15.05.2025
Lautes Schweigen der deutschen Presse
Podiumsdiskussion zur Veröffentlichung der Nahaufnahme im Publix: Ulrike Winkelmann, Michael Rediske, Sophia Maier, Lorenz Maroldt (v. links). Foto: Hannah Jagemast
Podiumsdiskussion zur Veröffentlichung der Nahaufnahme im Publix: Ulrike Winkelmann, Michael Rediske, Sophia Maier, Lorenz Maroldt (v. links). Foto: Hannah Jagemast

Am 8. April veröffentlichte die Organisation Reporter Ohne Grenzen ihren jährlichen Report über die Lage der Pressefreiheit in Deutschland. Ein zentrales Thema der jährlichen Nahaufnahme ist auch die Berichterstattung über den Krieg in Gaza.

„Warum ist es für Reporter*innen so schwer, über die Menschenrechtsverletzungen in Gaza zu berichten?“, fragt die Nichtregierungsorganisation Reporter Ohne Grenzen (franz. Reporters sans frontières, RSF) auf Instagram.

Antworten finden sich in der aktuellen Nahaufnahme, dem jährlichen Report zur Lage der Pressefreiheit in Deutschland. Kapitel drei von fünf widmet sich der Berichterstattung über Nahost. Nachdem sich viele Medienschaffende an RSF gewandt und von einem verengten Meinungskorridor in Redaktionen berichtet hatten, führte die Organisation mehr als 60 qualitative Leitfadeninterviews.

Journalist:innen berichten darin von einem Klima der Angst und Unsicherheit in Redaktionen, wenn es zur Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee kommt. Sie beklagen rassistische Äußerungen am Arbeitsplatz, strenge Sprachregelungen, und eine zunehmende Selbstzensur - auch weil Artikel, welche die israelische Kriegsführung kritisieren, überdurchschnittlich häufig abgelehnt worden sind.

Im Einzelfall sei es normal, dass es zu Reibereien komme oder Artikel zurückgewiesen würden, betont Katharina Weiß, Sprecherin für RSF. „Aber in dieser Anhäufung und in wirklich langen Abnahmeschleifen ist das sehr ungewöhnlich.“ Das bedeute einen immensen Arbeitsaufwand gerade für freie Journalist:innen und führe, laut Weiß, häufig dazu, dass solche Themen nicht weiter verfolgt werden.

Einseitige Berichterstattung

Viele der Erkenntnisse sind jedoch nicht neu. Zahlreiche Medienschaffende kritisieren bereits seit November 2023 immer wieder die deutsche Berichterstattung zum Krieg in Gaza. Konkrete Zahlen untermauern diese Beobachtungen jetzt: Journalist und Islamwissenschaftler Fabian Goldmann hat über 450 Sendungen der Tagesschau seit dem 7. Oktober 2023 ausgewertet. Er stellt fest, dass die größte deutsche Nachrichtensendung regelmäßig die Wortwahl israelischer Propaganda übernimmt und einem klaren Framing folgt: Israels militärische Gewalt werde regelmäßig als Reaktion oder Gegenangriff dargestellt, während die Taten der Hamas als Massaker bezeichnet werden würden. Goldmann hat auch die Sprechanteile politischer Repräsentant:innen ausgewertet: In einem Zeitraum von 16 Monaten stünden 136 israelische Stimmen lediglich vier palästinensischen gegenüber.

Medienkritiker:innen wie Fabian Goldmann werden mit ihrer Kritik zur deutschen Berichterstattung immer wieder selbst zur Zielscheibe, sehen sich häufig dem Vorwurf der Einseitigkeit ausgeliefert. Die Nahaufnahme des RSF, einer international hoch anerkannten Organisation, hebt das Thema auf eine neue Ebene, auch branchenintern. Tatsächlich beobachtet Katharina Weiß einen starken Anstieg an Interesse von Medienschaffenden. Nach der Veröffentlichung der Nahaufnahme hätten sie nicht nur viele Interviewanfragen erreicht, sondern auch zahlreiche Rückmeldungen aus Redaktionen, dass gerade erste interne Aufarbeitungsprozesse angestoßen würden.

Physische Angriffe auf Medienschaffende

Ein zentrales Thema in der Nahaufnahme sind auch in diesem Jahr die physischen Angriffe auf Medienschaffende. Neben rechten Demonstrationen ist es 2024 auch bei Palästina-solidarischen Protesten vermehrt zu Handgreiflichkeiten gegenüber Medienschaffenden gekommen. RSF zählte 38 physische Angriffe auf den Demos, sie seien innerhalb von Deutschland der gefährlichste Ort für Journalist:innen gewesen. Fast die Hälfte dieser Übergriffe entfielen dabei auf den BILD-Reporter Iman Sefati und seinen Kollegen Yalcin Askin, der für das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus arbeitet.

Laut der Expertin von RSF ist es üblich, dass sich Angriffe auf einzelne Reporter:innen zentrieren. „In diesem Jahr war es unter anderem ein Reporter, dessen Berichterstattung als besonders umstritten wahrgenommen wird und das führt bei diesem Thema natürlich zu besonderem Backlash“, merkt Katharina Weiß an. „Wir nennen aber deutlich, wer betroffen ist und wo die betreffenden Personen arbeiten. Wir stellen diese Informationen zur Verfügung, in der Hoffnung, dass Leute sich ihr eigenes Bild machen können.“ Sefati und Askin werden von Palästina-solidarischen Kreisen immer wieder kritisiert. Ihre Artikel würden die Proteste in ein falsches Licht rücken, lautet häufig der Vorwurf. Beide sind Autoren von Artikeln, die gesamte Demonstrationszüge des Antisemitismus bezichtigen und Titel tragen wie „Wer steckt hinter den Krawall-Demos der Juden-Hasser?“.

