14.05.2020
Kunst auf Augenhöhe? Das „West-Eastern Divan Orchestra“
Foto: Pixabay
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Der Israel-Palästina-Konflikt hat ganze Generationen in WANA geprägt, die Politik scheint festgefahren. Doch es gibt mutige Menschen, die mit Kunstprojekten wie dem West-Eastern Divan Orchestra für einen Frieden von unten kämpfen.

Dieser Text ist im Rahmen des Kooperationsseminars „Grenzen und Möglichkeiten journalistischer Berichterstattung aus postkolonialer Perspektive zu WANA (Westasien, Nordafrika)“ an der Universität Leipzig entstanden. Das Seminar fand im Wintersemester 2019/2020 unter Leitung von dis:orient-Mitglied Leonie Nückell statt. Alle dabei entstandenen Texte finden sich hier.

Ein Konzertsaal in London, auf der Bühne spielt ein junges Orchester Beethovens Neunte Symphonie. Die Musik beginnt leise und wird im Verlauf des Stückes immer kräftiger, bis sie bei der mitreißenden „Ode an die Freude“ angelangt ist – ein Werk, das die Brüderlichkeit aller Menschen besingt.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Orchester auf der Bühne nicht von anderen professionellen Orchestern. Was man jedoch nicht sieht: Die Musiker*innen haben einen besonderen Hintergrund. Sie sind Israelis und Palästinenser*innen, die gemeinsam mit Kolleg*innen aus anderen arabischen Ländern spielen – eine Orchesterbesetzung, die weltweit einzigartig ist. Ihr Name: West-Eastern Divan Orchestra.

Gegründet wurde das WEDO 1999 durch den palästinensisch-US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward Said und den israelisch-argentinischen Dirigenten Daniel Barenboim. Der Name des Orchesters geht auf Goethes Gedichtsammlung West-östlicher Divan zurück, die er über den Austausch und das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen schrieb. Das Projekt ist bis heute erfolgreich, das Orchester hat seinen Sitz in Sevilla und gibt unter Barenboims Leitung Konzerte auf der ganzen Welt.

Was bleibt, wenn die Politik versagt

Dass dieses Orchester so außergewöhnlich ist, hat politische Gründe: Der gewaltsame Konflikt zwischen Israel und Palästina prägt seit Jahrzehnten das Leben der Menschen in der Region zwischen Mittelmeer und Totem Meer. Hier wie dort wurde und wird Identitätspolitik betrieben, die ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinenser*innen erschwert.

Jenseits der politischen Ebene haben sich jedoch in den vergangenen 40 Jahren immer wieder Menschen engagiert, die an eine friedliche Lösung des Konflikts glauben. Es sind häufig Künstler*innen, die sich bei der Erreichung dieses Ziels nicht auf Politiker*innen verlassen, sondern mit ihren eigenen Mitteln kämpfen wollen.

Ein verbreiteter Ansatz sind Kunstprojekte, an denen sowohl Israelis als auch Palästinenser*innen beteiligt sind. Denn ein Grundproblem des Israel-Palästina-Konflikts ist die Entfremdung der beiden Gruppen trotz ihrer geografischen Nähe. Wenn man sich im Alltag kaum begegnet, wird die Gegenseite leicht zu einem abstrakten Feindbild. Menschen hingegen, die sich ins Gesicht sehen, können sich weniger leicht hassen – so die Grundidee. Deshalb sollen kooperative Kunstprojekte Räume schaffen, in denen Begegnung und Austausch möglich sind.[1]

Kunstprojekte auf Augenhöhe?

WEDO-Gründer Barenboim betont die Wichtigkeit solcher Räume: „Wenn es einen Dialog gibt, heißt das ja nicht, dass man einer Meinung ist. Es bedeutet, dass man eine Chance hat, ein Forum, um den eigenen Standpunkt klarzumachen.“ Begegnungen wie die im WEDO sollen den Beteiligten zeigen, dass man auch trotz unterschiedlicher Meinungen im Gespräch bleiben kann – und dass alle gleichermaßen gehört werden. Austausch trotz Verschiedenheit, so lautet seine Devise.

Das klingt einfacher, als es in der Realität ist. Der US-amerikanische Kunsthistoriker William Mitchell gibt zu bedenken, dass eine solche Zusammenarbeit in einer sehr asymmetrischen Konstellation stattfindet: Palästinenser*innen seien tagtäglich der gewaltsamen Dominanz durch Israelis ausgesetzt. Diese große Ungleichheit mache eine Zusammenarbeit schwierig, angespannt und konflikthaft. Dana, eine palästinensische Wissenschaftlerin aus Jerusalem, bestätigt das: „Ein Austausch mit Israelis kann durch die gegebenen Machtverhältnisse gar nicht auf Augenhöhe stattfinden“ sagt sie. Und: „Kein Land hat sich jemals durch Austauschprojekte von seiner Besatzung befreit“. Ein starker Satz, der sehr absolut klingt.

