29.12.2023
Mehr als ein Instrument: die Bağlama als Archiv des Alevitentums
Die Familie der Saz-Instrumente (von oben): Cura, Çöğür, Bağlama und die Divan Saz. Foto: Sven Kraus, WikiCommons.
Die Familie der Saz-Instrumente (von oben): Cura, Çöğür, Bağlama und die Divan Saz. Foto: Sven Kraus, WikiCommons.

Die Bağlama ist für die Alevit:innen auch der „Koran mit Saiten“. Musik und Dichtkunst stehen im Zentrum des Alevitentums. Über die Geschichte einer Gemeinschaft, die alternative Wege fand, ihren Glauben weiterzugeben.

Am 29. Oktober 2023 feierte die Türkei ihr hundertjähriges Bestehen. Bei den Feierlichkeiten wurden Minderheiten wie den Alevit:innen, immerhin die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft der Türkei, kaum Raum gegeben. Nicht verwunderlich, denn seit Gründung der Republik wurden Minderheiten marginalisiert. Das politische Ziel des Staatsapparates entspricht der nationalstaatlichen Agenda der Homogenisierung und „Türkisierung“ der Gesellschaft.

Den Alevit:innen machte es die Türkische Republik durch eine allgemeine Assimilationspolitik sowie Verbote der Sprache unmöglich, sich auf schriftliche Überlieferungen ihres Glaubens zu stützen. Trotz der Verbote und des Assimilationsdrucks konnten sich Alevit:innen durch die Bağlama, ein anatolisches Volksinstrument aus der Gruppe des Saz, dieser machtpolitischen Logik widersetzen und ihren Glauben und ihre Kultur in die heutige Zeit am Leben erhalten.

Unterdrückung führt in die Verborgenheit

Bereits vor der Gründung der türkischen Republik, im Osmanischen Reich, mussten Alevit:innen ihren Glauben im Verborgenen leben und ihre Identität aus Furcht vor Stigmatisierung und Verfolgung verbergen. Dieses Verbergen ist so zentral für die alevitische Gemeinschaft, dass es dafür einen eigenen Begriff gibt: Takiye. In der sunnitisch-muslimisch dominierten Türkei wird das Alevitentum bis heute nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt, sondern wird als heterodoxe Form des Islam bezeichnet.

Alevit:innen sind kontinuierlicher Unterdrückung und politischer Vernachlässigung ausgesetzt, welche seit Republikgründung mehrfach zu Pogromen führte. Bei den Massakern und Pogromen in Dersim (1937/38), Maraş (1978)[1], Çorum (1980), Sivas (1993) und im Istanbuler Stadtviertel Gazi (1995) wurde gezielt gegen Menschen alevitischen Glaubens gehetzt. Immer wieder wurden Menschen von türkischen Rechtsextremen, Nationalist:innen und Islamist:innen getötet. Die Pogrome und die Verfolgung durch den türkischen Staat sind tief in das Gedächtnis und die Identität der Alevit:innen eingeschrieben. Von weiten Teilen der türkischen Mehrheitsgesellschaft werden die Pogrome bis zum heutigen Tag verschwiegen und verharmlost. Es hat keine Aufarbeitung und Aufklärung stattgefunden, weder gesellschaftlich noch strafrechtlich.

Die Musik trägt den Glauben über Generationen weiter

In diesem politischen Umfeld konnten Alevit:innen ihre schriftlichen Quellen nicht ausreichend verbreiten, sodass die Weitergabe über Generationen hinweg durch die Bağlama und die zur Begleitung der Bağlama gesungenen Gedichte und Erzählungen erfolgte. Die Dichtkunst blickt auf eine lange Tradition der Âşıklar im Osmanischen Reich und seit 1923 in der Türkei zurück. Aşık bedeutet „der Liebende“ und bezieht sich auf die Beziehung des Musikers zu Gott (Hak). Die Âşıklar bewahren und vermitteln alevitische Traditionen und waren historisch religiöse und politische Gelehrte.

Die Rolle der Âşıklar entstand mit dem Glauben selbst, sie schrieben und sangen Volkslieder, begleiteten sich selbst auf der Bağlama und trugen traditionelles Liedgut vor. In ihrem Repertoire fanden sich außerdem Lieder zur religiösen Verehrung Alis, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammeds, und melancholisch-lyrische Gedichte. Die wichtigsten Vertreter waren Yunus Emre (1238-1320), Karacaoğlan (1606-1689) und Pir Sultan Abdal (1480-1550).[2] Sie thematisieren in ihren Texten das Alevitentum, singen über Hazreti Ali, die zwölf Imame und Hacı Bektaş Veli und drücken ihre Liebe für diese aus. Yunus Emre lässt in seinen Gedichten die Bağlama selbst zur Sprache kommen und trauern, da ihre Verwendung damals von Theologen des orthodoxen Islams verboten wurde.

