Heute beginnen die internationalen Syrien-Gesprächen in Montreux bei Genf. Kurz zuvor hat der Konflikt weiter an Schärfe gewonnen. Das Militär des Assad-Regimes verbreitet mit Fassbomben und Luftangriffen Terror unter der Zivilbevölkerung und riegelt ganze Ortschaften ab, um die aufständische Bevölkerung buchstäblich auszuhungern. Jetzt sollen nach über einem Jahr Vorlauf politische Gespräche die Zukunft Syriens voranbringen. Aber was wünschen und erwarten sich eigentlich die Menschen im Land, die so sehr unter der Situation leiden?
Amro Khito, Journalist aus Zabadani: „Genf ist strategischer Zeitgewinn“
„Obwohl ich die großen internationalen Anstrengungen verfolge, alle beteiligten Parteien nach Genf zu bewegen, erwarte ich mir nichts von Genf II“, sagt der Journalist Amro Khito, der sich momentan im Libanon aufhält. Denn was bedeutet es, an Genf II teilzunehmen, fragt er sich, und findet seine Antwort: „Es wurden weder Inhaftierte vom Regime freigelassen, noch der Beschuss von Seiten des Regimes eingestellt oder Hilfskorridore in die belagerten Gebiete geöffnet. Noch drei Tage vor der Konferenz hat das Regime in Zabadani und anderen Gebieten Syriens wie Daraya und Khan Al Sheikh erneut Zivilisten mit Fassbomben bombardiert. Wenn ich also darüber nachdenke, unter den aktuellen Umständen an Genf II teilzunehmen, dann bedeutet das nur, dass um Zeit gespielt wird – und das ähnelt nur zu sehr dem, was zum Beispiel mit den internationalen Kommissionen passiert ist, die nach Syrien geschickt wurden. Russland und Amerika könnten den Konflikt innerhalb von zehn Tagen beenden. Syrien durchlebt eine extreme humanitäre Krise, doch die Entscheidungen, die gefällt werden, sind politische Entscheidungen und keine humanitären. Ich denke, dass Genf II den belagerten SyrerInnen in den Krisengebieten keine neuen Lösungen bringen wird.“
Ahmad, 26, Redakteur aus Damaskus: „Opposition und Regime haben die syrischen BürgerInnen aus den Verhandlungen ausgeklammert“
„Wir wünschen uns von Genf II, dass eine Lösung für den andauernden Konflikt und das Blutvergießen in Syrien gefunden wird. Ich gehe davon aus, dass die syrische Regierung grünes Licht bekommen wird, Terroristen wie die Nusra-Front, ISIS und andere islamistische Gruppierungen, die in Syrien kämpfen, zu eliminieren. Es wird wahrscheinlich eine Übergangsregierung geben, die die verschiedenen politischen Spektren des syrischen Volkes repräsentiert (Regierung ebenso wie Opposition). Ich glaube nicht, dass Präsident Asad dazu gezwungen wird, von seinem Präsidentenamt vor den kommenden Präsidentschaftswahlen zurückzutreten.
Ich lebe inzwischen in Damaskus, komme aber eigentlich aus dem Camp Yarmouk. Dementsprechend interessiert mich, welche Auswirkungen die Konferenz auf das Viertel haben könnte. Ich denke, Camp Yarmouk hat eine besondere Rolle im Angesicht der syrischen Krise, insbesondere nach der Belagerung, die dem Viertel seit sieben Monaten aufgezwungen wird; so viele Initiativen, um die ,Yarmouk-Krise‘ zu lösen, sind gescheitert. Dementsprechend sollte es eigentlich eine palästinensische Delegation geben, die an der Konferenz teilnimmt und das Thema Yarmouk auf den Verhandlungstisch bringt. Es wäre dann zu erwarten, dass eine vollständige Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge in Syrien gefunden wird: Entweder werden sie vertrieben oder sie werden alle eingebürgert.
Eins ist aber wichtig festzuhalten: Sowohl die Opposition als auch die Regierung haben die syrischen BürgerInnen vollständig ausgeklammert; die sind für sie alle eher die letzte Sorge. Beide Seiten interessiert Macht und Posten, der syrische Bürger möchte aber zurzeit einfach nur in Sicherheit leben, dass das tägliche Blutströmen ein Ende hat und dass die Waffen von den Straßen verschwinden. Dementsprechend will er in Frieden und Würde in seinem eigenen Haus leben − und nicht als Flüchtling innerhalb oder außerhalb seines Landes.“
Mazen, 33, Sozialwissenschaftler aus Suwaida: „Das Regime hat Probleme kreiert, die es nun durch die Konferenz lösen will“
„Meine Wünsche für die Konferenz sind klar: Auflösung des herrschenden Sicherheits- und Militärapparats, Absetzung Bashar al-Assads von der Macht, Stopp des Krieges, Abzug aller KämpferInnen von syrischem Boden, allen voran der Hizbollah, Rückkehr der Binnenflüchtlinge, Freilassung aller Inhaftierten, Umsetzung eines Programms für Übergangsgerechtigkeit und eines Wiederaufbauprogramms auf nationaler und menschlicher Basis. Das wichtigste wäre aber, den Anstoß für einen Prozess zu geben, um zu einem neuen Gesellschaftsvertrag zu gelangen, der auf den Werten von Staatsbürgerschaft, Gerechtigkeit und Gleichheit basiert.
