische Spaltung und israelische Aktionen im Libanon kritisiert, hängt in Mar Mikhael, einer belebten Ausgehstraße in Beirut. 18.08. 2025. Foto: Justus Könneker.

Doch mehr als alles andere fürchtet er einen erneuten Krieg. „Ich habe es lieber, dass der libanesische Staat sie entwaffnet, als dass Israel es macht.“ Er spricht damit eine Sorge aus, die viele Libanes:innen teilen: Wenn der libanesische Staat die Miliz nicht erfolgreich entwaffnet, könnte Israel sich einmischen.

„In meinem Kopf spiele ich immer wieder verschiedene Szenarien durch. Was wäre, wenn mein Vater oder meine Mutter stirbt? Oder wenn mein Haus bombardiert wird – kann ich dann hierhin oder dorthin gehen?“ erzählt Jawad. Er lebe unter ständiger Anspannung und Angst. Er könne keinen Tag mehr genießen, weil ihn der Gedanke verfolgt, dass er morgen schon ein Geflüchteter sein könnte. Auf die Frage, ob er denke, dass es einen Bürger:innenkrieg im Libanon geben wird, antwortet er: „Ich hoffe nicht.“

Kriegserschöpfung und der Wunsch nach Frieden

Laura sitzt rauchend auf dem Balkon ihrer Wohnung in Badaro, einer mehrheitlich christlichen Nachbarschaft in Beirut. Um ihren Hals trägt sie ein goldenes Kreuz. Vor dem Krieg lebte sie noch in Dahiyeh – wörtlich übersetzt „Vorstadt“, einem südlichen Teil Beiruts. In Dahiyeh leben viele Anhänger:innen der Hisbollah sowie Menschen, die in den letzten 40 Jahren vor den Kriegen im Südlibanon geflüchtet sind. Im vergangenen Jahr wurde das Viertel stark bombardiert; noch immer türmen sich die Trümmer zerstörter Gebäude zu großen Schutthaufen. Das Viertel ist überwiegend schiitisch, so auch Lauras Familie. „An dem Tag waren die Bombardierungen heftig. Die Bombe hat die Fenster zerstört. Ich lag auf dem Boden, und er sprach zu mir.“ Laura beschreibt es als ihre erste christliche, spirituelle Erfahrung. „Hab keine Angst“, habe er gesagt. Eine Wärme habe sie erfüllt. Danach entschied sie sich, zum maronitischen Christentum zu konvertieren und aus Dahiyeh zu fliehen.

Ein Helikopter der Vereinten Nationen fliegt über Beirut am Tag der Entwaffnung des Flüchtlingslager Burj al-Burjneh. 21.08. 2025 Foto: Justus Könneker.

Wegen dieser Bombardierungen leidet sie an chronischer posttraumatischer Belastungsstörung. Während des Gesprächs surrte eine israelische Beobachtungsdrohne über Beirut. „Es macht mich nervös“, teilt sie bedrückt mit. „Ich kann nicht mehr gut schlafen, ich kriege Flashbacks.“ Sie hat deshalb eine Therapie begonnen und sagt, ihr Glaube helfe ihr.

Angesprochen auf die Entwaffnung der Hisbollah, äußert sie sich der Miliz gegenüber kritisch: „Ich könnte nicht zurück nach Dahiyeh, es gibt dort zu viele Gelbe [Anhänger:innen der Hisbollah, Anm. d. Autor]“. Sie macht die Hisbollah dafür verantwortlich, den Krieg in den Libanon gebracht zu haben. Sie bezieht sich auf den Auslöser des Konflikts im letzten Jahr. „Libanes:innen sollten nicht für Gaza sterben müssen.“ Die Hisbollah rechtfertigte den Abschuss von Raketen auf Israel mit ihrer Solidarität mit Gaza. Doch konkrete Antworten darauf, wie die Besatzung Südlibanons beendet oder das staatliche Gewaltmonopol durchgesetzt werden könnte, hat sie jedoch nicht.  „Ich will endlich Frieden im Libanon. Denkst du, der Krieg ist bald vorbei?“

 

 

 

 

 

Justus Könneker ist ein deutscher freier Journalist mit Sitz in Beirut. Er berichtet über Politik und Umweltfragen und zeigt, wie eng diese Themen mit den Lebensrealitäten der Menschen verbunden sind.
Redigiert von Filiz Yildirim, Regina Gennrich