Wer übernimmt Verantwortung?

Insgesamt beobachtet die Pressereferentin, dass es zu geringer Berichterstattung kommt, wenn Reporter Ohne Grenzen Themen anspricht, die Medienhäuser in die Verantwortung nehmen. Sie spielt dabei auch auf die Pressemitteilung an, die bereits im Dezember 2024 erste Ergebnisse aus den Interviews zur Nahost-Berichterstattung veröffentlichte und darauf verwies, dass sich Journalist:innen „aus Angst vor Jobverlust oder gesellschaftlicher Schmähung in vielen Situationen selbst zensieren.“

Damit sich an der deutschen Berichterstattung über den Krieg in Gaza etwas ändert, braucht es den entsprechenden Willen. Dass Redaktionen Kritik annehmen und Selbstkritik üben lernen, wünscht sich Lorenz Maroldt, Herausgeber des Tagesspiegels, auf der öffentlichen Vorstellung der Nahaufnahme am 10. April in Berlin. Er ist einer der drei Panelist:innen, die im Publix die aktuelle Entwicklung der Pressefreiheit diskutieren. Geht es jedoch um die Nahost-Berichterstattung seiner eigenen Zeitung, kann er seinem gewünschten Anspruch nicht gerecht werden: Jegliche Kritik daran, dass auch seine Zeitung oft zu einseitig die Perspektive der israelischen Politik eingenommen hätte, weist er als gefühlte oder persönliche Beobachtungen zurück.

Auch die Chefredakteurin der taz, Ulrike Winkelmann, Moderatorin des Abends, ist eher im Rechtfertigungsmodus. „Können Journalisten Terroristen sein?“, titelte die linke Tageszeitung im Januar 2025. Der Artikel räumt den unbestätigten Vorwürfen der israelischen Regierung viel Platz ein, welche palästinensische Journalist:innen terroristischer Machenschaften bezichtigen. Daran kommt Kritik aus dem Publikum: Dieses Framing würde die Kolleg:innen in Gaza eher zum Abschuss freigeben, anstatt sich mit ihnen in einem Krieg zu solidarisieren, der sich in kürzester Zeit zum tödlichsten Konflikt für Journalist:innen in über dreißig Jahren entwickelt hat. Über 200 Medienschaffende sind in dem Krieg bereits ermordet worden. RSF habe belastbare Informationen, dass die IDF dabei gezielt Journalist:innen ins Visier nimmt.

Man könne diese Schlagzeile auch anders verstehen, argumentiert Winkelmann, schließlich verdeutliche die Frage ebenso, wie komplex die Lage ist. Sie verweist außerdem darauf, dass die taz auch viele Artikel mit anderem Fokus veröffentlichte und sich bemühe, alle Seiten abzubilden.

Kritik auf dem Panel

Michael Rediske, Vorstandsmitglied von RSF, verweist hingegen beharrlich auf die Erkenntnisse, die seine Organisation in ihrer aufwendigen Untersuchung ausfindig machen konnte. Diese stimmen mit den Erfahrungen der Journalistin Sophia Maier, ebenfalls auf dem Panel vertreten, überein: Die Ängste und Anfeindungen, die sie bereits von der Berichterstattung über Demonstrationen aus dem rechten Spektrum kennt, hätten bei ihrer Arbeit zum Nahostkonflikt eine neue Dimension erreicht, „alles Bekannte gesprengt“. Neben unzähligen Hassnachrichten – regelmäßig mit sexistischen Beleidigungen gespickt – spricht sie von der ständigen Angst gecancelt zu werden und ihren Job zu verlieren.

Institutioneller Druck

Der Druck auf Medienschaffende kommt dabei nicht nur aus den Redaktionen. Katharina Weiß erklärt, dass die israelische Botschaft und die Deutsch-Israelische Gesellschaft Redaktionen und Medienschaffende in E-Mails, Briefen und Anrufen teils seit Jahren unter Druck setzen. Außerdem werde den Medien vorgeworfen, Hetze zu betreiben und israelbezogenen Antisemitismus zu produzieren. So hatte sich der israelische Botschafter Rob Prosor in einem Brief an den Chefredakteur des Spiegels Ende Januar über ein Interview mit dem israelischen Genozid-Forscher Omer Bartov echauffiert, das einer „offensichtlich hasserfüllten redaktionellen Entscheidung“ gefolgt sei. Der Spiegel hätte sich längst darauf spezialisiert, eine unvollständige Momentaufnahme zur Basis haltloser Märchengeschichten über Israel zu machen. Dabei existiere die Hamas für die Zeitung nicht, schreibt Prosor.

„Wenn so eine große Institution die Vorwürfe gegenüber etablierten Reporter:innen anbringt, ist das natürlich beängstigend. Viele haben Angst, als Antisemiten oder Hetzer gebrandmarkt zu werden in dieser ohnehin sehr aufgeheizten Diskussion“, so Katharina Weiß.

 

 

 

 

Hannah Jagemast hat Arabistik und Islamwissenschaft in Leipzig und Tunis studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin mit Fokus auf Tunesien, Nordafrika, soziale Bewegungen und koloniale Kontinuitäten. Seit 2022 studiert sie den M. Sc. Journalismus in Leipzig.
Redigiert von Lotta Stocke, Alicia Kleer
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