Meine Erwartungen an die Konferenz sehen da anders aus: sie wird wohl scheitern, weil die Lügen und Verarschungen von Seiten des Regimes und seiner internationalen Partnern anhalten werden. Eventuell kommt es zur Verwirklichung einiger einfacher Erfolge, die mit den eindringlichen humanitären Nöten zusammenhängen: etwa dass die Belagerung einiger Gegenden aufgehoben wird. Dabei tauchen die Verhandlungen in die Labyrinthe ein, die das Regime gebaut hat. So schafft es Probleme und strengt dann Verhandlungen über sie an, die dann weitab der Essenz des eigentlichen Problems liegen.
Bezogen auf meine Heimatgegend Suwaida, so glaube ich, dass die Freilassung einiger Gefangener die einzige direkte Auswirkung auf die Lage vor Ort sein könnte. Ich glaube aber nicht, dass Suwaida auf der Konferenz eine wichtige oder überhaupt irgendeine Rolle spielen wird.
Trotz allem, was dem voran gegangen ist, bin ich optimistisch, denn jegliche Änderung in der diktatorischen Machtstruktur wird zu ihrer Auflösung beitragen.“
Abu Hassan, 25, aus Quddsaya: „Zwei Worte für Genf II: Lüge und Heuchelei“
„Genf II schenke ich keine große Aufmerksamkeit, denn die westlichen Regierungen unterstützen doch ohnehin Bashar al-Assad. Sie haben kein Interesse daran, dass er zurücktritt und das Land verlässt. Wenn sie das gewollt hätten, dann hätten sie in Syrien zumindest auch das getan, was sie in Libyen getan haben. Sie hätten uns geholfen – entweder mit Waffen oder mit humanitären Hilfskorridoren oder mit einer Flugverbotszone. Wir selbst wollen übrigens nicht, dass jemand Waffen vom Westen bekommt, weder die – ihrer eigenen Aussage nach – gemäßigte Opposition, noch andere Gruppen. Aber so wäre es doch gelaufen, hätte der Westen die Opposition unterstützen wollen. Deswegen kann ich Genf II in zwei Worten zusammenfassen: Lüge und Heuchelei.“
Abu Ahmad, 25, Lehrer aus Erbin: „Es gibt keine Alternative mehr zu Genf II“
„Ich habe überhaupt nichts gegen Genf II, denn ehrlich gesagt gibt es keinen anderen Weg mehr. Vor ein paar Tagen hieß es noch, die Mehrheit der Koalition und der Islamischen Front wäre dagegen, nach Genf zu gehen! Und heute wollen sie auf einmal gehen, nur weil die Türkei damit gedroht hat, die Grenzen dicht zu machen. Wenn durch Genf II das Blutvergießen gestoppt werden kann, dann müssen wir teilnehmen und dürfen es nicht ablehnen. Gleichzeitig ist aber klar, dass die Vertreter der Koalition sich nicht für die Menschen hier interessieren und dafür, ob sie an Hunger sterben oder nicht. Die Zusage zu Genf war doch nur eine Reaktion auf den internationalen Druck, nicht Angst um die Menschen hier.“
Amir, 32, Aktivist aus Moadhamiyya: „Eine Lösung für Syrien kann nicht durch lokale Verhandlungen, sondern nur durch Verhandlungen für Gesamtsyrien geschehen“
„Inzwischen haben wir in der Stadt eine Abmachung mit dem Regime. Während der Belagerung jedoch dachten wir uns, dass es wichtigeres gibt, als solche Konferenzen, etwa Essen für Kinder. Aber inzwischen ist auch die Ausgangsbasis klar: es gibt keine internationale Unterstützung für uns SyrerInnen. Wir haben die beiden Modelle Libyen, wo die Nato sehr aktiv war, und Mali, wo französische Kampfflieger eingriffen, bevor es dafür überhaupt eine offizielle Genehmigung gab; beide zeigen uns, wie weit Syrien von internationaler Unterstützung entfernt ist. Eine Lösung für Syrien kann nicht auf individueller Ebene stattfinden oder über lokale Verhandlungen, es kann nur eine Lösung für Gesamtsyrien geben. Wie können wir glücklich sein, eine Abmachung mit dem Regime zu haben, wenn unser Nachbarviertel Daraya mit Fassbomben beworfen wird?
Außerdem muss die Opposition sich mit den revolutionären Kräften sowie den bewaffneten Kräften der verschiedenen Gruppen der Freien Syrischen Armee im Inland vereinigen, sodass sie das syrische Volk vertreten. Jegliche Spaltung zwischen ihnen kann nicht zum Erfolg führen.
Uns ist klar, dass die Menschen in den verschiedenen Gebieten in Syrien in unterschiedlichen Realitäten leben und somit unterschiedliche Forderungen und Vorstellungen bezüglich der Konferenz haben: Die Realität im belagerten Homs oder Süddamaskus ist eine ganz andere als die im Umland von Aleppo.
Eine Lösung für Syrien heißt nicht, dass einzig al-Assad weg muss. Das gesamte System, was auf Sicherheitsapparaten und dem Ausnahmezustandsgesetz beruht, muss verschwinden.
Trotz allem ist uns auch klar, dass es in Syrien nicht nur um eine syrische Krise geht. Auch wenn eine syrische Lösung nur gefunden werden kann, wenn die Kräfte im Inland und das Regime zu einer Lösung kommen, so ist doch klar, dass Iran, Russland, Katar, Saudi-Arabien, die USA usw. eine große Rolle hier spielen und es auch einer internationalen Entscheidung bedarf, um die Krise zu beenden.“
Dieser Beitrag ist in veränderter Form bereits bei „Adopt a Revolution“ erschienen, einer deutschen Initiative, die zivile AktivistInnen in Syrien unterstützt. Verfolgen Sie im Liveblog, was während der Konferenz in Syrien geschieht.