Die Kunst der Âşıklar ist auch politisch

Diese Kunst war auch politisch, die Âşıklar sangen über die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft und das Leid, das sie durch die Staatsmacht erlitten. Pir Sultan Abdal gilt als einer der „Sieben großen Dichter“ („Yedi Ulu Ozan“) im Alevitentum, jene Großmeister, die die alevitische Lehre besonders intensiv geprägt haben. Pir Sultan Abdal war Freiheitskämpfer, der sich gegen das osmanische Herrschaftssystem auflehnte. Er wird oft mit einer Bağlama in der Hand abgebildet, beide Arme nach oben gestreckt. Diese Darstellung steht für Freiheit und Gerechtigkeit sowie Kampf und Widerstand gegen die Unterdrückung.

Pir Sultan Abdal behandelt in seinen sufistisch inspirierten Gedichten das Leid und die gewaltvolle Unterdrückung der Alevit:innen, die seiner Meinung nach nur durch eine Revolution überwunden werden können. Er verbreitete seine Lyrik, indem er von Dorf zu Dorf wanderte. Letztlich entfachte seine Poesie alevitische Aufstände gegen das Osmanische Reich.[3] Diese wurden letztlich jedoch niedergeschlagen und Pir Sultan Abdal zum Tod verurteilt.

Der heilige Status der Bağlama im Alevitentum

Lieder und Verse über Pir Sultan Abdal werden bis heute in Cem-Zeremonien, dem alevitischen Gottesdienst, rezitiert, gesungen und so auch archiviert. Spirituelle Praktiken während der Cem-Zeremonie, zum Beispiel der Semah-Tanz, werden mit der Bağlama begleitet – Tanz, Poesie und Instrumentalmusik gehören im Alevitentum zusammen. Nahezu jeder alevitische Geistliche (Dede) spielt Bağlama, da es ohne diese nicht möglich ist, den Cem zu leiten. Daher wird die Bağlama auch „Koran mit Saiten" („telli kuran“) genannt. Dies bedeutet keineswegs, dass die Bağlama den Koran ersetzt, vielmehr spiegelt dies die enorme Bedeutung der Musik und Dichtkunst wider, welche die alevitische Lehre lebendig hält.

Für viele Alevit:innen gilt die auf der Bağlama gespielte Musik als göttliche Offenbarung. Durch die Musik wird eine Art Trance geschaffen, die verborgene Emotionen hervorruft, wodurch das Individuum einen spirituellen Einblick in die Erkenntnis bekommt. Alevit:innen bringen sowohl Freude als auch ihr Leid durch das Spielen der Bağlama zum Ausdruck. Das Instrument stellt eine Verbindung zwischen Körpern, Rhythmen und Sprache her, die in der alevitischen Tradition eine tiefe mystische Symbolik besitzt.

Identitätsstiftende Klänge

Der melancholische und schwermütige Klang der Bağlama ermöglicht es der Gemeinschaft, Erinnerungen an gemeinsames Leid und intergenerationale Traumata kollektiv zu bewältigen und daraus wiederum Kraft zu schöpfen.[4] Die Lieder vermitteln durch ihre Texte die zentralen Elemente der alevitischen Geschichte und Identität, sie thematisieren Tragödien, Protestmusik gegen Ungerechtigkeit und religiöse Inhalte. Es entsteht eine emotionale Verbundenheit, die Musik vermittelt ein Zugehörigkeitsgefühl.

Auch für die Diaspora in Deutschland hat diese Tradition eine große Bedeutung. Die alevitische Gemeinschaft entstand in den 1960er- und 1970er-Jahren vor allem durch Arbeitsmigration im Rahmen des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens. Die alevitischen Gemeinschaften bemühen sich wegen der zentralen Bedeutung der Musik immer um ein Kulturangebot: Solange die  Fähigkeit, Bağlama zu spielen, weitervererbt wird, kann sich das musikalische und kulturelle Erbe der Vorfahren und die Sprache des Alevitentums über Grenzen hinweg archivieren.

 

[1] Hier werden die Stadtnamen Dersim anstelle von Tunceli und Maraş anstelle von Kahramanmaraş verwendet. Es sind die alevitisch-kurdischen Namen für diese Städte, sie wurden durch den türkischen Staat umbenannt. Die Verwendung der ursprünglichen Namen ist ein politisches Anliegen für viele Alevit:innen und Kurd:innen in der Türkei.

[3] Sökefeld, Martin (Hrsg.) (2008). Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora. Bielefeld: transcript.

[4] Hendrich, Béatrice (2004). „Im Monat Muharrem weint meine Laute!“ - Die alevitische Langhalslaute als Medium der Erinnerung. 159–178 in: Astrid Erll & Ansgar Nünning (Hrsg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin: De Gruyter.

 

 

 

Berîvan hat Soziologie und Politikwissenschaft in Leipzig und Trento (Italien) studiert. Aktuell studiert sie Sozialwissenschaften in Berlin. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Migrationsforschung, interkulturellen Konflikten und den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Diaspora.
Redigiert von Clara Taxis, Bodo Weissenborn