Dabei sind sich Israelis und Palästinenser*innen oft näher als gedacht, ihre Vergangenheit und Zukunft sind untrennbar miteinander verbunden. Barenboims Gründungspartner Said verglich die Beziehung zwischen Israelis und Palästinenser*innen mit der „kontrapunktuellen Struktur in einer tragischen Symphonie“.

Umstrittene Zusammenarbeit

Doch die Frage nach einer Begegnung auf Augenhöhe ist nicht der einzige potentielle Kritikpunkt an israelisch-palästinensischen Kooperationsprojekten. Dana befürchtet, sie könnten zur Normalisierung der Situation beitragen, also über die tiefen gesellschaftlichen Brüche hinwegtäuschen.

Hanine, eine Musikerin aus Jericho, lehnt Austauschprojekte dieser Art grundsätzlich ab. Ihr erscheint es unlogisch, beispielsweise in einem Orchester mit Israelis zu spielen, „die heute meine Kolleg*innen am Notenpult sind und mich morgen am Checkpoint kontrollieren, die ihre Waffen gegen meine Brüder und Schwestern in Gaza und im Westjordanland erhoben haben”. Sie sagt, solche Austauschprojekte würden von Israel genutzt, um sein Image vor der Weltöffentlichkeit reinzuwaschen. Dienen Kooperationsprojekte also nur dem schönen Schein?

Es braucht Bekenntnisse der Solidarität

Dass WEDO-Leiter Barenboim eher das Gegenteil im Sinn hat, zeigte sich 2004, als er sich in der Knesset mit der israelischen Regierung anlegte. In seiner Dankesrede für die Verleihung des Wolf-Preises zitierte er die israelische Verfassung, gefolgt von den Worten: „In tiefer Sorge frage ich heute, ob die Besatzung und Kontrolle eines anderen Volkes mit Israels Unabhängigkeitserklärung in Einklang gebracht werden kann.“ In seinem Text My land, my pain kritisierte er das Verhalten Israels als ungerecht und imperialistisch, bei einem vielbeachteten Konzert des WEDO in Ramallah forderte er die Freiheit Palästinas. Umgekehrt positionierte sich Said immer klar gegen Antisemitismus, verurteilte die Shoa und würdigte die Errungenschaften Israels. Eben diese Bekenntnisse zueinander machen die Stärke des WEDO aus.

Der Versuch einer Kooperation kann ohne einen solchen politischen Grundkonsens nicht funktionieren – das hat Palästinenserin Dana als Kind am eigenen Leib erfahren. In einem Austauschprojekt traf sie auf Israelis, die eine extrem andere politische Position hatten als sie, aber sie durfte nicht mit ihnen darüber reden. „Wir sollten politische Themen umgehen, wenn wir uns getroffen haben. Aber wie soll ich nicht von Politik reden, wenn ich durch einen Checkpoint muss, um zu unserem Treffen zu kommen? Der ganze Kontext ist doch politisiert.“

So nah und doch so fern

Auch die Zusammenarbeit der Musiker*innen im WEDO hatte keine leichten Voraussetzungen, auch hier trafen junge Menschen aufeinander, die mit gegenseitiger Entfremdung und Gewalt aufgewachsen waren. Karim, palästinensischer Pianist aus Jordanien, erzählt: „Israelis waren für mich nicht einmal Menschen. So habe ich das als kleiner Junge gesehen: Mit denen gibt man sich gar nicht erst ab. Alles, was wir in Jordanien von ihnen wahrnahmen, war das Töten – nur Massaker und äußerste Brutalität.“

Die Kluft zwischen israelischen und arabischen Musiker*innen nahm auch Dirigent Barenboim wahr: „Mir fiel auf, wie viel Ignoranz es gegenüber dem ‚Anderen‘ gab. Die israelischen Jugendlichen konnten sich nicht vorstellen, dass es in Damaskus und Amman Menschen gibt, die tatsächlich Geige oder Bratsche spielen können. Und ich denke, die arabischen Musiker*innen wussten, dass es ein musikalisches Leben in Israel gibt, aber sie wussten nicht viel darüber.“

Im Verlauf der Proben des WEDO wich die Unwissenheit dem Dialog. Für Shai, israelischer Pianist des Orchesters, war es wichtig, „Menschen kennen zu lernen, die aus Ländern kommen, zu denen ich keinen Zugang habe. Es erlaubt mir wichtige Einblicke in die Situation vor Ort, die Meinungen einzelner Personen zu hören – nicht nur die der Medien, die uns sagen, was wir denken sollen. Das ist eine wichtige Grundlage für jeden Frieden: Austausch zwischen Menschen, nicht nur zwischen Regierungen.“

Unerwartete Gemeinsamkeiten

Um Vorurteile abzubauen, reicht Austausch allein nicht aus – er muss auch positiv verlaufen, das zeigen psychologische Studien.[2] Noch besser sind gemeinsame Herausforderungen: Wer ein gemeinsames Ziel verfolgt und es nur in Kooperation erreichen kann, kommt sich auch nach anfänglicher Entfremdung näher.

Barenboim beobachtete dieses Phänomen bei den Musiker*innen des WEDO: „Sie versuchten, die gleiche Note zu spielen, mit derselben Dynamik, mit dem selben Ausdruck. So einfach ist das. Sie versuchten, zusammen etwas zu tun, für das sie beide Leidenschaft empfanden. Nun, nachdem sie diese eine Note geschafft hatten, konnten sie sich schon nicht mehr auf die gleiche Weise ansehen wie zuvor, weil sie eine gemeinsame Erfahrung geteilt hatten.“

Israelische und palästinensische Jugendliche, die sich anfänglich so fremd fühlten, bekamen ihre Gemeinsamkeiten mithilfe der Musik vor Augen geführt. Für Karim ein Aha-Erlebnis: „Hier traf ich auf Leute, die dieselben Interessen haben und ein ähnliches Leben führen wie ich. Das veränderte beinahe meine Vorstellung davon, was einen Menschen ausmacht.“

Von Menschen und Musiker*innen

Den politischen Gegner*innen als Menschen begegnen können – allein das ist schon ein großes Verdienst des WEDO. Doch die Mitglieder des Orchesters verbindet neben ihrem Menschsein natürlich noch etwas Anderes: die Liebe zur Musik.

Dabei fällt auf, dass dieses arabisch-israelische Orchester – zumindest auf der Bühne – nur klassische Musik aus Europa spielt. Diese Musik ist auf einem anderen Kontinent entstanden, weit weg von der Lebensrealität in WANA – ebenso wie die Gedichtsammlung Goethes, die dem Orchester seinen Namen gab. Das mag daran liegen, dass seine Gründer zum Teil in Gesellschaften außerhalb von WANA sozialisiert wurden. Doch vielleicht ist es auch gerade diese Ferne, die der klassischen Musik eine gewisse Neutralität verleiht und es damit den israelischen und palästinensischen Musiker*innen gleichermaßen ermöglicht, sie anzunehmen.

Musik – sei es klassische oder andere – interessiert sich nicht für Ländergrenzen, Sprachen oder politische Überzeugungen. Ihre Schönheit ist nicht einer bestimmten Menschengruppe vorenthalten – das macht sie zu einem machtvollen und vereinenden Werkzeug. Said sagte über die Mitglieder des Orchesters: „Ihr Leben hat sich verändert, keine Frage. Was auch passiert, sie werden anders denken als früher. Was die Musik betrifft und auch sonst. In diesem Sinne ist Musik subversiv – und scheint dabei so harmlos!“

Keine Brücke ohne Fundament

Said und Barenboim haben als Mittel zur Annäherung die Musik gewählt. Auch andere Kunstformen wie Theater oder Street Art können eine grenzüberschreitende Wirkung haben – wenn eine Bedingung erfüllt ist: die Beteiligten müssen sich auf Augenhöhe begegnen.

Dafür braucht es einen sensiblen Umgang mit gegebenen Machtverhältnissen, eine Reflexion der verschiedenen Standpunkte und die Einigung darauf, dass marginalisierte Gruppen die Definitionsmacht über ihre Situation haben. Auch ein politischer Grundkonsens und gegenseitige Solidarität sind entscheidend für eine Begegnung auf Augenhöhe. Und die Beteiligten brauchen gemeinsame Ziele, damit sie an einem Strang ziehen können. All diese Voraussetzungen zu erfüllen ist nie einfach. Aber es ist notwendig – sonst stoßen vermeintliche Friedensprojekte auf Widerwillen und Kritik.

Und auch wenn ein Projekt so erfolgreich ist wie das West-Eastern Divan Orchestra, sind sich seine Initiatoren bewusst: Es wird nicht den Frieden in die Region bringen. An diesem Anspruch müsste wohl jedes Kunstprojekt scheitern. Was das Orchester und ähnliche Projekte sehr wohl sein können, sind Vorbilder für gegenseitiges Zuhören und Verständnis, ein Freiraum für gesellschaftliche Utopien. Sie können tatsächlich Brücken bauen – und je mehr Brücken es gibt, desto hinfälliger wird die Grenze.

 

[1] Neben dem WEDO beispielsweise You are not here, Festival of Festivals oder Face2Face

[2] Sherif, M., Harvey, O. J., Hood, W R., Sherif, C. W., & White, J. The Robbers Cave Experiment: Intergroup Conflict and Cooperation. Middletown, CT. 06459: Wesleyan University Press.

 

Hannah Sassim studiert Psychologie, Ethnologie und Journalismus an der Universität Leipzig. Sie arbeitet für ein Forschungsprojekt über das Zusammenleben von Aufnahmegesellschaften und Geflüchteten in der Arbeitsgruppe Transkulturelle Psychiatrie an der Charité Berlin und ist Redakteurin beim Leipziger Lokalradio Mephisto 97.6.
Redigiert von Sophie Ataya